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Nr. 2650

 

Die Phanes-Schaltung

 

Perry Rhodan in der Werft – er erlebt das Ende der BASIS

 

Uwe Anton

 

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Wir schreiben das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Auf eine bislang ungeklärte Art und Weise verschwand das Solsystem mit seinen Planeten sowie allen Bewohnern aus dem bekannten Universum.

Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen. Die Lage spitzt sich zu, als die Planeten von fremden Raumfahrern besetzt und die Sonne Sol »verhüllt« wird. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.

Von all diesen Entwicklungen weiß Perry Rhodan nichts. Auch ihn hat es in einen fremden Kosmos verschlagen: Mit dem gewaltigen Raumschiff BASIS gelangt er in die Doppelgalaxis Chanda. Dort wird ein bislang unbekanntes Programm in Gang gesetzt, das die BASIS Stück für Stück zerlegt und in ein monströses neues Gebilde verwandelt.

Hinter diesen Entwicklungen steckt die Superintelligenz QIN SHI, die auch die Entführung des Solsystems zu verantworten hat. Mit der Verwandlung der BASIS hat QIN SHI aber nichts zu tun – sie ist die direkte Folge eines uralten Planes: Es ist DIE PHANES-SCHALTUNG ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Unsterbliche muss die BASIS erreichen.

Kaowen – Der Protektor fürchtet QIN SHI.

Ennerhahl – Der Geheimnisvolle kennt seinen Auftraggeber nur als »Schattenlicht«.

Gucky – Der Mausbiber betritt APERAS KOKKAIA.

1.

MIKRU-JON

18. November 1469 NGZ, 2.36 Uhr

 

Der Schlag traf das Schiff so hart, dass Perry Rhodan fast aus seinem Sessel geschleudert wurde. Gerade rechtzeitig drückten Prallfelder ihn zurück. Gurte schnellten hervor, legten sich über seine Brust und fixierten ihn an dem beigefarbenen Pneumositz.

Einen Moment lang hatte Rhodan den Eindruck, dass sich ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Körper legte. Zweifellos eine Täuschung. Sollten die Andruckabsorber tatsächlich ausfallen, wäre es um ihn geschehen. Aber sie hatten buchstäblich im letzten Augenblick reagiert. Das zeigte, wie ernst die Lage war.

Er hörte ein schrilles Kreischen. Gucky, dessen Nerven sowieso bis zum Äußersten gespannt waren, schimpfte laut. Da sein Körper mit Gurten gesichert und sämtliche Sessel in der Zentrale optimal auf die organischen Bedürfnisse ihrer Inhaber ausgerichtet waren, konnte der Mausbiber kaum besonders starke Schmerzen spüren. Wahrscheinlich hatte die Überraschung seinen Aufschrei verursacht.

Außerhalb von Rhodans Blickfeld fluchte Nemo Partijan.

Die Ortungsholos, die ihn halbkreisförmig umgaben, brachen zusammen, und schlagartig erlosch in der Zentrale von MIKRU-JON die Beleuchtung.

»Rhodan!«, hörte er eine unnatürlich metallene und scheppernde Stimme, die ihm trotzdem vertraut war. Quistus! Der iothonische Navigator, der in seiner annähernd eiförmigen Umweltkapsel an Bord weilte. »Rhodan! Du musst ...« Die Stimme verstummte.

»Was muss ich?«, fragte der unsterbliche Terraner, dann fiel die Schwerkraft aus. Die Gurte hielten Rhodan in seinem Sessel. Er fragte sich, ob Quistus' Stimme so blechern klang, weil die Kapsel des Iothonen ebenfalls den Einflüssen unterlag, die MIKRU-JON zu schaffen machten.

Er glaubte, ein dumpfes Dröhnen zu hören, als würde die Schiffszelle von MIKRU-JON einem gewaltigen Druck ausgesetzt, der sie zu zerquetschen drohte.

Unsinn!, redete er sich ein. Ihm waren solche Geräusche bekannt, hatte sie schon oft gehört. Er kannte sie von Schiffen, die in Raumnot gerieten und wie Lebewesen ihre Not hinausschrien.

Als flehten sie um Hilfe ...

Aber Rhodan konnte MIKRU-JON in diesem Augenblick nicht helfen. Das konnte nur ...

»Mikru!«, krächzte er.

Der Schiffsavatar reagierte nicht. Das erfüllte Rhodan mit ebenso großer Sorge wie das Knarren, die Dunkelheit und die Schwerelosigkeit. Wenn Mikru auf seine Bitte nicht erschien, mussten die Schiffssysteme grundlegend gestört sein.

Schwaches Licht breitete sich aus, tauchte die Zentrale in ein unwirkliches Halbdunkel. Die Notsysteme hatten sich aktiviert.

Der Raum war klein, durchmaß gerade mal zehn Meter und war halb so hoch. Das bronzefarbene Material der Wände schien sich plötzlich wie in einer sehr langsamen organischen Bewegung zu kontrahieren und dann wieder zu strecken. Rhodan kniff die Augen zusammen, nicht nur, weil die plötzliche Helligkeit, so schwach sie war, ihn blendete, sondern auch, weil er in dem Pulsieren ein bestimmtes Muster zu erkennen glaubte. Die Bronze zerrann zu einem vielfarbigen, fast schon sphärisch dünnen Gewirr aus Tausenden winziger Fäden.

Zu einem Knäuel aus hauchdünnen Linien, die sich im Rhythmus von Rhodans Herzschlag zu entwirren und dann wieder zu einem kleinen Ball zusammenzuziehen schienen.

»Der Kalte Raum!«, flüsterte er. Ohne Quistus hätten sie dieses extrauniverselle Versteck niemals gefunden. In der Wahrnehmung des Navigators hatte sich die Anomalie als ein aus hauchdünnen Linien bestehendes Knäuel mit einem Durchmesser von knapp 85 Millionen Kilometern gezeigt. Und im Bereich dieses Linienknäuels war es zu unerklärlichen Störungen des Raum-Zeit-Gefüges gekommen. Sie hatten einen »Raum neben dem Raum« entdeckt, vergleichbar einer Raum-Zeit-Nische, der auf normalem Weg nicht zu erreichen war.

Es war nicht das erste Mal, dass er auf solche Phänomene stieß, er kannte seit Langem andere: Hyperraumtaschen, Raum-Zeit-Falten, Hyperperforationen, den Deltaraum der Baolin-Nda ...

Der Unterschied war, dass sie kein Tor, welcher Art auch immer, zum Durchflug genutzt hatten, sondern mit MIKRU-JON brutal in den Raum vorgestoßen und anschließend brachial wieder ausgebrochen waren, sozusagen mit dem Schiff durch die Wand. Vielleicht rührte die außergewöhnliche Beanspruchung genau daher. Jedenfalls schien das Raum-Zeit-Gefüge durcheinandergeraten zu sein, diesmal aber mit tiefgreifenden Auswirkungen.

Wie als Bestätigung seiner Worte lief ein Zittern durch das Schiff. Der Boden vibrierte unter Rhodans Füßen. Die Schwingungen wurden immer heftiger, schmerzten schließlich in Rhodans Körper.

»Mikru!«, rief er. »Statusbericht! Was passiert mit uns?«

Wieder keine Antwort. Mikru war weitgehend gestört und nicht einsatzfähig. Nicht einmal das Licht funktionierte richtig.

Der Übergang in den Kalten Raum war alles andere als problemlos verlaufen. Geriet die Rückkehr ins Einsteinuniversum zur Katastrophe?

Im nächsten Augenblick wurden die Schwingungen wieder schwächer, und es wurde heller. Das kleine Schiff schien die schlimmsten Auswirkungen des Übergangs überstanden zu haben.

Mit einem deutlich spürbaren Ruck baute sich die künstliche Schwerkraft neu auf. Nemo Partijan ächzte, und Gucky schimpfte wie ein Rohrspatz. »Mikru! Kriegst du denn nichts vernünftig hin? Muss ich wieder die Kastanien aus dem Feuer holen?«

Rhodan grinste unwillkürlich. Natürlich war das Selbstbewusstsein des Mausbibers trotz der kritischen Lage ungebrochen.

Das Zittern endete, das Licht wurde stärker, und vor Rhodan bildeten sich die Holos der Außenortung. Zuerst zeigten sie nur schwarze Leere, dann hellten sie sich auf.

Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie zeigten nicht das, was Rhodan erwartet hatte, nämlich die visuellen Darstellungen der näheren Umgebung.

Den Holos zufolge umgaben MIKRU-JON braunschwarze Schlieren, die langsam um das Schiff rotierten, dabei ständig ihre Form verloren, ineinanderflossen.

Rhodan wurde klar, dass sie es keineswegs geschafft hatten. Er beugte sich vor. »Verdammt«, murmelte er, »wo sind wir?«

Jedenfalls nicht im Einsteinraum, das war klar.

 

*

 

»Kann mir mal einer verraten«, piepste Gucky, »was da passiert ist?«

»Das will ich gerade herausfinden.« Rhodan griff nach dem Schaltpult und rief manuell gespeicherte Holos der Fern- und Nahortung auf. Wenigstens das funktionierte.

In der dreidimensionalen Darstellung schimmerten in der Ferne Dosa und Zasao, die beiden Teile der Doppelgalaxis Chanda, zwei gewaltige Spiralgalaxien, die sich vor Jahrmillionen durchdrungen und dabei ihre ursprüngliche Form verloren hatten. Sie kamen Rhodan vor wie gestauchte Nebelwolken, in denen unzählige winzige Lichtpunkte schimmerten. Das Versteck des Kalten Raums lag in der Materiebrücke zwischen den großen Sternenballungen, einer in der Holodarstellung schmalen, hellen Schnur aus Sonnen, die von den hiesigen Völkern Do-Chan-Za genannt wurde.

Und nun? Schmutzig braune Streifen statt Millionen leuchtender Sterne, und auch die Schlieren kamen ihm seltsam verschwommen vor. Lag es an den Bewegungen der bronzefarbenen Wände? Beeinflussten sie die Wahrnehmung der Holos, die die Umgebung des Schiffes zeigte?

Oder ... nahmen sie die Umgebung vielleicht sogar wahr?

Rhodan schaute auf. Die Fadenknäuel in der Bronzeschicht auf den Wänden waren verschwunden, die Oberflächenstruktur hatte sich beruhigt. Alles kam ihm ganz normal vor.

»Mikru?«, fragte er noch einmal.

Wieder wartete er vergeblich. Der Avatar erschien nicht.

Rhodan runzelte die Stirn. Es gab einen weiteren Punkt, der ihm Sorgen bereitete. Nichts, was vorgefallen war, sondern etwas, das nicht geschehen war.

Er lauschte in sich. Er trug den Anzug der Universen, seit die BASIS nach Chanda entführt worden war. Es war ein seltsames Gebilde unbekannter Herkunft. Die Ärmel reichten bis etwa zur Mitte der Unterarme und die Beine bis knapp unters Knie. Aus der Distanz machte das blaue Material einen lackfoliendünnen Eindruck. Von der Höhe der Rippenansätze bis etwa knapp über die Knie hob sich beiderseits eine quergestreifte, vielleicht fünf Zentimeter breite Bahn ab, die aus fingerbreiten, übereinander angeordneten hellroten Wülsten bestand. Ebenfalls fast fingerdick waren die breiten, halbrund gewölbten Epauletten aus einem grauen Material mit einem roten Kreisring. Grau waren auch die beiden dreieckig geschwungenen Aufsätze, die von den Epauletten Richtung Brustbein zeigten, sowie das dazwischen platzierte graue Dreieck mit abgerundeten Kanten.

Der Anzug der Universen ... Mit dem Kalten Raum hatten sie wahrscheinlich ein künstliches Miniaturuniversum betreten – aber der Anzug hatte sich nicht gemeldet, zumindest nicht von sich aus. Rhodan hatte ihn einmal »zur Rede gestellt«, weshalb er seinem Namen nicht gerecht würde, woraufhin der Anzug lediglich erwidert hatte, Rhodan sei nicht imstande, sein Potenzial auszuschöpfen.

Nun hatten sie es wieder verlassen, und Rhodan versuchte erneut, eine Äußerung des Anzugs wahrzunehmen, die ihnen vielleicht weitere Informationen liefern würde. Aber da war nichts, nur kaltes Schweigen.

Zumindest kam es Rhodan kalt vor.

Er mochte diesen Anzug nicht, der ihn von Anfang an hatte wissen lassen, dass er seinen Träger unterjochen konnte. Der Anzug konnte verführerisch flüstern, donnernd drohen, kalt schweigen.

Rhodan hatte das Gefühl, dass der Anzug ihn so wenig mochte wie er ihn. Ja, er half ihm manchmal, aber es war stets, als verfolge er einen eigenen Zweck, als unterstütze er Rhodan bloß, wenn es vorteilhaft für seine Ziele war ... aber sonst?

Wenn Rhodan ehrlich zu sich selbst war, überlegte er, wie er den Anzug der Universen loswerden konnte. Unterwerfen konnte er ihn jedenfalls nicht, so viel stand fest. Das funktionierte nur in einer Richtung.

Rhodan konzentrierte sich auf die Umgebung. Um den Anzug konnte er sich kümmern, wenn es so weit war. Die gespeicherten Holos der Nahortung zeigten nur leeren Weltraum und in etwa 265 Millionen Kilometern Entfernung einen planetenlosen G7-Stern, der etwas kleiner als Sol war. Die aktuellen Aufnahmen hingegen bestanden nur aus Schlieren.

»Nemo«, sagte er, »hast du irgendwelche Theorien? Die verschwommene Ortung steht in Zusammenhang mit dem Kalten Raum. Aber wie? Quistus, siehst du irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«

Sie hatten das extra-universelle Versteck nur gefunden, weil die Iothonen mit ihren besonderen Fähigkeiten in der Lage waren, ohne fremde technische Hilfe im Weltraum zu navigieren, Wege durch hyperphysikalische Verwerfungen und Viibad-Riffe zu finden und sich selbst in Hyperstürmen zu orientieren, da sie eine höher dimensionierte Ordnung instinktiv erkannten. Sie konnten auch »in den Kosmos lauschen« und Informationen über die Struktur des Universums erfassen.

Jedenfalls hatten sie an diesem Ort die stabile Struktur eines Miniaturuniversums entdeckt, wie Ennerhahl es formuliert hatte. Darin verborgen ruhte neben Millionen von Chanda-Kristallen auch eine gewaltige Flotte, die von Vorfahren der heutigen Oracca dort deponiert und konserviert worden war. Damit hätten sie eigentlich eine schlagkräftige Streitmacht gegen die Truppen QIN SHIS in der Hand gehabt, aber bedingt durch die verstrichene Zeit hatte selbst alle Energie der Chanda-Kristalle nur gereicht, um ein einziges Schiff zu reaktivieren. Immerhin hatte es, stellvertretend für die Flotte, Ramoz als Seele akzeptiert, was immer das genau für Auswirkungen haben würde. Ramoz und Mondra Diamond waren bei der Flotte zurückgeblieben, während Rhodan und die anderen das extra-universelle Versteck wieder verlassen hatten, um sich um QIN SHI zu kümmern.

Mondra, dachte Rhodan. Mondra ...

Unvermittelt erschien neben Rhodan die völlig lebensecht wirkende Holoprojektion einer nur 1,60 Meter großen, zierlich, fast schon zerbrechlich wirkenden Frau, die man sogar anfassen konnte, weil Prallfelder ihr den Anschein von Körperlichkeit verliehen.

»Mikru!«, entfuhr es ihm erleichtert.

Er musste sich in Erinnerung rufen, dass es sich bei Mikru um den Schiffsavatar handelte, so lebensecht war die Gestalt. Sie verkörperte MIKRU-JON und somit letztlich jeden einzelnen Piloten, der jemals von ihr als Steuermann akzeptiert worden war. Je häufiger ein Pilot sich mit dem Schiff vereint und es gelenkt hatte, desto intensiver wurde durch die hyperphysikalische Prägung das auf das Schiff übertragene mentale Echo. Alle Echos zusammengenommen verliehen MIKRU-JON ihre Persönlichkeit und ließen sie mehr wie ein Wesen als ein bloßes Raumschiff wirken.

»Ich habe es auch schon bemerkt«, sagte Mikru mit warmer, sonorer, aber leicht knisternder Stimme. »Ich kann es mir noch nicht erklären. Aber ich kümmere mich sofort darum.«

Rhodan lächelte schwach. Manchmal schien es Mikru zu gefallen, in Rätseln zu sprechen. Doch zwischen ihnen herrschte mittlerweile ein tiefgehendes Verständnis. »Statusbericht!«, wiederholte er.

Die Projektion zerfaserte an den Rändern, wurde durchscheinend und löste sich vollständig auf, bevor sie antworten konnte.

Nemo Partijan beugte sich in seinem Sitz vor. Seine Hände ruhten auf den Schaltflächen des Arbeitsplatzes, den Mikru ihm eingerichtet hatte. Der Wissenschaftler aus dem Stardust-System hatte von dort aus Zugriff auf alle Ortungs- und Analysesysteme des Schiffes ... falls sie funktionierten.

Der Hyperphysiker hatte mehrfach unter Beweis gestellt, dass er extrem fähig war. Doch Rhodan vertraute ihm nicht völlig. Er schien irgendein Geheimnis mit sich herumzutragen, irgendetwas zu verschweigen. Und so forderte Rhodan stets heraus. Bislang hatte er jedoch noch keine Hinweise entdeckt, worum es sich dabei handeln konnte.

»Die Holos zeigen keine reelle Umgebung an«, sagte Partijan. »Diese Schlieren erinnern mich an die frühere Wahrnehmung des Linearraums ...«

»Ja.« Rhodan lächelte schwach. »Ich weiß, was du meinst.«

»Wir haben gerade den Kalten Raum verlassen, ein Versteck in Gestalt eines Miniaturuniversums ...«, fuhr Partijan gelassen fort.

»Das ist mir bewusst.« Rhodan verstand, dass Partijan eine logische Gedankenkette aufbauen musste, aber manchmal war der begnadete Wissenschaftler einfach zu pedantisch. »Kannst du mit tiefergehenden Analysen aufwarten?«

»In das wir nur mit Mühe eindringen konnten«, meldete sich Quistus zu Wort, der Navigator, der Rhodan bei Mikru allmählich den Rang abzulaufen schien. Seine kosmonautischen Fähigkeiten waren so außergewöhnlich, dass MIKRU-JON ihn als ideale Ergänzung ansah, als nahezu perfekten Piloten.

Quistus erinnerte Rhodan an einen übergroßen Tintenfisch. Der Terraner konnte den Körper des Navigators trotz der vier Meter großen Umweltkapsel sehen, die den Iothonen vor der Sauerstoffatmosphäre schützte. Die Kapsel war weitgehend transparent und ihr Inneres mit einer farblosen Wasserstoffgasmischung gefüllt.

Iothonen waren Wasserstoffatmer, die dank ihrer telekinetischen Fähigkeiten schwebend in der Atmosphäre heißer Gasriesen mit umfangreichem festem Kern lebten.

Mithilfe des Antigravs beförderte Quistus seine Kapsel näher an die Holos heran. Ein überflüssiger, fast anrührend symbolischer Vorgang, dachte Rhodan. Das große Ei verfügte über Möglichkeiten, Objekte optisch näher heranzuholen und zu vergrößern.

Rhodan blinzelte schnell. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass der Iothone nur noch drei Arme hatte. Der Xylthe Kaowen, Protektor der QIN SHI-Garde, hatte ihm in den vierten einen verräterischen Sender implantieren lassen, und Quistus hatte sich den Arm selbst abgetrennt, um den Sender wieder loszuwerden. Der Arm würde nachwachsen, wenngleich das mit extremen Schmerzen verbunden war und der Heilungsprozess lange dauern würde. Aber so wirkte Quistus' Körper seltsam asymmetrisch, verstümmelt.

»Falls es sich bei dem Kalten Raum tatsächlich um ein ...« Nemo Partijan hielt inne, schüttelte den Kopf, schien die Worte, die er aussprechen wollte, vorab in Zweifel zu ziehen. »... um ein Miniaturuniversum handelt, können dort ureigene Bedingungen geherrscht haben. MIKRU-JON könnte irgendwie eine eigene Raumzeit mit sich tragen.«

»Darauf bin ich auch schon gekommen«, versetzte Rhodan. »Andere Universen, selbst winzige künstlichen Ursprungs, können eigene Raumzeiten haben. Eine Stunde in ihnen ist ein Tag in unserem Universum. Oder umgekehrt.«

Partijan galt als Urheber der Quintadim-Topologie, die die Erklärung von Effekten höherdimensionaler Natur auf Grundlage topologischer Betrachtungen erlaubte. Rhodan hatte manchmal Schwierigkeiten, die Gedanken des Mannes nachzuvollziehen, aber das störte ihn nicht. Partijan war nicht der erste Spezialist, der ihm schwer verständliche Zusammenhänge erläutern wollte. Aber er wirkte manchmal leicht ... verschroben.

»Könnten wir diese Raumzeit mitgenommen haben?«, fuhr er barscher fort als beabsichtigt.

»Das ist des Pudels Kern.« Partijan grinste jungenhaft. »Ich vermute in der Tat, dass wir den Bereich des Verstecks noch gar nicht ganz verlassen haben.«

»Unsinn!« Gucky richtete sich in seinem Sessel auf. »Schließlich bin ich bei euch! Hättet ihr mich machen lassen, hätte ich den Kalten Raum zusammengefaltet!«

Rhodan musste lächeln. In welchen Schwierigkeiten der Mausbiber auch stecken mochte, er war stets überzeugt, sie überwinden zu können. Selbst wenn er nun übertrieben großspurig und etwas verwirrt zu sein schien. Ihm als Mutanten schien der Übergang schwerer zu schaffen zu machen als den anderen.

»Warum solltest du?« Nemo Partijan drehte sich zu dem Ilt um. »Mit dem Kalten Raum hast du vielleicht ein ganz neues Universum entdeckt, das du als Nächstes retten kannst!«

Rhodan hätte nicht damit gerechnet, aber diese Antwort verblüffte Gucky dermaßen, dass ihm keine schlagfertige Erwiderung einfiel. Der burschikose, tatendurstige Mausbiber und der etwas versponnene Hyperphysiker konnten miteinander nicht viel anfangen, wobei sie sich mittlerweile zumindest gegenseitig respektierten. Partijan erwies sich dem Ilt gegenüber zumindest intellektuell immer wieder gewachsen.

Quistus schob sich zwischen den Mausbiber und den Hyperphysiker, als wolle er jede weitere verbale Auseinandersetzung verhindern. »Ich muss Nemos Einschätzung bestätigen. Wir befinden uns weiterhin in den Randbereichen des Linienknäuels.«

»Also ... im Einfluss eines eigenständigen Universums?«, fragte Rhodan.

»Nicht unbedingt. Aber in einer hyperphysikalischen Ausbeulung oder einem Ballon«, stellte Partijan klar, »der wohl eine der unzähligen Feldlinien beziehungsweise einen Knotenpunkt des natürlichen Psionischen Netzes gewissermaßen aufbläht. Dieses Phänomen basiert wiederum auf dem UHF-Bereich des hyperenergetischen Spektrums und ist deutlich höhergeordneter als beispielsweise die Halbraumblase eines Lineartriebwerks oder eine Paratronblase im Hyperraum.«

Rhodan entsann sich Ennerhahls Worte, als sie dieses Etwas entdeckt hatten: Auf jeden Fall handelt es sich um ein perfektes Versteck. Allein könnte ich mir dort nicht einmal mit der Lichtzelle Zugang verschaffen.

»Und wie kommen wir da wieder raus?«

Nemo Partijan zuckte die Achseln. »Genau das ist die Frage«, sagte er ratlos.

2.

 

Die schmutzig braunen Schlieren vollführten ein irrwitziges Spiel. Sie wirbelten immer schneller, ziellos, verspielt, als wollten sie ihre Zuschauer verhöhnen.

Dann erstarrten sie plötzlich, gefroren in Raum und Zeit, wie es Rhodan vorkam. Und zerflossen kurz darauf zu festen Formen, die Bronzefarbe annahmen, Strukturen bildeten.

Für einen Augenblick war die Holodarstellung identisch mit der auf den Zentralewänden.

Erneut veränderte sie sich abrupt. Die Schlieren lösten sich auf, wichen einem umfassenden verschwommenen Braunschwarz, in das sich einzelne hellere Punkte drängten.

Sterne!, dachte Rhodan.

Sekunden später bildete sich das Holo, das Rhodan von Anfang an erwartet hatte – das ihrer näheren Umgebung. Er verglich es mit den gespeicherten Ortungsbildern und erzielte eine Übereinstimmung von einhundert Prozent. Doch das aktuelle Holo blieb verschwommen, die Lichtpunkte darin funkelten nicht, sondern leuchteten ganz schwach, undeutliche Flecke mit runden, diffusen Rändern im Gegensatz zu der akzentuierten Darstellung der gespeicherten dreidimensionalen Darstellungen.

Verdammt!, dachte Rhodan. Wo bist du, Ennerhahl?

Er hatte erwartet, die Lichtzelle des geheimnisvollen Fremden unmittelbar nach ihrer Rückkehr in das Einsteinuniversum mit MIKRU-JONS Ortung zu erfassen, also spätestens in diesem Moment, doch nun lieferte die Aktivortung keinerlei verwertbaren Daten.

Rhodan runzelte die Stirn. Das Wunderwerk von Schiff, das Ennerhahl zur Verfügung stand, sollte eigentlich auf sie warten, war aber nirgends zu sehen. Irgendwie hatte der Terraner erwartet, dass der Raumer, der im Auftrag einer Superintelligenz, womöglich sogar der Kosmokraten, gebaut worden war, eine Möglichkeit fand, die Phänomene zu überwinden, die MIKRU-JON beeinträchtigten.

Was konnte passiert sein, während er und seine Begleiter sich in dem ... Taschenuniversum befunden hatten? Oder trieb Ennerhahl ein falsches Spiel mit ihnen? Der Terraner brachte dem blendend aussehenden schwarzen Humanoiden ein gesundes Misstrauen entgegen, auch wenn jener sich bislang stets als loyal erwiesen hatte und sich noch nie bei einer Unwahrheit hatte ertappen lassen.

Wo steckten also Ennerhahl und sein Raumschiff?

Rhodan lauschte, versuchte, weitere Reaktionen von MIKRU-JON zu empfangen, aber der Zustand des Schiffs schien sich stabilisiert zu haben. Von dieser Seite drohte keine unmittelbare Gefahr.

Er sah zu dem Ortungsholo und kniff die Augen zusammen. Um Ennerhahl konnte er sich später kümmern, die anderen Probleme waren dringender.

»Systemausfälle«, erklang eine Stimme. Rhodan erkannte sie als die Mikrus, etwas verzerrt, nicht mehr natürlich oder gar verführerisch, aber eindeutig identifizierbar. »Analyseprogramme laufen an. Ich versuche, die Fehler zu beheben, aber es wird noch eine Weile dauern ...«

»Die Ortungen werden zunehmend klarer«, sagte Nemo Partijan. »Ich will jetzt nicht darauf beharren, aber ...«

»Nemo scheint mit seiner Theorie recht zu haben«, warf die körperlose Stimme ein. »Ich kann das allerdings nicht verifizieren. Die Systeme funktionieren immer noch nicht zufriedenstellend.«

Er sah zu Rynol Cog-Láar hinüber. Der Báalol saß benommen in seinem maßgeschneiderten Sessel. Er verfügte über die typischen Paragaben seines Volkes. Allerdings hatte er sie so eng mit seiner extremen Hinwendung zur Musik verknüpft, um noch intensiver musizieren zu können, dass er sie nur nutzen konnte, solange er auf dem Kitharon spielte.

Vielleicht schöpfte er seine Gabe auch daraus. Für ihn waren Musik und Psi-Fähigkeiten jedenfalls nicht zu trennen. Gut möglich, dass die Rückkehr ins Normaluniversum bei ihm die stärksten Auswirkungen zeigte und ihm am übelsten mitspielte. Cog-Láar konnte mit seiner Musik ganze Welten verzaubern, war vielleicht aber auch am anfälligsten.

»Wenn wir Glück haben, müssen wir einfach nur warten«, meldete sich Nemo Partijan wieder zu Wort.

»Mikru?«, fragte Rhodan.

»Noch keine neuen Informationen.«

»Du meinst also, die fremde Raumzeit löst sich von allein auf?«, wandte Rhodan sich an den Hyperphysiker.

»Genau.« Partijan nickte. »Sie hat sich an uns geheftet ...«

»Vergleichbar mit einer Strangeness?« Dieser relative Wert gab das Maß der Unterschiedlichkeit verschiedener Universen an, die sich mehr oder weniger deutlich in physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterscheiden konnten. In einem war vielleicht die Lichtgeschwindigkeit etwas niedriger, in einem anderen die Gravitationskonstante etwas höher. Ganz allgemein galt: Je unterschiedlicher die Naturgesetze zweier Universen waren, desto größer war auch ihre Strangeness.

Rhodan dachte beunruhigt daran, dass auch bei der Entführung der BASIS Strangeness-Phänomene aufgetreten waren, obwohl das größte Schiff der Menschheit lediglich in eine weit entfernte Galaxis, aber in kein anderes Universum versetzt worden war.

»Durchaus.« Nemo Partijan zeigte auf das verschwommene Holo der Fernortung. »Im Kalten Raum gab es minimale Unterschiede zum Standarduniversum, und die lösen sich allmählich auf, fallen sozusagen von uns ab. Oder anders herum: Wir gleichen uns wieder dem Einsteinuniversum an.«

Rhodan kniff die Augen zusammen. Täuschte er sich, oder war das Holo in den letzten Sekunden und Minuten tatsächlich etwas schärfer geworden?