Alfred Döblin
November 1918
Eine deutsche Revolution Erzählwerk in drei Teilen. Zweiter Teil, Zweiter Band: Heimkehr der Fronttruppen (Fischer Klassik PLUS)
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel
Alfred Döblin
Gesammelte Werke
Herausgegeben von Christina Althen
Bd. 15.3
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: ›Heimkehrende Frontsoldaten in Berlin‹/bpk
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402780-7
Um den 8. Dezember 1918
Die Erde hat einen Ort in der Gerechtigkeit
Der »Goethebund« und der letzte Reichstagspräsident erheben sich aus ihrer Residenz, dem Mülleimer. Der Rat der Geistigen tagt und Dichter singen. Aber über den Ozean kommt Woodrow Wilson gefahren, um das Chaos Europas zu beenden.
Die Zeit war wie ein Heizkasten über diese Welt gestellt und trieb sie, sich zu dehnen und von sich zu geben, was sie in sich hatte.
Die Welt, brüllend von Realitäten, an tausend Stellen gleichzeitig Tatsachen ausschwitzend, wäre nicht diese Welt gewesen, wenn sie nicht durcheinander burleske, tragische und reine Gestalten ans Licht gestellt hätte.
Da wackelte Anfang Dezember 1918 ernsthaft der letzte Präsident des kaiserlichen Reichstags an, namens Fehrenbach, und meinte: das Nächstliegende, um die Übel der Zeit zu reparieren, sei, den alten Reichstag wieder einzuberufen. Es war seine Meinung; er äußerte sie.
Seine Unruhe griff auf den sogenannten »Goethebund« über, der einmal im kaiserlichen Deutschland gegen Theaterzensur gekämpft hatte. Grünlichweiß angelaufen, mit Schimmel bewachsen, raffte sich der »Bund« auf, verließ seine Residenz, einen Müllhaufen, und hinkte an das grelle Tageslicht. Nachdem er gebeten hatte, den Geruch, den er von sich gäbe, mit den Umständen zu entschuldigen, krächzte er: Er sei jedem Chauvinismus abhold, aber bei der jetzigen Situation müßte er es als eine Würdelosigkeit empfinden, wenn ein Berliner Theater ein französisches Stück auf den Spielplan setze, »ohne dafür ein höheres Kunstinteresse geltend zu machen«.
Worauf der »Bund« sich wieder in seine Residenz zurückzog.
Eine große öffentliche Versammlung veranstaltete der Rat der geistigen Arbeiter in den »Prachtsälen des Westens«. Sechs Referenten sprachen über »Geist der Revolution«. Zum Schluß gingen alle, Referenten und Publikum, bekümmert nach Hause. Es hatte sich nichts ergeben.
Es sangen aber die Dichter.
Der Maler Meidner sang: »Dichter und Bänkelsänger der Tavernen und Jahrmärkte, der Bars, Kabaretts und Spelunken.
Und ihr, die ihr religiöse Traktätchen schreibt, Poeten der Heilsarmee, Herrnhuter, Quäker, Adventisten, Zionisten und ihr famosen Verfasser sozialistischer Flugblätter, Aufwiegler und Anarchisten, deren Dichtungen bei Morgengrauen Armen unter die Stubentüren geschoben werden.
Ihr, die ihr kommunistische Manifeste, Marseillaisen und Internationale dichtet und wenigstens für eine halbe Stunde die Ohnmacht der dunklen Scharen mit freudigen Blitzschlägen tilgt – und zum Schluß ihr Verabscheuer der Zeit, ihr wahrhaften Dichter und Menschen, ihr Gottesstreiter dieser Tage, einsam treibend und tief geknechtet. – Euch Allertreuesten sende ich meinen menschenbrüderlichen Gruß.«
Der Dichter Hasenclever: »Von Firmamenten steigt der neue Dichter/Herab zu großen und größeren Taten./Der Dichter träumt nicht mehr in blauen Buchten./Er sieht aus Höfen helle Schwärme reiten./Sein Fuß bedeckt die Leichen der Verruchten./Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten./Er wird ihr Führer sein./Er wird verkünden./Die Flamme seines Wortes wird Musik./Er wird den großen Bund der Völker gründen./Das Recht des Menschentums./Die Republik.«
Johannes R. Becher: »Stürzt, hinstürzt, Azur. Ha, Bomben, Barrikaden, Feuer. Stürmt jetzt, Platz, Krawalle, Trommeln, Blitz aus Nüstern und Röhren speit. Streckt euch, los. Unendlich Schwellen, Funken schäumend ebben, Zitadellen. Täter Mensch. Gelobt. Unsterblichkeit.«
Aber schon war von Amerika unterwegs der Präsident Woodrow Wilson, ein zweiundsechzigjähriger Mann. Er fuhr auf dem Schiff »George Washington«, begleitet von dem Kreuzer »Pennsylvania« und fünf Torpedobootzerstörern. Er wurde für den 13. Dezember in Brest erwartet, wo ihm neun amerikanische Dreadnoughts und dreißig Torpedobootzerstörer entgegenfahren sollten.
Amerika näherte sich dem wirren, verkrampften und kranken Mutterland.
Es war im Jahre 1620, kurz nach Ausbruch des Europa vernichtenden und entvölkernden Dreißigjährigen Krieges, da faßten englische Puritaner den Entschluß, diesem Erdteil, der nur Unfreiheit und Gier kannte, den Rücken zu kehren und sich auf dem fernen Land jenseits des Wassers niederzulassen.
Ein Sturm trieb ihr Schiff, die »Mayflower«, im November 1620 an die Granitküste von Massachusetts. Sie fühlten schon hier die Notwendigkeit, zu formulieren, was sie wollten, nämlich »sich vor Gott, und vor keinem sonst als vor Gott, zu vereinen zu bestimmten gemeinsamen Zielen«.
Sie gründeten einen Monat darauf, am 23. Dezember, die Stadt Plymouth. Sie legten in einem von allen Pilgrimvätern gezeichneten Kontrakt nieder, daß sie »gleiche Gesetze für alle anerkannten und von jedem Unterwürfigkeit unter die Gesetze der Gemeinschaft verlangten«. Und wenn auch alles im Beginn schwierig sei, so wollten sie die dauernde Verbesserung der Gesellschaft im Auge behalten.
Sie waren Männer, die dem Christenglauben anhingen. Aus ihm stammte ihr Gefühl für ein verantwortliches Leben, für das sie völlige Unabhängigkeit beanspruchten, und keine Staatsgewalt dürfte sie in seiner Ausübung beirren.
Die Kolonisten von Plymouth traten mit anderen Kolonisten in Verbindung und schlossen mit ihnen einen Bundesvertrag. Die Kolonien entwickelten sich, und im Jahre 1754 faßten sie den Plan, sich zu vereinen. Es war der große Jefferson, dessen reiner Wille den Triumph vieler Kriegshelden überschattet wie ein einziger Engelsflügel die Abgründe der Hölle, der die Erklärung der Vereinigten Kolonien redigierte:
»Der Respekt, den wir unserm großen Schöpfer schulden, das Prinzip der Menschlichkeit, die Stimme des Gemeinsinns müssen alle überzeugen, die darüber nachdenken, daß die Regierung eingesetzt worden ist für das Wohl der Menschheit und geregelt werden muß im Hinblick auf dieses Ziel.«
Sage noch einer, der diese Worte liest, daß Religionen betäuben und daß aus ihnen nicht der tiefste menschliche Stolz wachsen kann.
Vertreter der dreizehn Vereinigten Staaten, Nachkommen der in die Erde gesunkenen Pilgrimväter, verkündeten 1776:
»Wir sind der Meinung, daß diese Wahrheiten durch sich selbst evident sind, daß alle Menschen gleich geboren werden, daß sie von ihrem Schöpfer gewisse unverbrüchliche Rechte empfangen, zu denen gehören: das Leben, die Freiheit, das Recht, Glück zu suchen und zu finden. Um diese Rechte zu sichern, sind Regierungen, welche ihre wahren Vollmachten von der Zustimmung der Regierten ableiten, unter den Menschen eingerichtet worden.«
So großartig war der Samen aufgegangen, den Gott vor achtzehnhundert Jahren im Lande Palästina unter der Gewaltherrschaft römischer Cäsaren geworfen hatte. Es sollte im neunzehnten Jahrhundert einem deutschen Philosophen überlassen bleiben, zu lehren: das Christentum leite einen Sklavenaufstand ein und entstelle das Gesicht der Menschheit und nur die »blonde Bestie« könne retten.
Die amerikanische Erklärung aber begann stolz:
»Wir Volk der Vereinigten Staaten, in der Absicht, eine wirkliche Union zu bilden und die Gerechtigkeit herrschen zu lassen, den inneren Frieden aufrechtzuerhalten, Maßnahmen zu unserer gemeinsamen Verteidigung zu fassen, der Sache des Allgemeinwohls zu dienen und die Wohltat der Freiheit für uns und unsere Kinder zu sichern, befehlen und richten ein diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.«
Sie duldeten später nicht, daß sich ein Teil von ihnen löste. Einer ihrer großen Präsidenten, Andrew Jackson, richtete 1832 eine Erklärung an Südkarolina: »Die Konstitution der Vereinigten Staaten hat eine Regierung und nicht eine Liga errichtet. Es ist eine Regierung, in der das ganze Volk organisiert ist, und die direkt auf das Volk wirkt und nicht auf die einzelnen Staaten. Kein Staat hat das Recht der Trennung. Zu sagen, daß jeder sich trennen kann, das heißt behaupten: die Vereinigten Staaten umfaßten keine Nation.«
Und so verteidigte Lincoln die Einheit.
Woodrow Wilson war aus schottisch-irischem Blut. Sein Großvater war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus England gekommen und hatte sich eingesenkt in die junge Demokratie, die bekannte, daß jeder Mensch in sich die Kraft besitze, alle göttlichen Gesetze zu begreifen und die Ordnung zu erkennen, deren Teil er sei. Des Präsidenten Wilson Großvater, in Philadelphia und Pittsburgh ansässig, wurde zum Richter ernannt. Er war Druckerei- und Zeitungsbesitzer. Sein Sohn wurde Pfarrer, und dessen Sohn war Woodrow, der als Student über Pitt schrieb, den Engländer, der den Widerstand gegen den modernen Tyrannen und Vergeuder der Kraft seines Volkes, Napoleon, organisierte. Wilson wurde Leiter der Universität Princeton, die er lieber verließ, als die zwölf Millionen anzunehmen, die man ihm bot, wenn er von seiner Unterrichtsreform absähe. Als Gouverneur des Staates New Jersey war er ein strenger Reiniger der politischen Sitten. Man wählte ihn zum Präsidenten der Republik.
Als am 5. Juni 1914 eine Schiffsschule in Annapolis eingeweiht wurde, sagte er den jungen Menschen: »Wenn ich unsere Fahne betrachte, so scheint mir, daß die weißen Streifen die Pergamentbänder sind, auf denen die Menschenrechte geschrieben stehen, die roten aber die Flüsse Bluts darstellen, durch die sie erkauft sind. In dem kleinen Stück Firmament schließlich zeigen sich die Sterne der Staaten der USA. Und da haben wir sozusagen entfaltet die Charte, die uns vererbt wurde von jenen Männern, die einstmals in Runnymede erklärten: ›Wir lehnen es ab, Herren anzuerkennen. Wir wollen ein Volk bilden und unsere eigene Freiheit erobern.‹«
Das Volk wurde in den europäischen Krieg von 1914/18 gerissen. Die Deutschen hatten eine neue Waffe, die Unterseeboote, entwickelt und versenkten, was ihnen in die Quere kam.
Sie stießen auf die USA.
In Baltimore erhob Wilson seine Stimme:
»Auf die Herausforderung Deutschlands gibt es nur eine einzige Antwort: Gewalt, Gewalt bis zum Ende, Gewalt ohne Einschränkung und Grenze. Die Kraft, welche Würde besitzt, wird triumphieren, die Kraft, die aus dem Recht das Weltgesetz schafft und alle egoistischen Regierungen in den Staub schmettert.
Kann eine Militärmacht oder eine Gruppe von Nationen das Los der Völker bestimmen, über die sie kein anderes Recht haben als das der Gewalt? Sollen mächtige Nationen schwache unterwerfen dürfen? Sollen Völker weiterhin den Willen anderer ertragen müssen und nicht ihre eigene Stimme geltend machen können? Wird man ein gemeinsames Ideal für alle Völker verwirklichen, oder wird der Mächtige fortfahren zu handeln, wie er will, und ungestraft den Schwachen quälen? Darf man Forderungen auf Recht willkürlich beiseite schieben, oder sollen Abmachungen gelten, die eine Verpflichtung zum Recht auferlegen?«
Es war am Independence Day von 1918, da wallfahrtete der Präsident zum Grab Washingtons am Mount Vernon – auf den französischen Schlachtfeldern lagen schon zehntausend amerikanische Leichen: »Wir kämpfen für die Vernichtung jeder willkürlichen Macht. Wir werden keine unbestimmte Lösung annehmen.«
Am selben Morgen defilierten in Paris auf der Place de Iéna vor Washingtons Denkmal die amerikanischen Sieger von Cantigny. Mit ihrem federnden Schritt zogen sie nach der Place de la Concorde herüber und grüßten die Statue von Straßburg.
Der Krieg war beendet. Das eine Ziel war erreicht: die Mittelmächte geschlagen. Die Erben der Pilgerväter hatten das ihrige dazu getan, Tyranneien in Europa zu brechen. Nun fuhr der Präsident auf dem »George Washington«; das Schiff trug die Sohneskraft nach Europa herüber.
Es sollte mit den Verderbtheiten des alten Erdteils zu Ende sein. Matt und zerrissen lag Europa da. Es nahte der Botschafter der Rechtlichkeit, des Gewissens, Vertreter des Landes, welches kein »geographisches, sondern ein moralisches Faktum« war.
Der Größe seiner Aufgabe war sich Woodrow Wilson bewußt.
Er war ein einsamer, in sich zurückgezogener Mensch. Eine schwere Bürde, fühlte er, hatte Gott auf ihn gelegt. Er war entschlossen, sie zu tragen. Er sprach auf dem Schiff zu seinen Begleitern:
»Wenn wir die Vollmachten, die die Menschheit uns gegeben hat, jetzt nicht sorgfältig handhaben, werden wir durch eigene Schuld und verdientermaßen vor aller Augen als die ärgsten Versager der Weltgeschichte dastehen.«
In seiner Seele lebte das Jahr 1620, das die stolzen Pilgrimväter aus Europa stieß, lebten die dreihundert Jahre ununterbrochenen freien Wachstums der amerikanischen Menschheit, die Grundsätze Jeffersons und Lincolns, die Toten seines Landes, die er dem Moloch Europas hatte in den Rachen werfen müssen.
Ein nervöses Zucken hatte seine linke Gesichtshälfte ergriffen. Seine Augen lagen unheimlich tief hinter ihren Brillengläsern.
Wilson wußte nicht, was ihn in Europa erwartete.
Kleine Geschichten und ein Liebeslied ohne Worte
Eine ältere Frau sitzt in Berlin-Gesundbrunnen in ihrer Stube und schreibt – weil es dunkel ist – am Fenster einen Brief an ihren Vater, der schon lange tot ist. Seit mehreren Jahren, seit es ihr schlecht ging, hat sich die Frau gewöhnt, in Gedanken mit ihrem Vater zu plaudern. Zuletzt hat sie begonnen, ihm heimlich zu schreiben, die Briefe legt sie sorgfältig in die Kommode in ein besonderes Fach.
Sie schreibt und weint manchmal, dann legt sie den Bleistift auf das Fensterbrett und wischt sich die Augen.
»Ich habe mich mit meiner Schwester Emma überworfen. Die Schwester hat nämlich eine Tochter, die du nicht kennst; die ist jetzt zwanzig Jahre und hat mir alles erzählt. Die verkehrt mit einem Fabrikbesitzer, und der will uns allen eine Stelle verschaffen. Vorher hatte sie einen Staatsanwalt mit einer Vierzimmerwohnung, das hat Emma erlaubt. Jetzt will sie die Tochter bei sich behalten, mein Mann, der staunt. Ich hab’ immer zu meiner Schwester gehalten, aber ich hab’ auch immer viel von dem Mädel gehalten. Meinen Mann haben sie entlassen, weil keine Arbeit ist, er bezieht Unterstützung, aber wenn er stempeln geht und bleibt fünf Minuten länger, bin ich schon fertig. Zwei Jahre hat das Mädel bloß mit reichen Leuten verkehrt, in ihrem Haus in Sanssouci wohnt der Fabrikbesitzer, der uns allen eine Stelle verschaffen will, das Mädel lügt nicht, und fertig ist der Lack. Der Mann erfährt es vielleicht noch von anderen Leuten, was Emma Schlechtes über ihn erzählt, das stößt ihn ab. Das Mädel ist doch nicht anormal? Aber Emma macht uns alle verrückt.«
Ein Mann war Lehrer in einer Privatschule. Er hatte zwei Kinder. Er und seine Frau waren nicht jung, die Schule ging zurück, das Gehalt wurde gekürzt, die Familie konnte von dem Gehalt nicht leben. Da wurde eines Tages eine Stelle bei der städtischen Fürsorge ausgeschrieben, er las es im Magistratsblatt und gab es ihr zu lesen. Sie sagte, sie könnte das nicht machen, sie hätte nichts gelernt, man würde sie abweisen. Da sagte er, wenn sie sich weigerte, dann würde er es machen. Und da gab sie ihm alles, was er wollte, ihre Kleider, ihren Mantel und einen Hut, und sie puderte ihn selbst und zog ihm die Sachen an, daß sie ihm gut saßen. Er hatte ein junges feines Gesicht, trug nie einen Schnurrbart, und wenn er wollte, konnte er wie eine Frau sprechen, damit hatte er oft Spaß gemacht.
Wie er nun schmuck angezogen, sauber und bescheiden auf dem Bürgermeisteramt ankam, waren schon mehrere da, aber er wurde auch zugelassen und legte die Papiere seiner Frau vor. Sie redeten hin und her, weil er sonst keinen Ausweis hatte, über frühere Stellen und so. Er stand da, gab mutig Auskunft. Er kämpfte und dachte, was eine Frau kann, kann ich doch auch.
Aber da trat ein neuer Beamter herein, ein Vorgesetzter wahrscheinlich, besah sich die Papiere und betrachtete die Frau. Sie hatte so große Schuhe. Denn die Schuhe der Frau hatten dem Mann nicht gepaßt, es waren seine eigenen Schuhe. Da flüsterten die beiden Magistratsbeamten miteinander und baten die Bewerberin, sich zu setzen und den Hut abzunehmen.
Aber das konnte sie nicht, und das wollte sie nicht. Sie gaben aber nicht nach, und da fragte er, was sie ihre Haartracht angehe. Die Beamten wurden noch mehr mißtrauisch, sie bestanden darauf, und als die Bewerberin nach ihren Papieren griff und ging, schickten sie einen Kriminalbeamten hinter ihr her, der ihr noch im Gebäude den Hut abnahm, worauf die »Bewerberin« alles gestand.
Der Mann ging nach Hause. Eine Klage wegen Betrugs war ihm angekündigt. Er wollte sich ins Wasser werfen, weil er nun auch seine Stelle in der Privatschule verlieren würde.
Aber die Frau ging hinter seinem Rücken zum Direktor, gestand alles, und er durfte bleiben. Vielleicht, meinte der freundliche Herr, würde man auch auf der Fürsorge alles vertuschen, wegen der Umstände.
Hilde tat, als wollte sie nur über die Brücke gehen, um in Kehl Bekannte zu besuchen. Die Brücke war bewacht, man ließ sie mit ihrem Handkoffer zu dem Spaziergang herüber.
Und nun fuhr sie durch das verwirrte, von rückflutenden Soldaten überschwemmte Deutschland, dessen Städte unberührt und friedlich standen, in dessen Häusern die Menschen froren und hungerten, um gelegentlich mit Fahnen und Gesang auf die Straße zu ziehen.
Hilde weinte still in einer Ecke ihres Abteils. Wieder saß sie und fuhr wie bei Kriegsbeginn. Nahm es kein Ende?
Das Bild Bernhards, eines Wesens, das sich wand, nach ihr griff, wie eine Flamme zuckte und erlosch, tauchte in ihr auf. Sie schüttelte sich und biß sich auf die Lippen.
Sie wohnte in Berlin in einem kleinen Hotel am Anhalter Bahnhof.
Die riesige, graue und trübe Stadt war ihr unbekannt. Was geschehen sollte, wußte sie nicht.
Von einer ängstlichen Erregung wurde sie gleich am ersten Abend ergriffen. Die Spannung dauerte die Nacht und den ganzen folgenden Tag und wich erst nach einer schweren Nacht, in der sie gelähmt schlief.
Sie wußte nicht, daß an dem ersten Abend Bernhard im Zimmer von Frau Scharrel um Hilfe bettelte und in der Nacht starb.
Zwei Tage lang verfolgte sie die Finsternis, welche die ferne Tat über sie warf, der gequälte arme Geist, der nach ihr griff – bis sie sich vor der Hedwigskirche fand. Sie dachte, sie wäre zufällig hergelangt, um historische Bauwerke zu betrachten. Sie trat ein, betete und bettelte. Sie reinigte und besänftigte sich. Die Straßen und Museen Berlins waren großartig, aber was bedeuteten sie neben dem einen heiligen Gebäude, in dem sie als verlorener Mensch kniete, erst vor dem Kruzifix und dann lange vor dem Bild Marias. Die Liturgie, die die Wahrheit verkündete, summte. Dann brauste der Gesang: »Großer Gott, wir loben dich.«
Es war der Abend des 6. Dezember, die Stunde, wo sich die Massen aus den Germania- und Sophiensälen an der Chaussee- und Invalidenstraße stauten und fünfhundert Schüsse in sie fuhren – als sie die friedliche Königgrätzer Straße entlang in ihr Hotel ging, in das dunkle Zimmer trat, von dem sie gleich fühlte, daß es bald ihres sein würde.
Denn sie würde jetzt ihre Sachen ablegen, am Tisch aus der Schreibmappe einen Briefbogen ziehen und an einen Mann schreiben, dessen Adresse sie bei sich trug, auf einem Verordnungsblock des Lazaretts.
Sie schrieb. Und während sie schrieb, stand ihr alles bei, was sie in diese Stadt geführt und durch sie geleitet hatte.
Sie ging am nächsten Vormittag in ein verändertes Berlin. Weich und sicher ging sie ihren Weg.
Becker kehrte aus dem Lazarett zurück und zog an seinem Stock gemächlich die Straße entlang.
Er trug den grünen Soldatenmantel. Sie erkannte ihn von hinten. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen.
Als sie sich gefaßt hatte, holte sie ihn ein und rührte an seinem rechten Arm. Dann nahm sie ihn. Er schwankte wie vor einer Erscheinung. Ihr Brief war nicht angekommen.
Sie nahm ihm den Stock ab. Sie sprachen bis vor seinem Haus nicht.
Sie führte ihn, noch immer stumm, die Treppe hinauf. An der Tür mit dem Metallschild »Becker« wollte er klingeln. Sie hielt ihn zurück, umfaßte und küßte ihn auf beide Wangen. Er hatte ein unbewegliches Lächeln. Sie lief die Treppe herunter.
Er stand vor seiner Wohnungstür.
Er öffnete. Die Mutter arbeitete in der Küche. Er konnte in sein Zimmer schleichen. Da saß er, wie er war.
Die Mutter fand ihn im Mantel, mit Mütze. Sie schlug die Hände zusammen. Er sprach, während sie ihm beim Ablegen half.
Die Mutter: »Und, Friedrich, du freust dich nicht?«
»Merkwürdig. Du hast recht. Eigentlich müßte ich mich freuen. Aber warum tu’ ich’s nicht?«
»Das sieht nach dir aus, Friedrich. Du hast sie so gehen lassen.«
Während des Essens – er aß langsam, um seinen Kopf legte sich eine Wolke – kam der Briefträger mit Hildes Brief. Die Mutter las ihn vor.
Friedrich aber schwebte schon. Der »Dämon«, sein »Dämon«, wie er es nannte, nahte. Er stand, unter dem Vorgeben, müde zu sein, bald auf. Sein Gesicht fühlte er schon steif, die Dinge sah er wie hinter einem Nebel, er erkannte sie noch, aber mußte sich beeilen, durch die Tür in sein Zimmer zu gelangen, damit die Mutter nicht merkte, was mit ihm vorging.
Und wie er auf seinem Bett saß und die Mutter ihn zurücklegte, hielt ihn der Dämon umschlungen.
Becker fühlte seinen Körper, das Bett unter sich, sah die Zimmerdecke. Aber er war vom Stab des Dämons berührt und gebannt. Er lag in einer furchtbaren Spannung; alle Gedanken waren ihm genommen, an kein Ding kam er heran. Lampe war nicht Lampe, Buch nicht Buch, die Mutter nicht Mutter.
Hilflos lag er. Er konnte grade atmen und manchmal, nicht zu oft, die Lider schlagen, schlucken. Er machte kleine ringende Anstrengungen, um aus der Erstarrung zu kommen. Das Haupt der Gorgo blickte ihn an.
Die Mutter saß ängstlich bei ihm. Er wollte ihr sagen, sie möchte ihn lassen, aber seine Lippen öffneten sich nicht. Seine Qual, sein Grauen wuchs: jeden Augenblick konnte das Zimmer mit einem Donnerkrachen auseinanderbersten.
Endlich – ließ es nach. Der Dämon wandte sich, Beckers Lider wurden schwer, sein Gesicht weich, sein Hinterkopf erwärmte sich.
Die Müdigkeit kam. Während alle Gegenstände sich wieder näherten und zu sprechen begannen, sank das Dunkel über ihn. Seine Augen fielen zu.
Die Mutter saß bei ihm, als er erwachte. Er wurde sofort munter, und alles war vorbei.
»Du hattest im Schlaf ein solch glückliches Gesicht, Friedrich, wie ein Kind am Tag vor Weihnachten.«
»Hatte ich das, Mutter?«
»Nachher wird dich die Schwester Hilde besuchen. In ihrem Brief steht: um vier, wenn es dir recht sei. Ich soll sie doch annehmen?«
»Gewiß.«
»Wer ist sie eigentlich? Sah ich sie, als ich da war, im Juli?«
»Es ist möglich, vielleicht hast du sie gesehen.«
»Und sie hat dich gut gepflegt? Sie hat sich um dich gekümmert?«
»Um mich, um Maus, um uns alle. Sie war nicht Stationsschwester, sondern Verbandschwester. Sie kam zur Erneuerung der Verbände, zum Wundspülen und zu anderen Kleinigkeiten, die schrecklich weh taten.«
Er richtete sich auf. »Du mußt wissen, Mutter, wie das im Lazarett ist, wahrscheinlich in jedem Krankenhaus. Wer liegt und krank ist, kann sich da auf zweifache Weise wohl fühlen: einmal dadurch, daß er seinen Namen, sein Privates, seine Persönlichkeit verliert. Du liegst im Bett und bist eine Krankheit. Du bist ein Schädelbruch, ein Bauchschuß, eine Beckenfraktur. Das tut wohl. Mir haben junge Hilfsärzte im Lazarett erzählt, die moderne Medizin lege wieder Wert darauf, sich mit dem ganzen Menschen zu befassen. Ich halte das für keinen Gewinn. Man verschone mich mit meinem ganzen Menschen. Du liegst als eine Zahl unter Kameraden, denen es nicht besser geht. Und man behandelt dich sachlich. Der Blick des Hauptarztes fliegt ab und zu über dich. Du weißt: er kennt den Verlauf des Leidens. In den Krankheitsverlauf, der für alle gilt und der ihm bekannt ist, wirst auch du eingereiht.«
»Das ist nicht schön.«
»Das zweite – ist ganz anders. Da liegt man im Bett, und da gehen Gesunde herum. Das sind nicht bloße Heilpersonen, wie sie sich nennen. Es sind einfach Gesunde, Träger der Gesundheit, begehrte Wesen. Manchmal ist es auch nur eine Katze, die von der Küche hereinschleicht und sich unter das Fenster an die Sonne oder an die Heizung legt – oder ein frischer Blumenstrauß. Aber besonders sind es Menschen. Wenn sie Ärzte oder Schwestern sind, so liegt man da und lauert auf den Teil der Gesundheit, der Kraft, die sie abgeben sollen. Man ist Vampir. Man verehrt sie, begehrt sie, man liebt sie. Es geht ein ständiger Atem von Leben und Kraft von ihnen aus.«
»So war die Hilde?«
»Da habe ich dir ein merkwürdiges Kapitel aus meiner Krankenexistenz erzählt. Man glaubt, Kranker, Arzt und Schwester zu spielen. Aber ein geheimes seelisches Band umschlingt uns. Viele Ärzte und Schwestern ahnen es sofort, wenn sie die Krankensäle betreten. Darum treibt es sie eigentlich, glaube ich, zur Medizin. Die meisten bemerken es erst nach einigem Herumgehen zwischen den Krankenbetten. Da haben die Heilmethoden nur eine mittelbare Bedeutung. Die Ärzte verkaufen uns ein Eckchen ihres Gehirns, ihres Wissens, aber wir brauchen mehr, wir nehmen mehr.«
»Erzähl mir von ihr.«
»Sie ist wohl Anfang der Zwanzig. Ihr Vater soll Funktionär am Dombauamt in Straßburg sein. Sie stammt aus Straßburg.«
»Und weiter?«
Becker schüttelte wehmütig den Kopf: »Weiter nichts. Sie wird vielleicht hier arbeiten. Ich weiß nichts.«
Sie saßen zu dritt im Wohnzimmer. Hilde legte ihren dunkelblauen Mantel ab; sie trug ihr blauweißgestreiftes Leinenkleid, darüber eine weiße Schürze, einen weißen hohen Kragen, den vorn eine runde Brosche abschloß. Die kleine Haube auf dem gescheitelten Haar war mehr ein Schmuck als eine Kopfbedeckung.
Hilde sagte, sie denke in einem Reservelazarett zu arbeiten:
»Aber zuerst wollte ich, als ich nach Berlin kam, Sie sehen, Herr Oberleutnant, Sie haben uns damals soviel Sorge und Freude gemacht. Und jetzt bewegen Sie sich ohne Begleitung.«
Sie sprachen von Hildes Vater.
»Haben Sie keine Furcht, Ihren Vater allein zu lassen?«
»Oh, er ist stark, viel stärker als die meisten Menschen, die ich kenne.«
Sie legte die Hände in den Schoß und saß mit gesenkten Augen da. Als sie Bernhard vor dem Krieg begegnete, hatte sich ein Mensch in ihr erhoben – ein anderer erhob sich, als sie an der Front und in den Lazaretten arbeitete –, und jetzt sank sie in ihren Mutterboden, in mädchenhafte Sanftheit.
»Wie süß sie ist«, sagte die Mutter, als sie gegangen war. »Welches Lächeln, Gioconda, Mona Lisa.«
»Falsch wie Gioconda?«
Die Mutter: »Gioconda ist nicht falsch, sie ist so falsch – wie eben die Frau.«
Sie lachten herzlich zusammen.
»Das nenne ich ein Geständnis, Mutter. Und das sagst du so friedlich und freundlich. Gioconda, das ist die gnadenlose Grausamkeit, die Grausamkeit um ihrer selbst willen, die ihr Opfer anlächelt. Aber du bist doch nicht so, Mutter.«
»Eine Mutter ist nicht falsch.«
Becker strich sich das Kinn: »Mir ist vorhin auch das Geheimnisvolle, Unpersönliche an ihr aufgefallen.«
Er dachte nicht mehr an die Erscheinung, die ihn von der Straße die Treppe hinaufbegleitete, sondern an die süße Hilde, an das Glück, das sich im Lazarett auf ihn warf.
Die Mutter betrachtete ihn: »Du hast mir erzählt, sie war eure gemeinsame Pflegerin, deine und Maus’. Wie verhielt sich Maus zu ihr? Hat er dich um sie beneidet?«
Becker: »Er liebte sie. Ich dachte, sie ihn auch. Er ist ja so ein kräftiger, grader Mensch. Da kam sie zu mir, am Tag vor der Auflösung des Lazaretts. Ich lag noch hilflos.«
»Da kam sie zu dir.«
»Ich habe es Maus nicht erzählt. Er würde es nicht verstehen. Er liebt sie so heftig. Und ich glaube auch nicht, daß sie es ernst mit mir meint – ich weiß nicht, was eigentlich mit ihr ist.«
Die Mutter schlug die Arme übereinander und sah zum Fenster hinaus: »Du bist und bleibst mein alter Friedrich. Du verdrehst den Mädeln den Kopf und machst dir eigentlich nicht viel aus ihnen. Nun kommt sie doch zu dir. Vielleicht kommt sie deinetwegen aus dem Elsaß.«
»Ich hoffe nicht.«
»Hast du ein – Gefühl für sie?«
»So etwas wie Maus nicht. Nein. Sie stellt für mich eine Kraft, einen gewissen Einfluß dar, wodurch etwas in mir verändert wird. Ich will einmal Krug fragen, ob man diese Dinge nicht physikalisch auffassen sollte. Er hat mir einmal etwas von der Klimaveränderung auf der Erde erzählt, die unter irgendwelchem fernem astronomischem Einfluß vor sich ginge. An so etwas denke ich, wenn sie sich mir nähert. Die Veränderung der Atmosphäre in mir registriere ich – als ›Gefühl‹. Vielleicht läßt sie auch in mir neue Pflanzen und Tiere entstehen.«
»Das ist furchtbar, Friedrich. Du kannst nicht ernst bleiben.«
Friedrichs Gesicht war noch immer unheimlich schmal. Der Mutter ging durch den Kopf: Wie merkwürdig die Neigung des jungen, blühenden Mädchens zu ihm. Becker zeigte lächelnd auf das Zimmer:
»So kommt eins nach dem andern. Erst vergrabe ich mich in mein Inneres und bearbeite mich mit einem Dolch, den meine Seele sich geschmiedet und gehärtet hat. Dann – lasse ich den Dolch fallen, hole meine alten Büsten wieder hervor, nehme den Vorhang von meinen Büchern. Und nun schwirrt zu mir aus dem Wald ein Vogel, setzt sich nieder auf meinen Fuß.«
»Kein Vogel, Friedrich. Und nicht auf den Fuß.«
»Meinst du wirklich: mein Herz? Im Krieg hatten wir Ferien vom Ich. Sind meine Ichferien vorbei?«
Sie zog die Vorhänge zu, steckte Licht an, machte ihm sein Sofa zurecht.
Er legte sich auf die Seite und hielt sich ein Buch vor die Augen. Sie strickte am Tisch.
Er gab sich dem Wohlgefühl hin, das ihn plötzlich befallen hatte.
So ist die Welt, ausgegossen in Zeit und Raum. Sie hat Zeit und Raum als ihren Mantel um sich gezogen, hat die Kapuze hochgeschlagen und geht ihres Wegs.
Aber wenn sie auch Millionen Jahre geht, sie entfernt sich nicht von ihrem Ursprung.
Die Welt ist wie ein Bumerang, ein Ball in der Hand eines Kindes. Der Ball ist mit einem Gummifaden befestigt, das Kind wirft den Ball, er fliegt in den Raum, aber schon hat es ihn wieder in der Hand.
Aber es ist nicht die Hand eines Kindes, die uns wirft.
Und als er in der Nacht erwachte, hatte er geträumt, und die Gedanken, die er erhaschte, waren die letzten Glieder einer Kette, die der Traum wieder an sich genommen hatte.
Und er fand sich vor dem Wort: »Dies ist eine Sohneswelt« – ein Satz, zu dem er aufsah wie zu der Schneekuppe eines fernen Berges.
Hilde strahlte am Vormittag. Die Mutter ließ sie mit Friedrich allein. Die Augen der Mutter sagten an der Tür: »Wie süß sie ist. Welch Lächeln, Gioconda.«
Er betrachtete Hilde. Sie ist Landschaft, Hügel, Fluß, reifes Ährenfeld, See. Welche Worte müßte ich finden, um sie zu nennen. Welche Lawinen stürzen aus diesen blonden Haaren auf mich.
Ein Mensch in ihr wollte eine Hand auf seinen Mund legen. Ein anderer Mensch ließ diese Hand in seinen Nacken gleiten und da liegen. Sie nahm die Worte, die aus seinem Mund kamen, tiefatmend an wie die Bienenkönigin das ausgewählte Futter, das man vor sie legt, die Nahrung, die ihr zukam.
Sie horchte mit vielen Gehören, sprach mit mehreren Stimmen. Er saß auf dem Sofa neben ihr, hielt ihre Hand und sah sie an. Ja, sie hatte einen mildsüßen Ausdruck, ein völliger Zauber.
Und wie sie neben ihn rückte und ihre Gesichter sich näherten, klang vieles in ihr auf und machte sie stark und wahr.
Da war die kleine geraubte Viertelstunde, im Garten der Tante, mit ihrem Vetter, es war Regen, sie waren in die Laube geflüchtet, hatten gespielt und sollten eigentlich ins Haus kommen, wie alt war ich da, zwölf oder dreizehn, er vierzehn, wir küßten uns, er liebte mich schon lange, oder ich werde wohl schon etwas älter gewesen sein, und dann rief uns die Tante, und als wir uns nicht meldeten, kam sie mit dem Regenschirm.
Und dann später der Zeichenlehrer, der junge Stellvertreter, das war gefährlich. Er war solch Anfänger wie ich, obwohl er zehn Jahre älter war. Da gingen wir bei einem Ausflug auf die Hohkönigsburg abseits und verirrten uns, aber wir wußten schon, was wir wollten, nur nicht genau, wir hatten beide schon viel gelesen, und er war Zeichner und kannte den menschlichen Körper. Und da konnte, während die andern oben weiterstiegen und gar nicht merkten, daß wir fehlten, da konnte leicht bei uns vieles von dem geschehen, was wir gelesen hatten. Das fühlte er und ich, und darum liefen wir so, teils, um es zu tun, und teils, um es nicht zu tun. Und dann hatte mit einmal einer fest die Hände des andern. Das kam so rasch und selbstverständlich, als wenn einer nur der Spiegel vom andern war – und dann die Münder gegeneinandergeführt, als wenn man sich einer Wasseroberfläche nähert. Und die Lippen trafen sich, aber das waren andere Lippen, und dann noch die Arme um den Hals des andern gelegt, und das Gesicht des einen so heiß wie das andere, und das war viel und war grenzenlos viel und genug. Unten zitterten mir die Knie, und wir liefen auseinander, ich vorauf, bis wir auf den Weg kamen, wo ich rief und die von oben antworteten und winkten.
Und dann sank Hilde in die Zeit zurück, wo sie ihren kleinen Bruder zu beschützen hatte, der nicht mehr lebte, er war mit fünf Jahren gestorben, und sie war acht Jahre alt, und er machte ein gutes, erwartungsvolles Gesicht jetzt.
Und da prüfte sie, Auge nur handbreit von Auge entfernt, Becker, seinen Ausdruck, seinen Kopf, seine Haare, seine Ohren. Denn jetzt hatte sich eine noch ältere Zeit in ihr gemeldet, und aus ihr trat, wie aus einer Waldeshöhle, das äugende Muttertier hervor, die Hirschkuh, und beobachtete die Männchen, die um sie sprangen. Ich will auf dich bauen, willst du mir behilflich sein beim Bau meines Nestes. Wirst du mich beschützen, wenn die Jungen kommen, so will ich dich zum Vater meiner Kinder, so will ich dich.
Als sie die Augen schloß und sein Bild in sich aufgenommen hatte, sah sie eine schöne reiche Landschaft, sie wußte nicht, wo es war, der Regen hatte nachgelassen, Nebel lag auf dem Hügel, man sah einen erhellten Himmel, und in dem schönen weichen schmiegenden Dunst begannen die Farben eines Regenbogens zu spielen.
Als sie gehen wollte, sagte Becker: »Heute kommt Maus zu mir.«
»Ihr seht euch noch oft, Friedrich?«
»Wir sind befreundet. Er hat mir auf der Fahrt von sich erzählt. Wie er dich liebt.«
»Was hat er erzählt?«
»Er quält sich so. Er sehnt sich nach dir.«
»Warum macht er sich das Herz schwer?«
Wäre sie eine andere gewesen, ein früherer Mensch, so hätte sie jetzt die Augen auf Becker gerichtet, ängstlich oder grausam lüstern. Aber sie war diese Hilde, und das mit Maus hatte ein anderes Wesen, mit dem sie unter einem Dach hauste, getan und erlitten.
Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern, schüttelte den Kopf, ihre Mundwinkel zuckten, während ihre Augen in seine blickten:
»Was ich mit Maus hatte, muß dir nichts ausmachen, Friedrich. Man muß mit vielem ein Ende machen, wenn man leben will.«
Als sie die Treppe hinunterging, saß er an seinem Schreibtisch, und sein eigenes Wort von den beendeten »Ichferien« fiel ihm wieder ein.
In welches Abenteuer gehe ich. Welchen Felsblock soll ich jetzt wälzen? Der Krieg war eigentlich eine leichte Sache. Ich hoffte auf den Frieden, den wahren Frieden, und ich will ihn auch, und man soll sich, da man Mensch ist, durch nichts hindern lassen, ihn zu suchen. Und da kommt das über mich und will mich aus dem Gleis bringen. Ich soll auf die Probe gestellt werden. Welche Macht schickt sie mir, eine gute oder eine böse?
Er blickte sich im Raum um. Gut, daß ich die Büsten wieder aufgestellt habe und daß der Vorhang vom Bücherregal weg ist. Da stehen sie, Sophokles, Kant, und die Bücher mit den stolzen Namen. Sie haben nicht nachgegeben die Jahrtausende hindurch, im Kampf für das Menschliche, Göttliche. Wir sind immer wieder zurückgeworfen worden. Immer wieder haben sie den Kampf aufgenommen.
Wer ist diese Hilde, die mich aufsucht?
Aber während er so saß und innerlich zitterte und wieder an Hilde, die Traumerscheinung, dachte, die sich auf der Straße zu ihm gesellte, da wußte er noch nicht, wie sehr seine Ichferien zu Ende waren.
Es sollte nicht nur mit der Ruhe seines Ichs zu Ende sein, sondern mit diesem Ich selber.
Sie ging unten langsam die Straße entlang. Hier hatte sie ihn getroffen, genau wie sie es erwartet hatte. Er ging vor ihr. Sie holte ihn ein. Aber dann nahm sie ihn beim Arm.
Sie drückte den Blumenstrauß, den ihr die Mutter gegeben hatte, ans Gesicht.
Brennender Liebesschmerz. Man sucht Trost in einer Volksversammlung. Redner trinken Bier und sprechen Jauche. Wenn die Not groß ist, helfen auch Klassiker nicht.
Maus erschien noch vor Tisch.
Er kam auf Becker zu und umarmte ihn: »Ich hab’ sie gesprochen, vor einer Stunde. Sie suchte auf der Straße unser Haus. Sie hat mir alles erzählt. Wir saßen am Bayrischen Platz in einem großen leeren Café, ganz allein. Ich war glücklich. Ich bin selig, Becker, du kannst mir glauben. Ich kann ganz verstehen, daß sie dich liebt.« »Mein Junge«, murmelte Becker verwirrt.
»Geweint habe ich ein bißchen, die Aufregung und die Freude, daß sie mir verzeiht. Sie hat mir nichts krummgenommen. Ich freue mich, daß du sie hast.«
Und er zog aus der Westentasche ein kleines Blechetui und drückte es Becker in die Hand: »Für dich. Es soll dir Glück bringen. Ich hab’ es im Krieg getragen.«
Das kleine Metalletui ging nicht auf, sie lachten beide. Schließlich nahm Maus, der in zittriger Erregung war, sein Taschenmesser:
»Das muß man behandeln wie eine Auster«, und schob das Messer in eine Spalte, mit Mühe zerrte er die beiden Platten auseinander und machte ein verblüfftes Gesicht. Dann brach er in ein Jungengelächter aus: »Nichts drin. Ich habe es während des ganzen Krieges getragen, und als ich verletzt wurde, dachte ich, es wäre ein Glückstierchen drin, ein kleiner Elefant aus Elfenbein. Es ist gar nichts drin. Und das wollte ich dir schenken.«
Sie lachten und lachten.
Becker: »Ja, wieso bist du nun eigentlich am Leben?«
Maus: »Nicht wahr, gänzlich ohne Grund.«
Becker blickte in die leere Hülle: »Ich steck’ es ein, wenn du erlaubst. Das leere Etui sagt: Du sollst keine fremden Götter anbeten.«
Sie setzten sich.
Maus: »War sie hier oben?«
»Natürlich.«
»Sie ist herrlich, nicht wahr? Viel zu gut für mich. Schon nach zehn Minuten, als sie neben mir saß, merkte ich: es war ja alles Unsinn, was ich dachte. Ich wäre neben ihr ein kleiner Junge gewesen.«
Maus’ Unterlippe zitterte. Er stand rasch auf, ging ans Fenster. Er stand da eine Weile stumm. Zuletzt stampfte er auf, knirschte mit den Zähnen und kam schnalzend mit sehr festen Schritten zu Becker zurück. Er setzte sich aufrecht an den Tisch.
Maus begann von den Vorfällen des 6. Dezember zu sprechen und von dem »Ding«, seinem Kameraden. Der liege im Krankenhaus, schwerverletzt. Er habe ihm in die Hand geschworen, bei der Sache zu bleiben, aber dieser Schwur sei ganz überflüssig, er bliebe schon so. Ob Becker sich gesund genug fühle, um draußen, in Versammlungen oder Privatunterhaltungen, etwas zu hören.
»Du weißt, Maus, wie ich zu Politik stehe.«
»Du kommst damit nicht weiter, Becker. Und selbst, wenn du recht hast, taugt dein Standpunkt nicht. Es geht so nicht. Ich kann es nicht ertragen, zu wissen, daß du hier sitzt. Wenn du krank bist, ist es eine andere Sache. Aber daß du nein sagst …«
»Warum quält dich das, Maus?«
»Weil man dich braucht. Man braucht jetzt jeden Menschen, und dann noch einen wie dich. Du hast dein Blut hingegeben, draußen. Wir sind es uns und den Toten schuldig – du kennst die armen Kerle, die gefallen sind, wofür denn? Doch nicht, damit die alten Schurkereien von vorne anfangen. Wir sind ihre Erben, ihre Testamentsvollstrecker. Der Tod von Millionen muß ein Resultat, Konsequenzen haben. Wir, die mit dem Leben davongekommen sind, sind die Nächsten, um Konsequenzen zu ziehen. Und du mußt sehen, wie die andern arbeiten, damit es keine Konsequenzen gibt. Du müßtest sie in der Stube bei meinem Vater sehen. Wenn ich da die alten eisigen Schurken treffe, wie sie konspirieren, so könnte ich sie alle gleich totschlagen. Und es wäre das beste, sie alle totzuschlagen. Und bevor sie nicht totgeschlagen sind, wird keine Ruhe sein. So lange treiben sie ihre Schurkereien weiter, lassen auf der Straße friedliche Leute, die protestieren wollen und ohne Waffen gehen, niederschießen. Menschenleben ist gar nichts.«
»Was soll ich also?«
Maus streichelte seine Hand: »Ich will dir nicht weh tun, und wenn du nicht gehen kannst, sag es mir.«
»Was soll ich?«
»Geh mit mir in eine Versammlung. Du sollst Menschen, die und jene, an Ort und Stelle sehen. Es wird dir leicht sein, selber zu einem Urteil zu kommen.«
»Wohin führst du mich, mein Mephisto?« fragte abends Becker seinen Freund. Sie verließen die Droschke vor der Bötzowbrauerei.
»Eine große Versammlung.«
Maus half seinem Freund durch das Gedränge vor dem Eingang. Ein Haufen Schutzleute fiel ihnen auf. Sie zahlten den Unkostenbeitrag, preßten sich durch ein Spalier von Flugblattverteilern, jeder trug noch ein Schild mit seiner Parteiparole.
»Jahrmarkt«, flüsterte Becker.
»Komm rasch.«
Sie saßen in dem mächtigen übervollen Raum, von dessen Decke die Bogenlampen leuchteten. Qualm erhob sich über den Köpfen der Menge. Man saß an Tischen, Kellner schleppten Bier, einige Männer mit Binden suchten die Gänge freizuhalten. Vorn sah man eine offene kleine Bühne, wohl für Liebhaberaufführungen; auf ihr ein Tisch mit einer großen Glocke, einer Wasserkaraffe und mehreren Biergläsern. Männer standen in einer kleinen Gruppe an einem Tischende neben einem jüngeren Mann, der saß und Papiere vor sich hatte.
Nun setzten sich diese Herrschaften. Einer schwang die Glocke. Die Volksversammlung lief vom Stapel.
Maus fragte Becker: »Hätten wir ein Kissen mitnehmen sollen?«
Becker: »Besser wär’s schon. Aber ewig wird’s ja nicht dauern.«
Während durch die weitoffenen Seitentüren noch Menschen hereindrängten, und während die dichte trübe Masse dasaß, die Gesichter nach der kleinen Bühne, und auf die Worte wartete, die sie erhellen könnten, denen sie folgen könnte, stellte sich vorn ein Redner nach dem andern hin, hinter dem Tisch mit der Wasserkaraffe und den Biergläsern. Sie entpuppten sich als Biedermänner oder als Schlafmützen oder als schlaue Hunde. Diese Gesellen, deren Worte der am Tischende aufschrieb, fingen an zu reden. Was sie tranken, war Bier; was sie redeten, Jauche.
Erst verkündete der Vorsitzende, der zur Eröffnung der Sitzung die Glocke geschwungen hatte, etwas, was wegen seiner rostigen Stimme unverständlich blieb. Die Versammlung nahm daran keinen Anstoß. Sie wühlte, wie Hühner auf dem Mist, in dem Dargebotenen, pickte sich ihr Sätzchen heraus, verschmähte das übrige.
Der Vorsitzende trug einen langen schwarzen Rock und hatte ein rotes heißes Gesicht mit Stielaugen. Der Mann litt an Asthma. Es ließ sich schwer sagen, wieviel Liter Bier täglich durch diese Tonne liefen. So mag es ihm geglückt sein, zu Würde und Ansehen zu gelangen, Vertrauen zu erwecken und hier zu stehen.
Er erteilte das Wort seinem Nachbarn, einem jungen vierschrötigen Mann, der dichte, semmelblonde Haare und einen kräftigen Schnurrbart hatte. Der konnte reden. Er redete aus vollem Mund, aber nicht mit tausend Zungen. Wie die Worte aus seinem Mund und Hals rollten, tönend, den Saal bis in den letzten Winkel erreichend, da war man in das bekannte Drehrad getrieben, in dem das Meerschweinchen läuft, läuft, rennt, jagt, ohne von der Stelle zu kommen. Zuletzt gibt das Tier es auf, streckt alle viere und erwartet das Ende.
»Von je und je«, beteuerte er, drohte und polterte er, der blonde Vierschrötige, vor den man, wohl zum Zeichen der Mißachtung, die Wasserkaraffe geschoben hatte, deren Hals er dazu benutzte, um ihn mit der kurzen Hand zu umfassen, als wollte er sie ins Publikum schleudern, »von je und je bestand im deutschen Volk der Wille, sich selbst zu regieren. Aber man hat diesen Willen erstickt, er durfte nicht einmal laut werden. Der Wille wurde geknebelt und mundtot gemacht. Und besonders seit der Reichsgründung, seit 1870, hat der monarchistische und militaristische Obrigkeitsstaat es sich angelegen sein lassen, ihn zu unterdrücken.«
Wie das geschah, schilderte er unter Benutzung mehrerer Zettel, breit und breiter. »Nach dem schmählichen Zusammenbruch dieses Obrigkeitsstaates hat sich der Wille des Volkes, sich selbst zu regieren, mit elementarer Wucht durchgesetzt und ist jetzt dabei, sich eine Volksrepublik zu schaffen.«
Sie hörten sich den Kerl, der seinen Wortsalat feilbot, mit der stummen Resigniertheit eines Marktbesuchers an, der seinen Blick über Körbe schweifen läßt und feststellt: sie haben heute nichts. Es gab keinen einzigen in dem Saal, der nicht wußte und dem bei den Worten des blonden Kerls oben nicht einfiel, daß es der Amerikaner Wilson war, der in seinen vierzehn Punkten die Beseitigung des autoritären Regimes verlangt hatte, und daß man ohne die Zustimmung zu diesen Punkten keinen Waffenstillstand, keine Beendigung des Kriegs hätte erhalten können, und deswegen hatten sogar Minister und Generale den Kaiser gedrängt zu gehen, und damit hatte sich die Öffentlichkeit lange Wochen beschäftigt, und es war von einem elementaren deutschen Willen, sich selbst zu regieren, der sich jetzt durchgesetzt hätte, nie die Rede gewesen.
Jetzt begann er vom Kaiser und seinem Obrigkeitsstaat und wie sich Wilhelm herausfordernd benommen und Theaterrollen gespielt habe.
»Ein Affe«, schrie jemand vorn. Das gefiel. Man lachte, der Redner kassierte es, als wäre es sein Werk.
»Die strahlende Wehr, die Nibelungentreue, lauter Theatermache.«
Der vorn schrie: »Der Mann hätte Schauspieler werden müssen.« Damit fiel er ab, das war Wiederholung.
»Wie schwach benahm sich Lehmann in der Angelegenheit des ›Daily Telegraph‹.« Man sperrte die Ohren auf, die Mehrzahl wußte nicht, was das sein mochte, aber es stärkte ihr Vertrauen in den Mann um so mehr, als er sich auf keine Erklärungen einließ.
»Der Kanzler Bülow, der mit dem Pudel, obwohl selber mitschuldig, erteilte dem Kaiser eine Rüge, und der steckte sie ein und schmollte eine Weile in Potsdam.« Angenehm, das zu hören. Der Mann ist nicht schlecht.
»Was waren die Kanzler nach Bismarck, Caprivi bis Hertling, Michaelis, Bethmann Hollweg? Lauter Mittelmäßigkeiten.«
Da rief mitten im Saal, von einem Tisch ein Mann, der mit seinen Nachbarn geflüstert hatte, mit lauter Stimme, den Stock zwischen den Beinen:
»Wenn es lauter Mittelmäßigkeiten waren und der Kaiser solch Affe, warum habt ihr nicht dreingeschlagen?«
Viele drehten sich um. Der Redner fing das Wort auf und hatte seinen behaglichen Ton:
»Diesen Rat möchte ich an den Fragesteller zurückgeben. Warum haben Sie nicht dreingeschlagen? Sie lebten doch damals auch schon. Oder waren Sie noch ein Embryo?«
Schallendes Gelächter.
»Der Fragesteller hätte versuchen sollen, mit seinem Spazierstock gegen die preußische Polizei vorzugehen.«
Der Mann im Saal: »Das haben wir gemacht. Aber ihr Bürgerlichen und Sozis habt in der Ecke gestanden.«
Er lenkte, nachdem er sich von dem Schallen seines Zorns überzeugt hatte, ein und hob einen Zettel: »Ein äußerlich glänzender, im Innern fauler Obrigkeitsstaat. Das Bürgertum war in sich gesund und kräftig. Es lehnte früher und lehnt auch jetzt Experimente ab, die die Ernährung des Volkes und die Wirtschaft gefährden.«
Der Vorsitzende mußte bitten, das Rauchen einzustellen. Eine Frau, die sich schon lange geärgert hatte, schrie in den Saal: »Der Tabak heute ist so miserabel. Können die Männer den nicht mal lassen, wenn sie unter andern sind?«
Nun hatte der vierschrötige Blonde sein Referat beendet. Er mußte die Wasserflasche loslassen, und hinter die Wasserflasche, die noch nicht in den Saal geworfen war, stellte sich ein nörgliger, an Beklemmungen leidender Mann mit einer kurzen Nase und Brille. Haare hatte er nicht viel. Er war lang und konnte nicht in das Publikum blicken, aus irgendwelchen Hemmungen. Manchmal aber überzeugte er sich doch durch einen raschen Blick davon, daß das Publikum noch vorhanden war. Er senkte aber sofort wieder die Augen, auf seine Hände, auf die Tischplatte.
Er sprach gebildet, rasch und durch die Nase. Man schrie bald: »lauter«. Man begann sich zu unterhalten, so daß der Vorsitzende seine Glotzaugen, die dafür wie gemacht waren, Zornesblicke zu werfen, noch mehr hervortrieb und die Glocke schwang. Danach ging das gebildete Näseln weiter.
Es erschienen Formeln in der Rede und verschwanden, wie Wolken, die davonschwimmen und sich auflösen. Mehrmals war zu vernehmen, daß »die parlamentarische Demokratie eine historische Kategorie sei«.
Becker und Maus überquerten den Damm.