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Klaus Farin

Buch der Erinnerungen
Die Fans der Böhsen Onkelz

Version IV

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Originalausgabe

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel

ISBN

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: shop.jugendkulturen.de

Der Autor:

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Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin.

Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist für Presse, Hörfunk und Fernsehen nun freier Autor sowie Lehrbeauftragter und Vortragsreisender in Schulen und Hochschulen, Jugendklubs und Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Gothics, Karl May und andere (zuletzt: Die Autonomen. Archiv der Jugendkulturen 2014).

Von 1998 bis 2011 war Klaus Farin Leiter des auch von ihm gegründeten Archiv der Jugendkulturen (www.jugendkulturen.de), das Materialien jeglicher Art (Fanzines, Flyer, Tonträger, Bücher, wissenschaftliche Studien usw.) über & aus Jugendkulturen sammelt, analysiert, archiviert und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung.

Kontakt: Archiv der Jugendkulturen Verlag, Fidicinstraße 3, 10965 Berlin; E-Mail: klaus.farin@jugendkulturen.de; Homepage: www.klaus-farin.de.

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INHALT

Zum Geleit

Böhse Onkelz. Die Geschichte einer deutschen Band

Stephan Weidner

Peter Schorowsky

Kevin Richard Russell

Böhse Onkels

„Türkähn rauhs“

Punk (1980/81)

Matthias Röhr

Vom Punk zum Skin (1981-83)

„Diktatur brauchen wir bestimmt nicht mehr“ – ein Interview (1983)

„Der nette Mann“

Das Verbot

Vom Skin- zum Bonehead

„Hässlich, brutal und gewalttätig“

Der Ausstieg

Auszeit

Die Fans

Die Medien

Die „Stimme der unterdrückten Nachrichten“

Der Mythos

Nach den Onkelz ist vor den Onkelz

„Nichts ist für die Ewigkeit“

Zitierte Quellen

Ein (schein)heiliger Bund. Die Fans & die Onkelz

Fans in der (ehemaligen) DDR

Skinheads

Die Internet-Onkelz

„In zwanzig Jahren sind die Onkelz ein Mythos wie die Beatles.“

Anhang/Service1

Vorwort zur Diskographie

Zum Gebrauch der Listen

Begriffserklärungen

Discographie – Vinyl, MC, VHS, CD, DVD (offizielle Veröffentlichungen)

Diskographie (Bootlegs & Counterfeits): Vinyl, MC, CD, VHS, VCD, DVD

Diskographie (private Veröffentlichungen): MC, CD, VHS, VCD, DVD

Bücher

Fanzines

Alle Konzerte 1981 – 2005

ZUM GELEIT

Werke, die man schreibt und die man tut,

kann man erst lange nach ihrer Vollendung korrigieren.

Jean Paul: Bemerkungen über uns närrische Menschen, 1797

Die Böhsen Onkelz sind zurück. Obwohl sie sich selbst schon mit Songs und in diversen Interviews von ihren Fans verabschiedet hatten, die Auflösung der Band 2005 durchaus konfliktträchtig und nicht einvernehmlich stattfand, alle vier längst mehr oder weniger erfolgreiche Solo-Projekte am Start hatten, verkündeten sie im Februar 2014 mysteriös zunächst auf ihrer Homepage und via YouTube „Nichts ist für die Ewigkeit“ und, als die Gerüchte hoch genug gekocht waren: „Wir gehen zurück auf Los! Abschied wird Aufbruch! Wir hauchen den Onkelz 2014 wieder Leben ein!“ In einer strategisch perfekten Kampagne wurde zunächst ein einziges Comeback-Konzert für den 20. Juni angekündigt, als das binnen einer Stunde ausverkauft war, ein zweites für den Tag darauf, als auch das ebenso schnell ausverkauft war und die Tickets bereits (illegal) für bis zu 1.000 Euro gehandelt wurden, weitere Auftritte in naher Zukunft. Wenn nun auch noch erwartungsgemäß neue Tonträger folgen (eine Aufrüstung des Merchandise-Angebots ist bereits erfolgt), dürfte klar sein: Die Böhsen Onkelz werden 2014 und vermutlich auch 2015 die erfolgreichste deutsche Band sein, weit vor ihren „Erzrivalen“ Tote Hosen und die Ärzte und allen anderen. Und die Echo-Preisjury wird dann wählen dürfen, ob sie den ersten Preis an Frei.Wild oder die Böhsen Onkelz vergibt … Die Zeiten, in denen man als Onkelz-Fan „nur wenige Freunde“ hatte und die Band sich nichts sehnlicher wünschte, als wenigstens in ihrem Heimatsender HR3 gespielt zu werden, sind definitiv vorbei.

Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe ich die Böhsen Onkelz Ende der 80er Jahre. Ich recherchierte gerade mit gemeinsam Eberhard Seidel für unsere Buchreportage „Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland“ (Rotbuch 1991, neu aufgelegt im Archiv der Jugendkulturen Verlag 2012). Dabei fiel – vor allem bei den vielen Gesprächen und Interviews mit Skinheads – immer wieder ihr Name: Die Böhsen Onkelz schienen eine sehr wichtige Rolle für die Skins jener Jahre zu spielen, überraschenderweise nicht nur für die der rechten Fraktion, sondern auch für viele explizit antifaschistisch eingestellte und engagierte Kurzhaarige. Bis dahin wusste ich zugegebenermaßen nicht viel über diese Band; in den Medien spielte sie noch keine große Rolle und sie hatte einen üblen Ruf als Schläger- und Nazi-Band. Man hörte sie einfach nicht – zumindest nicht als subkultureller Linker, wenn man wie ich mit der Antifa- und Anti-AKW-Bewegung sozialisiert worden war und unter anderem wegen der lebendigen Punk- und Hausbesetzer-Szene 1980 aus dem Ruhrgebiet nach Berlin „ausgewandert“ war.

Ohne Skinheads gebe es keinen Rassismus und keine Gewalt in Deutschland.

Dann fiel die Berliner Mauer – und alles wurde anders. Der Dicke versprach den gelernten DDR-„Mitbürgern“ ein Paradies auf Erden, wenn sie nur bereit wären, heim ins Reich zu kommen. Doch statt blühender Landschaften kamen Massenarbeitslosigkeit, Chaos, Korruption und aus dem Westen mit „Buschzulage“ weggelobte Wessis, die nun im Osten den Chef markieren durften. „Man hat Euch wieder mal belogen / Doch was könnt Ihr schon verlangen / Es waren Worte der Freiheit / Auf den Zungen von Schlangen.“ Die Rebellion der Ostdeutschen richtete sich nun allerdings nicht mehr gegen die (neuen) Mächtigen, die sie sich schließlich mehrheitlich selbst herbeigesehnt und -gewählt hatten, sondern gegen noch Schwächere. „Ihr sagt, es geht Euch schlecht / Und die andren sind dran schuld.“ (Böhse Onkelz: Worte der Freiheit, 1993) Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Eberswalde und viele andere Orte wurden zum weltweiten Symbol des hässlichen Deutschen, des Ausbruchs des gewalttätigen (ost)deutschen Spießertums gegen alles, was ihm „fremd“ war: Linke, Alternative, vor allem „Ausländer“. Ganz vorne an der rassistischen Front, als Einheizer und Richtungsweiser für die diffuse Wut, marschierten die etablierte Politik und die großen Medien fleißig mit: „Asylantenflut“, „Ausländerkriminalität“ … Doch als die ersten Familienhäuser entflammten, Kinder verbrannten, Tote internationale Proteste hervorriefen, da wollte es niemand gewesen sein. Neue Sündenböcke mussten her. Nicht Familienväter, Lehrer, Polizisten hatten die Pogrome beklatscht, begangen, ignoriert, nicht Innenminister und Chefredakteure die Opfergruppen dem Mob als Zielscheiben offeriert, sondern „die Skinheads“ waren es. Ohne Skinheads gebe es keinen Rassismus und keine Gewalt in Deutschland, verkündeten Politiker plötzlich, die noch wenige Wochen und Monate zuvor von „Ausländerschwemmen“ und „an den Kragen packen und weg damit …“ schwadronierten. Und wer heizte „die Skinheads“ dermaßen auf? Richtig: nicht etwa die tagtäglichen Schlag-Zeilen der auflagenstärksten Medien und verantwortlichen Politiker, sondern „der Rechtsrock“. Und da vor allem eine einzige Band (die einzige, die man zu der Zeit wohl kannte): Böhse Onkelz. Zehn Jahre nach ihrer Gründung erlebte die bis dahin allenfalls unter ein paar zehntausend Punks, Skinheads, Hooligans und Hardrockern bekannte Band plötzlich ihr Coming-Out in der Mitte der Gesellschaft.

Und wurde damit zum Politikum. Ob sie es wollte oder nicht. Die Mehrheitsgesellschaft brauchte dringend jemanden, auf den sie ihren Teil der Verantwortung an den Missständen abschieben konnte. Da kamen jugendliche Subkulturen und Bands gerade recht. Die können sich in der Regel sowieso nicht wehren.

Es ärgert mich wahnsinnig, wenn nicht nur BILD-Zeitungsleser und andere Volltrottel auf diese primitiven Strategien hereinfallen und Sündenböcke für ihr eigenes Unvermögen oder die Fehler der Mehrheitsgesellschaft suchen, sondern auch ansonsten kritische, gebildete, linksorientierte Menschen erst reden, dann denken (oder auch nicht). Und wenn mein Ärger größer wird und lange anhält, schlage ich bisweilen mit meinen bescheidenen journalistischen Mitteln zurück und schreibe ein Buch. Das hilft nicht nur mir, meinen Ärger gewaltfrei abzubauen, sondern vielleicht erreicht es ja sogar einige dieser Menschen, die noch guten Willens sind, selbst zu denken und Haltungen in Frage zu stellen, wenn sie einen kleinen Anschub dazu bekommen, und Vorurteile werden abgebaut. Denn letztlich bin ich ein sehr optimistischer Mensch und glaube an die positive Kraft von Bildung und dass Medien Menschen auch positiv verändern können. Das gilt neben der Musik vor allem für Bücher, dieses intimste, nachhaltigste Medium. Jeder leidenschaftliche Leser erinnert sich mit Sicherheit an Bücher, die ihn tief beeindruckt und geprägt haben. Nicht nur Karl-May-Fans wie ich. Jedenfalls erschien so 1993 nach etwa zweijähriger Recherche das Buch „Skinheads“ (C. H. Beck). Gar nicht in erster Linie, um die Subkultur der Skinheads zu rehabilitieren (obwohl es unter diesen, wie ich aus meinem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis und als regelmäßiger Punk- und Ska-Konzertgänger wusste, viele gab, die alles andere als rechts und rassistisch waren), sondern weil ich finde, man darf es keiner Gesellschaft, die den Titel „Demokratie“ für sich in Anspruch nimmt, durchgehen lassen, ihr rassistisches, Gewalt verherrlichendes und autoritäres Potential zu ignorieren, wegzudefinieren, einfach auf Minderheiten abzuschieben – weil es sonst bald keine Gesellschaft mehr gibt, die diesen Titel verdient.

1993 erlebte ich auch die Böhsen Onkelz zum ersten Mal live. Gemeinsam mit den Dimple Minds und mehreren anderen Bands in der Bremer Stadthalle beim Festival „Mensch?! Rock gegen Rechts“. Von da aus ging es gleich weiter: nach Österreich. Der bekannte linke österreichische Autor, Musiker und Songpoet Ostbahn-Kurti hatte die Onkelz eingeladen, als Headliner bei einer Tour unter dem Motto „Rock gegen Gewalt“ aufzutreten. Und ich sollte bei den geplanten Festivals als deutscher Autor gleich etwas zur aktuellen Situation im Land der Piefkes erzählen … Eine interessante Erfahrung. Ich konnte so nicht nur die Onkelz ein wenig „hinter den Kulissen“ erleben (zu einer Zeit, in der sie – höflich formuliert – nicht gut drauf waren), sondern auch Bombendrohungen, Medienkampagnen und Tausende von Fans. Ich erwärmte mich für die Idee, über diese ein Buch zu schreiben.

Nach Deutschland zurückgekehrt, bot ich das Thema gleich mehreren Verlagen an. Die meisten winkten sofort ab: zu heikel. Zu uninteressant. Nur, wenn das Hauptthema des Buches „Der Neonazi-Untergrund“ sein würde. Auf diesen fahrenden Zug zu springen, der bereits mit Dutzenden plötzlich geborener „Rechtsextremismus-Experten“ überfüllt war, die in der Regel nicht einmal den Unterschied zwischen Skinheads und Hooligans kannten, geschweige denn den zwischen Skinheads und Neonazis, hatte ich keine Lust. So ruhte das Thema also weiter. Wie viele andere auch. Bis ich schließlich gemeinsam mit Freunden und Kolleginnen 1997 das Archiv der Jugendkulturen gründete mit dem Ziel, Jugendlichen und ihren Kulturen endlich die Chance zu geben, ihre Ansichten authentisch und unzensiert zu verbreiten – und damit auch allen anderen Interessierten die Möglichkeit, sich differenziert über diese zu informieren. Meine Bank gab mir einen großzügigen Kredit, wir mieteten Räume an, eröffneten eine Bibliothek und fanden schließlich sogar einen Verlag, der bereit war, zukünftig eine archiveigene Buchreihe zu publizieren, bei der wir veröffentlichen könnten, was immer wir wollten. (2003 gründeten wir einen eigenen Verlag, in dem alle weiteren Titel des Archiv der Jugendkulturen e. V. und auch die Neuauflagen dieses Buches seitdem erscheinen.) Damit war auch das Thema Böhse Onkelz plötzlich wieder aktuell.

Alles begann mit einem Aufruf, den ich im Oktober 1998 an diverse Medien schickte, aber auch ein paar tausend Mal kopierte und als Flyer verteilte (mit tatkräftiger Hilfe einiger Freunde und Vereinsmitglieder des Archiv der Jugendkulturen e. V.) – bei Konzerten und Onkelz-Partys, bei meinen Vorträgen in Schulen und Jugendklubs. Die Redaktionen von Break Out, Rock Hard, Metal Hammer und wenige andere veröffentlichten die Meldung in ihren folgenden Ausgaben.

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Die Reaktionen darauf waren gewaltig. Das Telefon im Archiv stand nicht mehr still: Beinahe täglich gingen Anfragen von Onkelz-Fans nach weiteren Details ein. Das steigerte sich noch, nachdem im Frühjahr 1999 die ersten Onkelz-Fan-Homepages im Internet ebenfalls den Aufruf verbreiteten.

Die Motive für dieses gewaltige Echo waren fast immer die gleichen: „Endlich jemand, sogar ein Journalist!, der bereit ist, die Wahrheit über uns und die Onkelz zu veröffentlichen, und nicht nur diese Lügen, wir wären alle Neonazis und hirnlose Gewalttäter!“ Ich habe, vor allem in meiner Zeit als Musikjournalist, schon häufig über Bands und deren Fans berichtet, doch noch niemals standen gesellschaftspolitische und -kritische Fragen (Neonazis, Linke/Rechte, die Ursachen von Gewalt, Medienpolitik und -macht) und der brennende Wunsch nach einer Korrektur des öffentlichen Images so sehr im Mittelpunkt der Fan-Interessen, nicht einmal bei meinen Arbeiten über die Skinhead-Szene.

Onkelz-Fans sind genauso nett oder blöd wie die Mehrheit der Gesellschaft auch.

Dabei sind Onkelz-Fans, wie ihre Lieblingsband auch, im Normalfall nicht einmal besonders politisch motiviert und interessiert. Auch wenn sie es selbst vermutlich nicht gerne hören wollen (und ihre Gegner es nicht glauben wollen): Onkelz-Fans unterscheiden sich nicht sehr von anderen Heavy-Metal-Fans, und im Grunde genommen in vielen Ansichten auch nicht von anderen Gleichaltrigen oder ihren eigenen Eltern: Sie sind im Durchschnitt genauso nett oder blöd, dumm oder intelligent, (un) politisch und (nicht) engagiert wie ihr persönliches Umfeld und die Mehrheit der Gesellschaft auch. In ihrer Mitte gibt es Rechts- und Linksorientierte, „Ausländer“ und „Ausländer“-Hasser, Gewalttäter und Pazifisten. Mit Sicherheit sind sie – zumindest in ihrer großen Mehrheit – keine Rechtsextremen. Auch wenn ihre Gegner nicht müde werden, dieses zu behaupten.

Denn längst richtet sich der Hauptverdacht nicht mehr gegen die Band, sondern gegen ihre Fans. „Für mich ist eine Band so lange eine Neonazi-Band, so lange sie für Neonazis spielt“, erklärte etwa der Musiker (Foyer des arts) und Konzertveranstalter Axel Schulz, Motor des Berliner Onkelz-Boykotts Anfang der 90er Jahre (taz vom 25. Juni 1991). Kein ernst zu nehmender Mensch, der sich mit der Band beschäftigt hat, nicht einmal der Verfassungsschutz oder die Musikhandelskette WOM, in deren Filialen bis vor wenigen Jahren keine Onkelz-Tonträger verkauft wurden, behauptet, die Band sei heute noch rechtsextrem oder rassistisch eingestellt. Dazu sind zu viele eindeutige Stellungnahmen und Aktivitäten der Onkelz gegen rechts dokumentiert. „Die werden von den Medien überall in diese rechte Ecke reingehauen. Das ist bitter und sicherlich nur deshalb so streng, weil die Nazi-Welle gerade so hart ist. Wenn dem nicht so wäre, wären die Onkelz schon längst wieder integriert“, bekannte selbst Tote-Hosen-Chefredner Campino, mit Sicherheit kein Onkelz-Freund, erstaunlich offen schon im März 1993 im Metal Hammer. „Andererseits: Faschistoid, so eine Ideologie mal draufzuhaben, hat nichts mit einem Gentleman-Delikt zu tun. Die Onkelz müssten Anti-Nazi-Veranstaltungen organisieren, deren Hauptmotor sein und dabei mehr bringen als jede andere Band, die nur sagt: ‚Wir machen mit!‘ Ich wäre der Letzte, der einem Menschen nicht einräumte, dass er sich ändern kann. Entscheidend ist der Moment, in dem der ganze Saal – die Onkelz und ihr Publikum – ruft: ‚Nazis raus! Nazis raus!‘ Dann würde ich glauben, dass sie weg davon sind.“

Reaktionen auf die Erstveröffentlichung

„Natürlich könnte man Farin vorwerfen, sich mit seinem soeben erschienenen Buch als Trittbrettfahrer der Veröffentlichungswelle im Bereich harter deutscher Rockmusik zu betätigen. Doch erstens ist das beim Initiator des bundesweit einzigartigen Archiv der Jugendkulturen nicht zu vermuten, zum zweiten unterscheidet sich das Buch durch zurückhaltenden Stil, sichere Quellenangaben und Übersichtlichkeit von dem Großteil der eben angesprochenen Druckerzeugnisse. Gewöhnungsbedürftig ist zunächst die vom Konzept des Autors beeinflusste Gestaltung. Während ungeradseitig eine auf das Wesentliche beschränkte Biographie von Deutschlands umstrittenster Rockband zu finden ist, lauert geradseitig das, was sich als das Interessantere herausstellt: eine gewaltige Menge an Statements von Onkelz-Fans. Für den historisch ausgerichteten Farin-Blick spricht dabei die Trennung von West-Fans und Ost-Fans. Auch exotisch anmutende Statements gibt’s zu lesen, so dass vom linken christlichen Onkelianer oder das von der die Nationalzeitung lesenden nicht mehr so rechten, eher so mittellinken Hausfrau. Fazit: Für Leser, die es mögen, selbst zu denken, ist dieses Buch eine spannende und im Endeffekt sehr lohnende Lektüre. Pflichtexemplare sollten sich alle diejenigen besorgen, die hauptberuflich Jugendarbeit betreiben; inklusive Konfirmanden unterrichtende Pfarrer, die hier viel Wertvolles zu den Themen ‚Vorurteil‘, ‚Wandlungsfähigkeit’ und ‚persönliches Zeugnis ablegen’ finden werden. Wie wär’s, unter Zuhilfenahme dieses Buches einmal eine Unterrichtsstunde unter dem Titel ‚Vom Saulus zum Paulus’ vorzubereiten?“ CrossOver (das christliche Musikmagazin) Nr. 14

„Von der Band-Geschichte bis zu den O-Tönen der Onkelz-Fans ist das Buch eine einzige Werbung für die Böhsen Onkelz, ein Buch, das die Band problemlos auf ihren Touren neben anderen Merchandise-Artikeln verkaufen kann, würden ihre Fans denn Bücher lesen. Die hier wiedergegebenen Aussagen der Fans („Die Onkelz sind für mich Arbeitermusik“, „Ich bin links, bin Christ und Onkelz-Fan“, „Die Onkelz sind die Band der kleinen Leute und sozial Schwachen“) werden wohl künftig auch die Presseinfos des Labels schmücken – für niemand anderen nämlich als die Band und deren Manager ist dieses Buch geschrieben worden.“ Martin Büsser in: junge Welt vom 5. Juli 2000

Das ist seitdem mehrfach auf Konzerten der Onkelz geschehen, sowohl bei expliziten „Rock gegen Rechts“-Festivals als auch bei „normalen“ Onkelz-Konzerten, und auf offiziellen Videomitschnitten und zahlreichen illegalen Bootlegs eindeutig dokumentiert. „Rechte“ werden auf Onkelz-Konzerten von der Security gnadenlos rausgeworfen, wenn sie sich durch entsprechende Gesten oder Worte enttarnen, wer ein T-Shirt einer rechten Marke oder mit einer Neonazi-Band als Motiv trägt, kommt gar nicht erst in den Saal, bei jedem Konzert gibt es von der Bühne klare Ansagen gegen Rassismus und die rechte Szene. Die Band spendete Geld für die Opfer von Krieg und Vertreibung in Afghanistan und andere Flüchtlinge, auf YouTube warnte Stephan Weidner davor, die NPD zu wählen. Deshalb äußerten sich viele prominente Onkelz-Kollegen und -Kritiker von einst in den letzten Jahren der Band differenzierter. Doch: Waren die Statements der Onkelz gegen rechts nur plakative Bekundungen zur Beruhigung der kritischen Öffentlichkeit oder steckten wirklich grundlegende Orientierungen dahinter? Und wie reagierten die Fans darauf? Haben sie den Wandel der Onkelz nachvollzogen oder nahmen sie ihn einfach nur in Kauf, weil sie diese Band so mögen? Welche Leute sind heute überhaupt Onkelz-Fans? Und warum? Sind es immer noch Angehörige rechter Gewaltgruppen?

In diesem Buch kommen sie zum ersten Mal ausführlich selbst zu Wort, die Fans der Böhsen Onkelz. Diese größtenteils sehr persönlichen Statements erhellen meines Erachtens die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Mythos Böhse Onkelz besser, als dies jede reine Band-Biographie könnte, die nur die „Stars“ selbst beleuchtet.

Waren die Statements der Onkelz gegen rechts nur plakative Bekundungen zur Beruhigung der kritischen Öffentlichkeit?

Dennoch ist eine genauere Kenntnis der Entwicklungsgeschichte der Musiker zum Verständnis vieler Fan-Beiträge unverzichtbar, sind es doch gerade die Lebensläufe vor allem des Sängers Kevin Russell und des Komponisten, Texters und Bassisten Stephan Weidner, die zu einer derart hohen und im derzeitigen Musikmarkt einmaligen Identifikation der Fans mit ihrer Kultband führten. So habe ich im Laufe der Arbeit an diesem Buch meine ursprüngliche Absicht, die Band-Biographie nur kurz zu berühren, aufgegeben und sie stattdessen gleichgewichtig aufgenommen. Dieses Buch enthält damit zwei Teile: auf den rechten Seiten („Farin-Seiten“) zeichne ich die Geschichte der Band und die Reaktionen ihrer Kritiker nach, die linken Seiten („Fan-Seiten“) enthalten die Beiträge von Fans, mir schriftlich zugesandt oder auf Onkelz-Partys und an anderen Orten in Interviews gesammelt.

Allerdings ging es mir dabei nach wie vor nicht darum, eine komplette Band-Biographie zu erstellen. Zum einen liegt diese mit der Veröffentlichung „danke für nichts“ von Edmund Hartsch bereits vor. Der Autor war ein langjähriger Freund und Mitarbeiter der Band und besonders von Stephan Weidner, mit dem er einige Zeit sogar gemeinsam einen Skateboard-Laden betrieb. Somit sollte sein Buch grundsätzlich kritisch gelesen werden, zumal es von der Band selbst veröffentlicht wurde. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – gilt „danke für nichts“ völlig zu Recht als glaubwürdige, authentische Biographie der vier Musiker, die gerade im entscheidenden Teil der „politischen“ Entwicklung der Band ehrlich und ungeschminkt Auskunft gibt. Diese Biographie hat seit ihrer Veröffentlichung Ende 1997 eine gewaltige Resonanz innerhalb der Onkelz-Fangemeinde ausgelöst und stellt eine zentrale Quelle für das Wissen vieler Fans über die Band dar. Auch aus diesem Grunde werde ich im Folgenden immer wieder daraus zitieren, zumal die Band ein ausführliches biographisches Interview mit mir seinerzeit ablehnte. (Allerdings wurde meine Arbeit an diesem Buch durchaus unterstützt, indem mir CDs, Konzertpässe und weiteres Material aus dem Onkelz-Archiv in Frankfurt zur Verfügung gestellt wurden und ich mehrere „informelle“ Gespräche mit den Musikern und ihren MitarbeiterInnen führen konnte. Edmund Hartsch kam sogar zur Pressepräsentation der Erstauflage dieses Buches extra ins Archiv der Jugendkulturen und äußerte sich sehr positiv.)

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Dafür ist es mir gelungen, ein Interview aufzutreiben, das Kevin Russell und Stephan Weidner am 16. Dezember 1983 – nur wenige Wochen, bevor sie ins Studio gingen, um ihr erstes Album „Der nette Mann“ einzuspielen – einem Studenten in einer Frankfurter Arbeiterkneipe gaben und das damit neben den Demo-Tapes das früheste authentische Dokument ihrer Skinhead-Phase darstellt und hier erstmals und exklusiv veröffentlicht wird. Auch in den umfangreichen Fanzine-Beständen des Archiv der Jugendkulturen – u. a. rund 4.000 Punk-und Skinhead-Fanzines – fanden sich einige bisher wohl eher unbekannte Dokumente …

Im April 2007 beschloss ich mein Vorwort zur damaligen Neuauflage an dieser Stelle mit folgenden Sätzen: „Wenn dieses Buch im Juni 2007 erscheint, existiert die Band bereits seit zwei Jahren nicht mehr, und nach dem eher peinlichen Abgang inklusive über Rock Hard und Hammer ausgetragener Streitigkeiten, die das persönliche Auseinanderdriften der vier Ex-Onkelz für viele Fans erschütternd eindeutig dokumentierten, ist wohl kaum mit einer Wiederbelebung zu rechnen. Fast alle Band-Mitglieder haben inzwischen ihre Solo-Projekte (als Musiker, Autor, Produzent) und selbst bereits angekündigte Onkelz-Produktionen wie eine komplett neu eingespielte Version der ‘Onkelz wie wir‘ sind bis heute nicht erschienen. War’s das also? Kaum. Die in den 25 Jahren ihres Schaffens veröffentlichten mehr als zwanzig Alben werden die Fans weiter beschäftigen, trösten, stärken, in Zweifel stürzen, in Partystimmung versetzen. Möglicherweise werden jetzt, wo die Band selbst nicht mehr aktiv ist, ihre Texte als Zeitdokumente in die Schulbücher wandern und Theater- und Filmschaffende diese einzigartige Wirkungsgeschichte für aufklärerische Projekte gegen Rassismus und rechte Gewalt nutzen. ‘Nach den Onkelz ist vor den Onkelz‘ heißt deshalb das letzte Kapitel dieses Buches: Die Geschichte wird weitergehen (hoffentlich nicht in Form eines peinlichen ‘Wirsind-wieder-da‘-Rockstar-Revivals zum 40-jährigen Bandjubiläum …)“

Und nun ist es doch geschehen, offenbar sogar zur eigenen Überraschung der Musiker, wie sie in mehreren Interviews kundtaten, haben sie sich wieder zusammengetan: Die Böhsen Onkelz sind wieder da. Warum und was nach den zwei Comeback-Konzerten im Juni 2014 weiter geschehen wird, kann jeder, den es interessiert, über alle Medienkanäle verfolgen. Anders als zu Beginn ihrer Karriere sind die Onkelz heute Popstars, über die nicht (nur) Fanzines und Fachjournalisten berichten, sondern VIP- und Promi-ExpertInnen. Was die Qualität der „Berichterstattung“ nicht unbedingt verbessert hat. Ein aktuelles Beispiel – SAT1-Frühstücksfernsehen vom Februar 2014 – und die Reaktionen zahlreicher Fans darauf habe ich in einem neuen abschließenden Kapitel zur Neuauflage dieses Buches dokumentiert. Ansonsten habe ich den Hauptteil des Buches kaum verändert, lediglich im Nachhinein entdeckte Fehler korrigiert und gelegentlich Informationen aktualisiert und nachgetragen. Allerdings findet sich der Anhang nun nicht mehr in der Druckausgabe, sondern nur noch im E-Book. Letztendlich lesen auf mehr als 100 Seiten zusammengestellte Listen sämtlicher Veröffentlichungen, Bootlegs und Counterfeits etc. doch nur wenige Nerds wie du und ich, und diese haben nun immer noch die Möglichkeit dazu, dies in der elektronischen Version zu tun. Dafür kostet das E-Pub im Handel nun statt 13,99 nur noch 9,99 Euro und bei der Hardcover-Ausgabe sind wir durch die Seitenzahlreduzierung auch um eine Preiserhöhung herumgekommen.

Nun wünsche ich viel Vergnügen und weniger Vorurteile auf allen Seiten!

Klaus Farin, 20. April 2014

BÖHSE ONKELZ.

DIE GESCHICHTE EINER DEUTSCHEN BAND

Könige des Pathos

Radikale Humanisten

Hoffnungslose, Außenseiter

Idealisten

„Onkelz 2000“

Ein Vierteljahrhundert mit derselben Bandbesetzung – das haben weder die Beatles oder die Stones noch Deep Purple oder AC/DC noch irgendeine andere der Superbands des Rock’n’Roll-Business geschafft. Die Böhsen Onkelz sind (oder waren) in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Phänomen. Keine andere Band hat so viele Wandlungen vollzogen und überlebt, keine andere Band vom ersten bis zum letzten Tag (und offenbar sogar darüber hinaus) so heftige Kontroversen entfacht. Keine andere Band hat es bisher geschafft, selbst als schwerreiche Rockstars mit Millionen verkauften Platten und Fans immer noch glaubwürdig das Image eines von der Welt ungeliebten outcasts aufrecht zu erhalten.

Der Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens ist nicht in erster Linie die Musik, sondern die Biographien vor allem der Onkelz Stephan Weidner und Kevin Russell.

STEPHAN WEIDNER

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Geb. am 29. Mai 1963 in Alsfeld bei Kassel, aufgewachsen in Nieder-Ohmen bei Kassel.

Erlernter Beruf: Keiner.

Geschwister: Zwei ältere Brüder, Günther (Jahrgang 1956) und Klaus-Dieter, noch aus der ersten Ehe der Mutter Gisela; zwei jüngere Schwestern, Carmen (Jahrgang 1964) und Monika (1965). Der Vater Karl-Heinz (Jahrgang 1940) hatte schon vor Stephans Geburt eine kriminelle Laufbahn hinter sich, saß sogar gut zwei Jahre wegen Autodiebstahls und Einbrüchen im Knast. Zur Zeit der Geburt Stephans jobbte er zwar als Straßenbauer, blieb jedoch nach einer kurzen Phase der Abstinenz dem „Milieu“ verhaftet. 1966 verließ er die Familie und stieg als Zuhälter in ein Frankfurter Bordell ein. Da er jegliche Unterhaltszahlungen verweigerte, arbeitete die Mutter von nun an ganztags, zunächst bei Hertie, dann bei einer Versicherung.

Die Familie lebte dennoch in ärmlichen Verhältnissen. Im Winter fehlte das Geld zum Beheizen der Wohnung, die Wasserleitungen froren zu und die Kinder wurden bei Verwandten untergebracht. 1965 wurde die Jugendfürsorge auf die schlimmen Zustände bei den Weidners aufmerksam und ordnete die Unterbringung der beiden ältesten Söhne bei Pflegeeltern bzw. in einem Heim für „schwer erziehbare“ Kinder an.

1967 teilte das Sozialamt der Familie Weidner eine Wohnung am Frankfurter Berg zu, im 8. Stock eines Hochhauses in der Julius-Brecht-Straße, im Zentrum eines über die Stadtgrenzen Frankfurts hinaus berüchtigten Ghettos, dessen Bewohner mehrheitlich von Kindergeld, Arbeitslosenhilfe und anderen Almosen des Sozialamtes lebten. Onkelz-Biograph Edmund Hartsch: „Der Frankfurter Berg war so scheiße, man musste nur dort wohnen und man wurde automatisch krank. Wirklich interessant wurde es nur, wenn die Bullen kamen oder ein Selbstmörder vom Dach sprang und auf dem Parkplatz hinter den Mülltonnen aufschlug. Das geschah relativ häufig.“ (Hartsch 1997, S. 14)

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Foto: Boris Geilert (G.A.F.F.)

Auf den Fotos jener Jahre wirkt Stephan ein wenig zu dick, ungelenk, aber auch rotzig-frech. Er litt an schwerem Asthma, wurde deshalb und wegen seiner Behäbigkeit von den anderen Jungen seiner Umgebung häufig gehänselt oder auch mal verprügelt. In der Schule galt er als jähzornig, aggressiv, ein Störenfried mit miserablen Leistungen. Versuche, an einem Gymnasium und einer Realschule höhere Abschlüsse zu erzielen, scheiterten ansatzlos, und selbst auf der Hauptschule schaffte er es, gleich zweimal hintereinander, in der 7. und 8. Klasse, sitzen zu bleiben. Die Hochachtung galt beidseitig: Stephan hasste die Schule und die Lehrer aus vollem Herzen.

1976 nahm der Vater Stephan überraschend in seine Obhut. Selbst ein alter Rock’n’Roller, zeit seines Lebens ein gesellschaftlicher Außenseiter und Prügelknabe, bestärkte er in seinem Erziehungsstil Stephans Neigungen zu Gewaltexzessen und permanenter „Rebellion“ gegen Vorschriften und Normierungen jeglicher Art. Mit elf Jahren hatte Stephan trotz seines Asthmas begonnen zu rauchen, mit 14 kiffte er zum ersten Mal mit seinen Freunden, meist etwas Ältere, mit denen er fast täglich im Park der nahe gelegenen Taunusanlage herumlag und sich aus der Realität wegdröhnte ... Ende 1977 nahm er dort zum ersten Mal LSD, ein achtstündiger Horrortrip, dessen abschreckende Wirkung jedoch nicht allzu lange anhielt.

1978 wird Stephan wieder einmal nicht versetzt und schließlich an eine Schule überwiesen, die sämtliche Problemfälle des Bezirks sammelte. „Begründung: Trotz Rücksprache der Klassenlehrerin mit Ihnen wird Stephans Verhalten in der Klasse immer untragbarer“, teilt die Schulleitung dem Vater per Einschreiben mit. „Er beschießt seine Mitschülerinnen mit Gummischleuder und Büroklammern und schlägt seine Klassenkameraden grundlos. Aufgrund seiner sich beinahe täglich steigernden obszönen Ausdrucksweise ist er zu einer sittlichen Gefahr für die Klasse geworden. Diese unglaublich gossenhaften Beleidigungen und seine körperlichen Angriffe auf Mitschüler haben bereits dazu geführt, dass diese sich fürchten, die Schule weiterhin zu besuchen.“ (Hartsch 1997, S. 17) Stephan fühlt sich ungerecht behandelt, stürmt in die Schule, verprügelt den Physiklehrer, den er für die Nicht-Versetzung verantwortlich hält, zertrümmert das gesamte Inventar des Physikraums und versetzt dem aufgrund des Lärms herbeieilenden stellvertretenden Rektor gleich auch noch eine Ohrfeige ...

Die Polizei bringt Stephan schließlich nach Hause, ein Jugendrichter verurteilt ihn später zu 145 Arbeitsstunden. Die Polizei klingelte häufig bei Weidners an, zumeist wegen der Taten des Sohnes: Fahrraddiebstahl, Körperverletzungen u. ä. lauteten die Vorwürfe. Der Vater empfahl seinem Sohn nur wenig hilfreich, sich beim nächsten Mal gefälligst nicht erwischen zu lassen.

Nach dem letzten Vorfall wollte keine hessische Schule mehr Stephan als Schüler aufnehmen. So zog der Vater mit ihm und seiner zweiten Frau Helga in ein Reihenhaus nach Hösbach bei Aschaffenburg. Das liegt zwar nur eine gute Stunde von Frankfurt entfernt, gehört aber schon zu Bayern.

Stephan sicherte sich auch dort schnell seinen Ruf als der härteste Schläger der Schule, indem er die bisherigen Leaders of the Pack verprügelte. Doch er zeigte sich auch in jeder anderen Weise krass. Seine Schulsachen trug er in einem Aktenkoffer bei sich, und statt in Jeans und T-Shirts wie die meisten seiner Mitschüler wandelte der Fünfzehnjährige in einem weißen Flanell-Anzug, Satinhemden und Brian-Connolly-Schlangenlederplateauschuhen über den Schulhof. Als man ihm im Sommer 1979 den Hauptschulabschluss verweigerte, explodierte er erneut und raste auf seinem frisierten Mofa durch die Schulflure. Ende einer Schullaufbahn.

Die „große Welt“ der Zuhälter

Sein Vater, der inzwischen im Frankfurter Rotlicht-Milieu eine erstaunliche Karriere gemacht hatte, nahm ihn nun mit in seinen Puff und stellte ihn hinter den Tresen der angegliederten Kneipe, damit er sein „eigenes Geld“ verdienen konnte. Die „große Welt“ der Zuhälter, geprägt von Sex, Gewalt, Machtkämpfen, Alkohol- u.a. Drogenexzessen, und er als „Junior des Chefs“ immer mittendrin, faszinierten den Sechzehnjährigen. „Du kannst immer ficken, hast immer Geld und du brauchst nie wieder zu arbeiten“, versuchte der Vater ihm die Branche schmackhaft zu machen. „Nach einer zweimonatigen Einarbeitungszeit hatte Stephan zwei scheckheftgepflegte Stuten, die für den väterlichen Stall ritten, zu seiner persönlichen Verfügung. Margo und Jaqueline, eine Deutsche und eine Französin, hielten sich ihre Abend- und Nachtstunden für Stephan frei“, berichtet Edmund Hartsch (Hartsch 1997, S. 24).

PETER SCHOROWSKY

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Geb. am 14. Juni 1964 in Hösbach bei Aschaffenburg.

Erlernter Beruf: Schweißer.

Geschwister: 1 älterer Bruder, 2 jüngere Brüder. Pe wuchs in Familienverhältnissen auf, die man im Allgemeinen als „wohlgeordnet“ bezeichnet. Der Vater ist Kühlanlagenmechaniker, die Mutter Hausfrau. Drei Generationen lebten in dem Haus in der Salzgasse, in dem auch schon Pes Mutter geboren war, eine bayerisch-katholische Mittelschichtfamilie ohne Skandale und existentielle Krisen.

Im Vergleich zu den anderen späteren Onkelz ein glückliches Umfeld, aber auch schrecklich konservativ und langweilig. So dauerte der Weg vom Beatles- zum AC/DC-Fan nicht lange, und als Pe 1977 in seinem Dorf vor der Glotze saß und im ZDF- „Schülerexpress“ zum ersten Mal die Sex Pistols erblickte, war es um ihn geschehen. Der Berufswunsch „berühmter Rockmusiker“ war damit nicht vergessen, doch zunächst stand etwas Realistischeres auf der Tagesordnung: Ich werde Punk.

PUNK

When there’s no future

How can there be sin

Sex Pistols: God save the Queen (1977)

... war nicht wirklich neu. Schon sechs Jahre vor Sid Vicious zerschnitt sich Iggy Pop (Jahrgang 1947) seine Hühnerbrust mit einer Glasscherbe, provozierte bei Auftritten in Nazi-Uniform, onanierte und kotzte auf der Bühne, beschimpfte das Publikum mit minutenlangen Hasstiraden und führte die hohe Kunst des Stage-diving ins Rockbusiness ein. Die Ramones trugen bei ihren ersten Auftritten ab 1974 zwar noch seltsame Pilzkopffrisuren, erspielten sich aber bald ihren Ruf als „Hohepriester“ der drei Akkorde, indem sie ihr eigentlich eineinhalbstündiges Programm in knapp 30 Minuten bewältigten. Andere US-Bands wie Velvet Underground, MC Five und die charismatische Dichterin Patti Smith zelebrierten auf der Bühne Orgasmen mit Drei-Finger-Akkorden und rüden Four-Letter-Lyrics. Selbst das Wort „Punk“ war nicht neu: „Im Oxford Dictionary ist der Begriff schon für das 16. Jahrhundert belegt: als Substantiv für Hure, als Adjektiv für verdorben, wertlos, ohne irgendwelche Qualitäten“, berichtete Der Spiegel 4/1978. „Nach dem Etymologen Eric Partridge soll Punk ursprünglich als eine Slangbezeichnung für schimmeliges, altbackenes Brot verwendet worden sein, möglicherweise abgeleitet vom französischen ‚pain‘. In seinem Buch ‚Hard Travellin‘ bezeichnet der Schriftsteller Kenneth Allsop die jungen Begleiter homosexueller Tramps als Punks. Und ganz ähnlich wird Punk im US-Gefängnisjargon verwendet: für Jungen, die ihr Gesäß an alte Knastbrüder verkaufen.“ So war das Wort „Punk“ zumindest in den USA bereits seit Jahrzehnten eingeführt: als Schimpfwort der Spießbürger für Verlierer und Außenseiter – Huren, Homosexuelle, Tramps, Obdachlose, Gammler, Rocker, kurz: Dreck jeder Art. „Punk-Rock ist nichts Neues“, meinte denn auch lakonisch der Kinks-Drummer Mick Avory im Frühjahr 1977. „Herumklotzen und an die Wand pissen, das hab ich schon vor acht Jahren gemacht.“ (ran 8/1977)

Neu war allenfalls das Ausmaß an Müll, Beton und Langeweile, Arbeitslosigkeit, Depression und Hass, dem die erste Punk-Generation (in Großbritannien etwa 1975 – 1979, in Deutschland 1977 – 1980) ausgesetzt war. Neu waren auch die Fronten. Die alte Kriegsgeneration, mit der sich die studentischen Rebellen und die Hippies der 60er Jahre auseinandersetzen mussten, war abgetreten. Auf ihren verwaisten Thronen hatten inzwischen die Revoluzzer von einst Platz genommen. Der „Marsch durch die Institutionen“ hatte zwar nicht das kapitalistische System ernsthaft erschüttert, doch zahlreiche „68er“ an der Macht – zumindest über die nachwachsende Jugend – beteiligt. Ob im Elternhaus (allerdings nur bei den bildungsbürgerlichen und Mittelschichtkids) oder im Jugendzentrum, in der Schule oder der Universität, im Journalismus und im Musikbusiness, überhaupt im kulturellen Alltag war es nicht schwer, auf tolerante langhaarige „Alternative“ mit viel Verständnis für aufmüpfige Jugendliche zu treffen. Natürlich waren die meisten im Zuge ihres Alterungsprozesses der „Straße“ genauso entrückt wie den einstigen Utopien vom herrschaftsfreien Leben. Nur: Die meisten merkten es nicht – oder wollten es nicht wahrhaben, dass sie nun selbst zu denjenigen gehörten, denen man nicht trauen sollte. Sie hörten schließlich noch die gleiche Musik wie früher, träumten immer noch mit Cat Stevens und Joan Baez von mehr Menschlichkeit und Wärme in dieser kalten Welt, kifften weiterhin (schwer illegal!) mit Neil Young und ballten mit Bob Dylan die Fäuste gegen ein Establishment, dem sie längst angehörten. Doch ihre Kinder, den Geist seit der Pubertät rebellisch geschärft, sahen bald, dass von diesen Alten nicht mehr viel zu erwarten war. Und sie reagierten, indem sie erstmal das genaue Gegenteil von dem taten, für das ihre Eltern standen.

Das machten Generationen von Jugendlichen zuvor und danach auch. Um zu verstehen, warum die Teenager-Rebellion der späten 70er Jahre ausgerechnet im Punk explodierte, müssen wir einen Blick auf die Musikszene jener Jahre werfen. In den Verkaufscharts gaben Superstars wie Genesis, Yes, Supertramp, Pink Floyd und Emerson, Lake & Palmer den Ton an. Die meisten waren wirklich exzellente Musiker. Doch vor allem unerträglich satt. Fett wie ihr Sound. Universen vom Lebensalltag der Jugendlichen entfernt. Künstliche Götter auf dem Weg in den Pop-Olymp. Die Zeiten, in denen sich die „Jagger-Gang“ noch auf der Straße mit Teddyboys prügelte und Rod The Mod Stewart den Totengräber-Blues lebte, waren vorbei. Rock’n’Roll war, wie John Cale von Velvet Underground im Juli 1975 bemerkte, „noch so’n Amüsement“ geworden, „das der Regierung hilft, den Mob von der Straße fernzuhalten“ (Jones 1978, S. 11). Der Soundtrack zum Aufstand der Jugend gegen die spießige Erwachsenenwelt war zum lukrativen Bestandteil des Establishments mutiert, ein Tranquilizer für glückliche Konsumenten. „Auf der Flughafentoilette dudelt gedämpfter Rockverschnitt; beim Einkaufen im Supermarkt senkt er sich wie eine Bleiglocke übers Gehirn, sodass der Einkaufsakt mehr einem Schlafwandeln zwischen gefüllten Regalen gleicht; im Kino untermalt er die Langeweile der Dia-Werbung. Rock ist Begleitmusik für alle nur erdenklichen Betätigungen. Besonders eng ist sie mit dem Waren(ver)kauf verbunden, am auffälligsten in der Glitzerwelt der Boutiquen, wo eingängiger Rock einem schon vorab die Gewissheit gibt, mit dem Kauf dieser oder jener Jeans auch der Verheißungen der Jugend teilhaftig zu werden, durch die Modernisierung der eigenen Oberfläche mit ‚dabei‘ zu sein. Die Rockmusik insgesamt ist nicht mehr die Musik, die Jugendliche in ihrer Faust halten.“ (Penth/Franzen 1982, S. 262) Die Wilden der 60er Jahre waren tot – wie Jim Morrison, Janis Joplin und Jimi Hendrix – oder alt und langweilig geworden. Überlebende wie die Rolling Stones, The Who oder Led Zeppelin waren zu Cyberstars mutiert, die ohne Technik für einige hunderttausend Euro gar nicht mehr auftreten konnten. „Etwas Improvisation in das Spiel der Rolling Stones zu bringen, bedeutet soviel wie eine Boeing 747 mit der Hand festzuhalten“, gestand schon 1974 Stones-Tourmanager Peter Rudge einem Reporter (Blickpunkt 263, S. 18).

„Der Rock war in Bars und kleinen Clubs geboren worden; jetzt wurde er in gewaltigen Hallen und Sälen geschändet. Der Geist des Rock, sein Zorn und sein ungebärdiger Widerstand gegen konservative Emotionen, war bedroht von der Hygiene, vom Beharren der Gruppen auf einer Musik ohne Ecken und Kanten, ohne die ungehobelte Inspiration und die unverhüllte Leidenschaftlichkeit, die den Rock’n’Roll immer so aufregend gemacht hatten. Es war kein Gefühl des Zorn, der Verzweiflung, des Verlangens, der Gewalt, des Wahnsinns da: noch nicht einmal das Gefühl von Spaß, Heiterkeit, Ruhmseligkeit oder Lust. Es gab nur äußerst wenig, das einen zuhören machte, weil es teilweise für – oder über – einen sprach“, schrieb sich Allan Jones, Redakteur der Musikzeitschrift Melody Maker, seinen Frust aus dem Leib (Jones 1978, S. 13). Rockmusik hatte als Jugendmusik begonnen, die Opposition gegen die Erwachsenengesellschaft war ihr zentrales Merkmal von Chuck Berrys „Hail, hail rock and roll / Deliver me from the days of old!“ („School Day“) über „My Generation“ von The Who bis zu „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ von Ton Steine Scherben. Nun war der Rock mit seinen Fans erwachsen geworden – und damit, aus der Perspektive der nachwachsenden Generation, rührselig, bieder, langweilig, kraftlos. Memorials für Eltern und Lehrer, ohne Bezüge zu UNSEREM Leben.

Auftritt Sex Pistols

Da springt in London eine neue Band auf die Bühne, quält ihre Instrumente mehr, als dass sie sie beherrscht, lässt sich vom Publikum anspucken und mit Bier überschütten, beleidigt in monoton hintereinanderweg gepeitschten Songfetzen Königin und Regierung als „fascist regime“, pöbelt auch ansonsten reichlich in der Gegend herum und nennt das Anarchie. Aus heutiger Sicht, abgehärtet durch eine reichhaltige Palette schräger Vögel, die uns seit den 90er Jahren täglich in Talkshows und Videoclips beschert werden, klingt das alles nicht besonders aufregend. Doch damals schlugen die Sex Pistols ein wie eine Bombe. Sie kassierten von ihren wechselnden Plattenfirmen mehr Geld dafür, dass sie auf vertraglich vereinbarte Veröffentlichungen verzichteten, als für verkaufte Platten. Als im Juni 1977 die zweite Sex-Pistols-Single „God Save The Queen“ die Top Ten der britischen Charts eroberte, dokumentierte in den Aushängen der Plattenläden nur ein weißes Feld die jeweilige Position der Single. Im Radio oder im Fernsehen durfte der Song nicht gespielt werden. Ein Fernsehtalkmaster, der die Sex Pistols in seine Show einlud, fand seinen Redaktionsschreibtisch am Morgen nach der Sendung von einem anderen besetzt vor – seinem Nachfolger. Tourneen der Sex Pistols wurden verboten, sodass sie unter Pseudonym auftreten mussten, Bandmitglieder wurden auf der Straße zusammengeschlagen und von der britischen Polizei verhaftet. In einem Land, in dem schon das Tragen eines T-Shirts mit der Aufschrift „Fuck“ zur Inhaftierung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses führen konnte, war es wirklich nicht schwer, aufgeregte Reaktionen zu provozieren. Und die Sex Pistols, vor allem ihr Schöpfer und Manager Malcolm McLaren, verstanden ihr Geschäft. So wurde eine Kellerband, die wie die meisten Rock’n’Roll-Bands kaum mehr wollte als Sex, Drogen und Action, zur Initiatorin eines neuen „Way of life“ für Hunderttausende von Jugendlichen in aller Welt.

KEVIN RICHARD RUSSELL

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Geb. am 12. Januar 1964 in Hamburg-Rahlstedt.

Erlernter Beruf: Schiffsmechaniker.

Geschwister: 1 Bruder, Kai (Jahrgang 1961), 1 Schwester. Der Vater, ein Brite, arbeitete als Pilot bei der Lufthansa, die Mutter war Hausfrau. Eigentlich keine schlechten Voraussetzungen für eine heile Mittelschicht-Welt, doch die Realität hinter den Gardinen sah anders aus. Der Vater war ständig unterwegs, die Mutter hatte zu trinken begonnen, die harten Sachen. Kevin und Kai mussten sie regelmäßig bei einer Nachbarin oder sonst wo einsammeln und nach Hause bringen. War der Vater ausnahmsweise einmal zu Hause bei der Familie, gab es Krach, Geschrei und für Kevin nicht selten Prügel, „mit Gürteln, mit Holzlöffeln oder mit der Faust, wie es sich gerade ergab.“ (Hartsch 1997, S. 25)

In der Schule war auch Kevin keine Leuchte: Er ging zwar zeitweise auf die Realschule, packte es aber nicht und versuchte schließlich, über ein Berufsgrundschuljahr in einer Elektrofachschule wenigstens den Hauptschulabschluss zu bekommen.

Im Frühjahr 1977 verließ die Familie Russell die Großstadt Hamburg und ließ sich im beschaulichen Hösbach in Bayern nieder. Vielleicht ein letzter Versuch, die Familienverhältnisse durch einen radikalen Orts- und Bekanntenkreiswechsel in ruhige Gewässer zu überführen. Es sollte nicht gelingen. Ein Jahr später bekamen die Russells neue Nachbarn. Gleich nebenan zog eine Familie Weidner ein.

BÖHSE ONKELS

Es konnte nicht lange dauern, bis die drei zueinander finden würden. Außenseiter finden sich immer. Im Sommer 1978 besuchten Pe und Stephan dieselbe Schule, Kevin ging auf die Realschule gleich gegenüber. Stephan fand schnell Freunde. Denn er verfügte über einen Schatz, einen Partykeller, in dem sie tun konnten, was immer sie wollten. Dort saßen sie bald jeden Abend herum: Stephan, Pe und Kai Russell. Kevin, der kleine Bruder, gehörte anfangs noch nicht dazu, wurde da noch nicht für voll genommen. Doch „Kevin hatte Potential“, fand man bald heraus. „Wann immer es darauf ankam, große Mengen Bier zu trinken oder viel Scheiße zu erzählen, gab sich Kevin die größte Mühe mitzuhalten.“ (Hartsch 1997, S. 25) Und Bier trinken und „Scheiße labern“ war nun einmal die Hauptbeschäftigung der Keller-Gang. Und Punk natürlich. Auch Kevin war längst infiziert. Seine olivenfarbene Army-Jacke, die er Tag für Tag trug, hatte ein Einschussloch auf dem Rücken, darüber das magische Wort: PUNK. Wie die anderen trug er sein Haar inzwischen wieder kürzer und reicherte es mit Seife an, damit es so wild vom Kopf abstand, wie sie es bei Johnny Rotten gesehen hatten.

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Onkelz-Fanparty 1999