Cover

JOACHIM GAUCK

Nicht den Ängsten folgen,
den Mut wählen

DENKSTATIONEN EINES BÜRGERS

Siedler


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Copyright © 2013 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-12790-9
V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Aufbruch 1989

Hoffnung

Abschied vom Schattendasein der Anpassung

1989 – Das Später kam früher

Über Deutschland

Die Entscheidung fiel für ein
erprobtes Politikmodell

Zehnter Jahrestag des Mauerfalls

Staatssicherheit:
Aufarbeiten – aber wie?

Herrschaftswissen in Hände und Köpfe
der Unterdrückten

Die friedliche Revolution und das
deutsche Modell von 1990

In meinem früheren Leben …

Von der Würde der Unterdrückten

Wut und Schmerz der Opfer

Man kann vergeben

Der lange Schatten der Ohnmacht

Zur Freiheit geboren

Ohnmacht

Noch lange fremd

Der sozialistische Gang

Von Staatsinsassen und Einäugigen

Wann wird all das weichen?

Erinnern an zwei Diktaturen

Zum Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus

Von Zeugenschaft, Verweigerung
und Widerstand

Befreiung feiern – Verantwortung leben

Über die Rezeption kommunistischer Verbrechen

Freiheit in der Freiheit

Es ist unser Land

Freiheit

Freunde und Fremdeln

Politiker nicht beschimpfen

Unsere Demokratie wird leben

Wir müssen sehen lernen, was ist

»Israel muss man wollen«

Europa:
Vergangenheit und Zukunft

Welche Erinnerungen braucht Europa?

Polen: das Unmögliche wagen

Europa: Vertrauen erneuern,
Verbindlichkeit stärken

Vita

Einleitung

Das Leben, in das ich hineingeriet, war eines, das ich nicht schweigend ertragen wollte. Aber viele der Worte, die mir aus politischen Gründen wichtig waren in der Kindheit, der Jugendzeit und dann bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr, waren im Land der Diktatur nicht erwünscht. Ich habe es in diesem Land dennoch aushalten können, weil mir mein Beruf in der Kirche Möglichkeiten gab, Meinungen und Worte zu vertreten, die ich als Lehrer oder Journalist niemals hätte äußern dürfen.

In diesem Band sind Reden aus fünfundzwanzig Jahren vereint.

Einige der frühen Texte haben wieder wachgerufen, was selbst nach zwei Jahrzehnten noch Spuren in mir hinterlassen hat. Andere Texte zeigen, wie stark sich unsere Lebensumstände und meine Interessen verändert haben, seitdem Deutschland wieder eins wurde. Manche Reden und Aufsätze behandeln also bereits Historisches, andere greifen Gegenwart und Zukunft auf.

Reden, die ich oft weitgehend frei gehalten habe, tragen zudem einen deutlich anderen Duktus als schriftlich abgelieferte Beiträge für Zeitungen oder Bücher. Entstanden ist eine Sammlung aus höchst unterschiedlichen, teilweise typischen, aber auch einigen ganz besonderen Texten.

Am Anfang steht eine Predigt zum Kirchentag im Norden der DDR, die zugleich politische Anspielungen, Kritik und Worte der Hoffnung enthält. Es war das Jahr 1988. Wir wagten damals noch nicht, vom Untergang des Kommunismus zu träumen, aber wir wollten von den Machthabern endlich gehört werden. Es wirkte befreiend auf die große Kirchentagsgemeinde, dass wir offen die Stationierung der Raketen in unseren Wäldern oder die repressive Pädagogik problematisierten. Mehr noch aber war die Gemeinde elektrisiert von Bildern, in denen ihr Lebensgefühl Ausdruck fand: »Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit«.

Dieser Band enthält sodann Reden und Artikel, die nach 1990 entstanden sind. In den ersten zehn Jahren dominierten Beiträge zur Aufarbeitung der Stasi-Hinterlassenschaft und zum Umgang mit der kommunistischen Diktatur. Während meiner anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie« widmete ich mich unter anderem dem Widerstand in der NS-Zeit, der Verteidigung der Demokratie und Fragen von Mentalität und Mentalitätswandel in Transformationsgesellschaften.

Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Reden belegt die Kontinuität meines öffentlichen Engagements. Als Bundespräsident stehe ich nun – schon im fortgeschrittenen Alter – noch einmal vor neuen Herausforderungen. Als Beispiel für die Erweiterung meines Themenspektrums mag die Rede zu Europa stehen.

Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Bandes einem gründlichen Lektorat unterzogen und deutlich und beherzt gekürzt. Ich hoffe, dass dies der Erkennbarkeit meiner Person nützt.

Aufbruch 1989

Hoffnung1

In diesem Gottesdienst werden wir sehr intensiv um Hoffnung bitten, denn wir denken, dass nur, wer etwas hofft, auch die Kraft zum Engagement hat. Das verbindet Christen und Nicht-Christen. Wir müssen etwas haben, von dem wir träumen können. Dann werden wir uns auch in Bewegung setzen und in Kirche und Gesellschaft notwendige Veränderungen bewirken.

Interview zum Schlussgottesdienst auf dem Kirchentag in Rostock, Juni 1988.

1 Aus einem Interview mit der »Ferienwelle« im Juni 1988. Die »Ferienwelle« war ein erweitertes Regionalprogramm des DDR-Rundfunks, gesendet von Mai bis September in den Nordbezirken.

Abschied vom Schattendasein der Anpassung

Rostock, 19. Juni 1988, Predigt während des Schlussgottesdienstes auf dem Kirchentag2

Liebe Gemeinde der Weggefährten und Gäste!

An Festtagen wird auch bei Regen alles licht. Aber Kirchentag und Hochzeit sind selten. Tägliche Sorgen engen Blick und Seele ein. Als Kind, Frau und Mann, als Christen und Staatsbürger erleben wir oft mehr Dunkelheit als Licht. Mancher kommt sich benachteiligt vor – und mancher ist es auch. Polarnacht liegt oft Jahrzehnte über ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen – Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit! Ungleichmäßig sind die Licht- und Klimazonen über die Erdkugel verteilt, Fülle und Mangel im Leben der Menschheit desgleichen. Vor dem Licht ist die Nacht. Aber in der Tiefe der Nacht wird für den, der wachen muss, die Sehnsucht nach dem Licht am heftigsten. Man kann diese Sehnsucht am Morgen schnell vergessen. Ob das gut ist?

Licht lässt uns sehen – auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: Ich nehme das Dunkel ernst, ich halte die Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht herunter. Ich warte nicht auf das magische innere Licht, sondern nehme auch meine quälenden Zweifel ernst. Ich verzichte darauf, mein Leben zu retuschieren. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. Und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.

Hoffnung wächst nicht aus haben, sie wächst aus Sehnsucht nach sein.

Wenn sie echt ist, riskiert sie etwas. Nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. Eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die Ruhe gegenüber allem Unrecht geführt hat! Die etablierte Christen- und Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. Sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest. So suchen viele von uns erbittert und doch mit Hoffnung unter dem täglichen Leben das Leben, unter den vielen Wahrheiten die Wahrheit. Und sollte da nicht auch Nähe Gottes sein, wo wir so hungern und dürsten nach dem Wirklichen und Wahrhaftigen, dem Sinn für unser Leben? Da sind wir noch kein Licht, aber wir werden schon erleuchtet. Und wir werden die Brücke finden, die uns gehen, handeln und lieben lässt.

Wie könnten wir dem Leben neu begegnen?

Der 1. Johannesbrief bietet dafür zwei Schwerpunkte an. Erstens: erkennen und bekennen, wie ich wirklich bin; zweitens: Erneuerung erfahren.

Erkennen, »dass ich ein Sünder bin«, heißt es in der Sprache der Bibel. In unserer Sprache heißt das: die eigenen Grenzen erkennen.

Dem Licht – Gott – gegenüber erkenne ich Schatten und Rückseiten: Ich mache nicht nur Fehler, ich werde schuldig. Und dies nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Zentrum des Lebens. Schuld, so erkennen wir, ist eine Dimension des menschlichen Lebens. Wer sie leugnet und stur behauptet, der Mensch ist gut, gut, gut, tut sich und seinen Mitmenschen nichts Gutes. Wer dies erkannt hat, wird frei werden, Schuld Schuld und Sünde Sünde zu nennen. Das ist sicher ein schwerer Schritt, besonders für erwachsene Menschen; noch schwerer ist er für formierte Menschengruppen. Aber neues Leben kann wachsen, wo Schuld bekannt und Neuanfang gesucht wird. Es erfüllt Christen mit einem guten Gefühl, wenn ihre Kirche sture Rechthaberei verlässt und für sich selbst Umkehr bejaht. Und es erfüllt uns mit einem neuen Gefühl gegenüber Vertretern der marxistischen Weltanschauung, wenn wir aus der Sowjetunion hören, dass Schuld Schuld genannt werden kann.

Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Gesellschaft; erkennen und benennen, was ungut ist, und dann anfangen, auf eine neue Art zu leben. Plötzlich entsteht dann Nähe, wo lange Distanz war. Wir brauchen diese Nähe, denn wir haben einen Dialog des normalen Gesprächs, nicht der tönenden Phrasen zu erlernen. Das wünschen wir uns so sehr: ein neues Miteinander in unserer Gesellschaft – Abrüstung und Entspannung als tragende Säulen eines neuen innergesellschaftlichen Dialogs! Was außenpolitisch mehr und mehr gilt (Abrüstung), will und muss mehr und mehr in das Innere dieses Landes!

Wir freuen uns über jeden Schritt, der auf diesem Weg zurückgelegt wird, besonders über den begonnenen Dialog zwischen Marxisten und Christen auf unserem Kirchentag.

Beim Ernstnehmen unserer Grenzen und unserer Schuld fällt der Blick in diesem Jahr (vor fünfzig Jahren Reichspogromnacht) auf unsere Unheilsgeschichte gegenüber den Juden.

Neues wird, wo alte Schuld nicht geleugnet wird.

Dem Leben neu begegnen bedeutet Erneuerung erfahren. Wo der erste Schritt getan ist, begegnet uns Jesus. Er findet uns, wie er uns gerufen hat: mangelhaft. Und er vergibt uns. – Da denken wir daran, wie wir klein waren und sich Hände auf unseren Kopf legten, die alles, alles gutmachten. Da konnten wir wieder aufspringen und weiterlaufen, noch immer mangelhaft, aber geliebt.

So wollen wir Vergebung begreifen.

Christine Lavant:

Angst, leg dich schlafen,

Hoffnung, zieh dich an, du musst mit mir gehen.

Schnür die Schuhe fester! Ich hielt dich lang verborgen,

kleine Schwester, schön bist du geworden,

und ich freu mich dran.

Mit der Schwester Hoffnung suchen wir jene geheimnisvolle und verwandelte Beziehung zu dem schöneren Gegenüber unseres beschädigten Menschseins.

Dorothee Sölle spricht einmal von der »Zärtlichkeit Gottes«. Sie ahnen dürfen – das geschieht, wenn wir beieinanderstehen: freundlich, solidarisch, geschwisterlich. Darum ist unser wichtigstes Erlebnis nicht das Interessante und Spektakuläre, sondern das, was uns neu hoffen macht. Das brauchen wir wie Brot zum Leben.

So viele Abgründe warten auf Brücken, die engagierte Menschen bauen:

– Menschen sollen sich begegnen, nicht verurteilen.

– Die Natur will bewahrt, nicht ausgebeutet sein.

– Aus unseren Wäldern soll das Teufelszeug der Raketen verschwinden.

– Aus unseren Schulen sollen die Schwarz-Weiß-Klischees verabschiedet werden.

– Unsere Republik will einladender werden: Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen.

– Ausbeutung, Apartheid und Unterdrückung warten auf den Hass der Liebenden.

– Die Opfer jeder Gesellschaft warten auf die Nähe von Genossen und Geschwistern, die diese Namen verdienen.

– Und: Unsere Kirche will auferstehen zum Leben!

Nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. Also: die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!

2 Joachim Gauck, »Abschied vom Schattendasein der Anpassung«, Manuskript in Privatbesitz, abgedruckt in: Walter Kempowski, Mein Rostock, Frankfurt am Main 1994, S. 104–108.

1989 – Das Später kam früher

Der Beitrag erschien 20093

Ich beginne mit dem Glück. Wir schrieben den 19. Oktober 1989. In der Rostocker Marienkirche drängten sich Tausende von Menschen. Sie waren nicht zum ersten Mal hier, sondern hatten schon in der Vorwoche ihren Wunsch nach Erneuerung der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das hatte andere motiviert dazuzukommen, so wurden in anderen Kirchen Parallelgottesdienste mit exakt denselben Texten abgehalten. Wir Organisatoren dieser Veranstaltungen trugen über unsere Netzwerke Informationen von den sich neu bildenden Bewegungen und aus anderen Städten zusammen. All diese Menschen hatten gehört von den Montagsdemonstrationen in Leipzig seit September, von den Demonstrationen in Plauen seit Anfang Oktober. Sie hatten im Westfernsehen Tausende von Flüchtlingen in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag gesehen, gehört von der Massenausreise in verriegelten Zügen über Dresden, sie hatten die Prügelorgien der Staatsmacht in Dresden und am 7. Oktober in Berlin beklagt, und viele hatten für die Opfer Mahnwachen und Fürbittandachten organisiert. Aber auf der Straße waren sie bis jetzt noch nicht gewesen. Was würde jetzt in Rostock geschehen? Fehlte uns der Mut der Sachsen? Mussten wir Mecklenburger uns an den Tankstellen im Süden beschimpfen lassen, weil es im Norden zu keinen »öffentlichen Kundgebungen gegen den Staat« gekommen war?

Ich war damals seit fast zwanzig Jahren Pastor in Rostock, seit Kurzem auch Sprecher des »Neuen Forums«. An jenem 19. Oktober 1989 predigte ich in der überfüllten Marienkirche – über Amos 5, 21–24, wo es unter anderem heißt: »Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran … Es soll aber Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.«

Der Staatsfeiertag am 7. Oktober 1949 anlässlich der DDR-Gründung vierzig Jahre zuvor war erst wenige Tage vorbei. Wir alle in der Kirche hatten in den Nachrichten die Menschenströme gesehen, die an den Tribünen vorbeigezogen waren und der ergrauten Macht ihren Tribut gezollt hatten. Wir alle hatten uns dabei gesehnt nach einem Amos, einer Kassandra, einem Jan Hus oder einem Martin Luther King, der – so sagte ich damals – »das kollektive Unrechtsempfinden und die kollektive Sehnsucht nach Wahrheit und Recht« ausdrücken würde. Aber war es nicht an einem jeden von uns, die Freiheit einzuklagen?

Da hörte ich mich auf einmal sagen, dass es Menschen gebe, die ihrer Angst »Auf Wiedersehen« sagen und den aufrechten Gang trainieren: »Wir wollen nicht in der Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit … Es gibt genug Stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.« Erst gab es eine Pause. Einige schluchzten. Dann fingen alle an zu klatschen.

Nach dem Gottesdienst formte sich aus den Tausenden in der Marien- und der Petrikirche ein langer Zug, ein Zug ohne Transparente, ohne laute Parolen, aber mit Kerzen. Wir zogen vorbei an den Zwingburgen der Staatsmacht, der unbeleuchteten Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirkszentrale der SED, dem Rathaus. Wir warfen keine Steine, aber wir klatschten und pfiffen vor dem Hochhaus, in dem viele Stasi-Mitarbeiter wohnten, und wir brachen aus in Hohngelächter, als uns vor dem Stasi-Gebäude eine Stimme per Lautsprecher aufforderte: »Verlassen Sie den Platz! Lösen Sie die Demonstration auf!«

Der Abend des 19. Oktober bedeutete in Rostock den Durchbruch. Wir hatten das Lebensgefühl der Massen in Leipzig nach Rostock geholt. »Wir sagen unserer Angst ›Auf Wiedersehen!‹« Als die erste Massendemonstration in unserer Stadt zu Ende ging, wussten wir alle, die dabei waren: Wir schaffen es, wir werden gewinnen. Das war Glück. Glück in einer großen historischen Stunde. Jeder hatte seine Angst besiegt, hatte sich und seine oft so feigen Mitbürger als Teil einer Protestbewegung gesehen. Die meisten hatten unendlich lange zu allem geschwiegen. Jetzt wollten auch sie mitreden, mit dabei sein, endlich mündig sein.

Nie war deutlicher zu spüren, welche Verwandlung Menschen erfahren, die von den Zuschauerrängen auf die Bühne überwechseln. Arbeiter, Handwerker, Studenten und Krankenschwestern, sie alle entdeckten ihre Potenzen und bestimmten ihre Rolle in der Gesellschaft neu. Das »Wir sind das Volk!« hieß für jeden Einzelnen: »Ich bin ein Bürger!« Unglaublich, wie jahrzehntelang eingeübte Demut, wie Furcht und Anpassung abgestreift werden konnten wie ein Kokon, der die weitere Entwicklung zum Erwachsenwerden hinderte.

»Er-Mächtigung«, so erlebt, wird von den Betroffenen nicht nur als ein politischer Begriff verstanden, als Definition eines gesellschaftlichen Prozesses. Ermächtigung drückt mehr aus, ein Lebensgefühl, die Freude eines Menschen, der über sich hinauswächst, Glück.

Es war unglaublich. Wir waren das Volk. Und ich war dabei.

Seit zwanzig Jahren nenne ich dieses Land gern mein Land.

3 Auszug aus Joachim Gauck, »1989 – Das Später kam früher«, in: Hildegard Hamm-Brücher, Norbert Schreiber (Hg.), Demokratie, das sind wir alle, Zabert Sandmann Verlag, München 2009, S. 112–123

Über Deutschland

Weimar, 2. Oktober 1994, Vortrag im Rahmen der Reihe »Weimarer Reden«4

Frau Ministerin, Herr Oberbürgermeister,

meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die Kirche feiert am ersten Oktobersonntag das Erntedankfest. In Gottesdiensten wird Dank für verdiente und unverdiente Gaben gesagt, und nach alter Sitte spendet man auch etwas. Die Ärmeren geben meist etwas mehr, die Reicheren etwas … überlegter.

Liebe Landsleute aus dem Osten, lassen Sie uns in unserer Erinnerung zurückgehen ins Jahr 1989, in den Sommer, den bleiernen. Die Depression unserer Gemüter, wir haben sie noch nicht vergessen.

Die SED regierte, ohne dass sie führte. Die Festlichkeiten zum Republikgeburtstag wurden wie üblich vorbereitet. Zu allem Unglück stand ein rundes Jubiläum ins Haus. So etwas wird teuer!

Derweil waren Junge und Junggebliebene auf dem Sprung. In den »Bruderländern« suchten sie Schlupflöcher in die Freiheit. Sie waren aktiv und auf uns störende Weise mobil. In vielen Elternhäusern, Freundeskreisen, Gemeinden wurden Abschiedstränen geweint. Bei manchen wuchs endlich die Wut, und sie erreichte ihren Höhepunkt, als die bösen Greise in Berlin den Flüchtenden nachriefen: »Denen weinen wir keine Träne nach.« Ihre Lohnschreiber haben es im Neuen Deutschland flugs aufgeschrieben. Sollten Sie es vergessen haben: Es gibt Bibliotheken, man kann es nachlesen.

Dann kam der 7. Oktober. An solchen Tagen schaltete man schon mal das DDR-Fernsehen ein. Wir wussten zwar, was sich da abspielte, wir kannten das alle: Das Marschieren, das Feiern, die »Winkelemente«, die Blumen, die Orden, »unsere« Jugend, »unsere« Menschen – alles war inszeniert wie immer. Der Regierende hatte für das Fernsehvolk sein Serenissimus-Lächeln aufgesetzt. Wieder waren genügend Landeskinder in Berlin, um den eingeübten Frohsinn vorzuführen. Irgendwann sangen die Veteranen ganz gerührt, einige hatten Tränen in den Augen: »Wir sind die junge Garde / des Proletariats …« Ob sie die »Internationale« auch noch gesungen haben im Kreis immergrüner Vasallen? Ich habe es vergessen.

Am Abend trösteten wir uns mit Gorbatschow. Eigentlich nahmen wir ihm übel, dass er in diese Gesellschaft kam. Aber wenigstens hatte das Westfernsehen einen Satz auf der Straße aufgeschnappt. Sie wissen ja: »Wer zu spät kommt …« Vielen war das nicht genug, mir auch nicht. Aber einige wollten Honecker strafen, indem sie Gorbatschow zujubelten, zuklatschten, ihn feierten. Viele hofften, einige riefen: »Gorbi, hilf!«

Andere waren da schon aufgestanden, um sich selbst zu helfen. Wir meinen jene Minderheit, die zu den inszenierten Feiern mit unbestelltem Protest erschien. »Frauen für den Frieden« – ganz und gar unangeleitet vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands, der doch dafür autorisiert war. Eine Initiative, die am Frieden interessiert war, der aber die Menschenrechte genau so viel bedeuteten. Christliche oder andere unangepasste Jugendliche, auch Mitbürger, deren Protest sich zu einem Wort und Programm verdichtet hatte, das viele von uns ablehnten, auch ich: Ausreise.

Alles in allem: Störenfriede.

Die Staatsmacht – wir erinnern uns weiter – reagierte entschieden, zielgerichtet und brutal. Die Zahl der Protestierenden war noch gering. So konnten die Einsatzkräfte von Polizei und Stasi der Lage alsbald wieder Herr werden. In Plauen allerdings war am 7. Oktober schon Großdemonstration – zwanzigtausend Menschen gingen auf die Straße, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung. Einige Studentinnen und Arbeiter bekamen nach Auflösung der Demonstration – »Gesicht zur Wand« – den für derartige Zwecke vorgesehenen Nachhilfeunterricht. Unsere Mächtigen brauchten für ihre Exempel ihre »Rädelsführer«. Neu war: Die Festgenommenen schrieben unmittelbar nach der Entlassung Gedächtnisprotokolle, sie schrieben auf, was ihnen angetan worden war. Und diese Texte wurden Kampftexte gegen die SED für diejenigen, die vorher noch nicht bereit gewesen waren zu protestieren. Sie taten es jetzt.

Es begannen die Fürbittandachten und Mahnwachen in unseren Kirchen, organisiert von kleinen, überschaubaren Gruppierungen. Minderheiten immer noch, die von wachsamen Mehrheiten durchaus unter »operativer Kontrolle« gehalten werden konnten.

Mein Gott, wie schnell in diesem kalten, heißen Herbst aus Wachen und Beten, Reden, Planen, Singen, Organisieren – Protestieren wurde. Wie schnell aus Aushalten, Angsthaben, aus Trauer und Ohnmacht Mut, Fantasie und sogar Kraft wurden! Gleich kommen die Leipziger in unseren Erinnerungsblick: Plötzlich all diese Menschen auf der Straße. Jetzt geht es los. Diese Massen. Je nach Alter denken wir an frühere Situationen: 1953, 1956, 1968. Und voller Zweifel und Angst fragen wir noch: Können wir das schaffen, was Solidarność in Polen schaffte?! Mit solchen Zweifeln und solchen Ängsten haben wir die nächsten Demonstrationen vorbereitet.

Gleich werden sie in Berlin das Tor aufmachen, plötzlich und verschämt, kleinlaut – so anders als in der Zeit, als sie es schlossen –, sie wollen Druck ablassen. Retten, was noch zu retten ist. Doch wir sahen es anders: Wir wollten ändern, was geändert werden musste. Mutige Frauen und Männer starten sanfte und doch revolutionäre Aktionen gegen die Stasi-Dienststellen – wir schreiben Anfang Dezember. »Stasi in die Produktion!« – unser alter Schlachtruf von den Demos – soll nun Wirklichkeit werden, und ihr Herrschaftswissen soll in unsere Hände und Köpfe, in die des Volkes kommen, das sie so lange unterdrückt hatten. Dann werden die Genossen den Alten feuern und den Grinsenden5 heuern; nützen wird ihnen das am Ende nichts. Sein sozialistischer Biedersinn erhält eine nur kurze Hauptrolle.

Man inszenierte in kleiner Besetzung das Kammerspiel »Reform des Systems«. Zu spät. Die Massen waren stürmisch erwacht. Plauen sei dank! Sie wollten nicht Kammerspiel. Sie wollten Endspiel. Götterdämmerung war angesagt.

Der Schnelldurchlauf der Bilder taucht alles in das Licht des Mirakels. Aber dieses wunderbare Mirakel hatte Wurzeln. Es bildete sich in der frühen Sehnsucht der Unterdrückten, es bildete sich in Liedern, Predigten, Gedichten, in Torheiten, in Niederlagen, in Tränen, es bildete sich im Hoffen.

Wir wollen aufsuchen und rühmen, was sich als Wagnis der Eigenständigkeit an die Öffentlichkeit traute, ohne je des Erfolges sicher zu sein. Dabei bleiben wir zunächst in der Nähe der Herbstereignisse 1989 und denken an den Mut der allerersten Demonstranten, die noch nicht wissen konnten, dass aus der schweigenden Mehrheit eine solidarisch handelnde Mehrheit werden würde. Wir denken an die ersten Programme, an Aufrufe und Aufklärungsschriften, verfasst und geschrieben mit dem Willen zu drastischer politischer Veränderung in unserem Land, um dem vormundschaftlichen Staat abzuschwören.

Wir danken den Verfassern für ihren Mut, den Schutzraum Kirche zu verlassen, jede Öffentlichkeit zu suchen, die sich bot. Wir rühmen die Entschlossenheit derer, die den Bürgerbewegungen zum politischen Leben verhalfen, und die Gründer der sozialdemokratischen Partei, die nicht auf die Bedenkenträger in Ost und West hörten, sondern selber die Gesetze des Handelns entwickelten. Wir denken an die Vorläufer des Herbstgeschehens: Die Gruppe der »Störer« der Berliner Liebknecht-Luxemburg-Demonstration.6 Sie hatten den Mut, mit einem einzigen Zitat von Rosa Luxemburg die Rituale der Mächtigen, die die illegitime Machtausübung der SED-Elite stabilisieren sollten, in Frage zu stellen. Sie hatten den Mut, die Mächtigen zu delegitimieren.

Bei dem Stichwort Delegitimierung denken wir auch an eine Aktion, die Zivilcourage Einzelner wie das Engagement zahlreicher Gruppen in der DDR deutlich macht – in der Regel durch Einbeziehung des kirchlichen Netzwerkes. Ich meine die Kontrolle der Kommunalwahlen vom Mai 1989. Wie viele hatten den Wahlergebnissen immer misstraut. Hier endlich, lange vor dem revolutionären Tun, beschloss eine qualifizierte Minderheit in sehr vielen kleineren und größeren Städten, eine Form der Volkskontrolle zu organisieren, die bislang immer als sinnlos erachtet worden war. Für die Behauptung, die Wahlen seien gefälscht, konnten tatsächlich ausreichend viele Daten gesammelt werden. Es ist unmöglich, die Personen und Orte aufzuzählen, die beteiligt waren. Zwei Regionen seien nur erwähnt: Berlin, wo es seit Jahren eine lebendige Protestkultur gab, leitete noch in DDR-Zeiten eine Strafanzeige wegen Wahlfälschung ein. Und Halle will ich erwähnen. Der jungen Frau wegen, an die ich erinnern möchte – einer Wahlkontrolleurin. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich weiß, dass sie damals siebenundzwanzig Jahre alt war. Ich weiß ihren Beruf: Sekretärin in einer Sparkassenfiliale. Sie gehörte zum Personal der offiziellen Datenerfassung. Als sie erlebte, wie die Anweisung ausgegeben wurde, telefonisch eingehende Zahlen mit Bleistift einzutragen, stutzte sie. Man versuchte, erstens: Sie mit einer erfundenen Begründung ruhigzustellen, und als das nichts nutzte, sie – zweitens – aus dem Informationsfluss auszugliedern. Vom Zeitpunkt ihrer Kritik an klingelte bei der jungen Frau kein Telefon mehr, die Daten liefen an ihr vorbei. Wir rühmen diese Frau nicht nur, weil sie bemerken wollte, was sie bemerken konnte, auch das ist schon rühmenswert. Wir rühmen sie wegen ihrer Zivilcourage, den jungen Leuten der selbst ernannten Kontrollgruppe mit Namen und Adresse ihre Informationen zu Protokoll gegeben und später im Gerichtsverfahren als Zeugin in dieser Sache zur Verfügung gestanden zu haben.

Liebe ostdeutsche Landsleute, ohne weiteren Kommentar merken wir, dass diese Frau auf dünnem Eis ging. Aber weil sie ging, weil sie nicht einbrach, weil andere ihr dabei halfen, deswegen sei an ihren Fall erinnert. Wir wissen nicht, was genau sie zu oppositionellem Denken und Handeln bewogen hat. Wir machen aber bei ihr exemplarisch einen Entscheidungsfreiraum und einen Entscheidungswillen aus, der von vergleichbaren Mitbürgern weder gesehen noch gewollt wurde.

Der Sinn dieses Vortrags besteht hauptsächlich darin, die enorme Rolle der Erkenntnis Ich habe eine Wahl zu betonen. Sie gilt selbstverständlich in Demokratien – unabhängig davon, wie ernst sie im Einzelnen genommen wird. Aber sie galt und gilt auch in Diktaturen: im Stalinismus wie im Nationalsozialismus; hier waren die Möglichkeiten der Wahl allerdings drastisch reduziert gegenüber den unsrigen heute.

Angeblich konnten nur Märtyrer und Helden, derer die kommunistische wie die bürgerliche Welt in begrenzter Anzahl gedachten, etwas tun. Wie haben wir sie verehrt für dieses Heldentum, haben sie uns doch erlaubt, Frieden oder Waffenstillstand mit dem beschmutzten Vaterland zu schließen. Aber wir selber verstanden uns nicht als Helden und fühlten uns nicht zu Märtyrern berufen.

So wurde für die Masse aus der Frage »Was konnten wir denn tun?« eine Rechtfertigung, ein quasi normatives Überlebens- und Karriererezept: Wir konnten nichts tun, denn die da oben diktierten es immer anders. Und je enger wir dieser normativen Leitlinie unser eigenes Leben anpassten, desto besser war für unser Fortkommen gesorgt. Es ist die einfache Wahrheit der Diktatoren: »Beuge dein Haupt, und du brauchst nichts zu fürchten und wirst es gut haben.«

Wenn wir aber die Zeiten der Diktatur wirklich erinnern wollen, begegnet uns gelebtes Leben nicht in derart fataler Uniformität. Wir gelangen sehr bald zur Gewissheit: Die Nächte der Diktatoren waren nie schwarz genug, um alle Katzen grau zu machen!

Deshalb will erzählt sein, was gelungen ist. Den Deklassierten auch die geringsten Siege zu nehmen, kann nur eine weitere Entmutigung zur Folge haben. Wir brauchen also eine Kultur des Erzählens und Berichtens über widerständiges Verhalten. Wir wollen endlich besser lernen, dass das Verbeugen und Versagen trotz seiner großen Tradition in unserem Volk nicht unser unausweichliches Schicksal ist. Und wir müssen endlich verlernen wollen, was uns unter unser Maß brachte, zum Untertanen degradierte. Schwerlich werden in uns auf Dauer zwei Haltungen in friedlicher Koexistenz nebeneinander existieren können: die Haltung des Untertanen und die Haltung des Citoyen.

Wenn wir ein repräsentatives Bild der DDR-Bevölkerung hier in diesem Weimarer Saal haben, lebten Sie, meine Damen und Herren, vermutlich eher nicht in der Nähe von Helden. Wahrscheinlich sind Ihnen nicht die Studenten begegnet, die Ulbricht einsperren ließ, weil sie 1968 nicht nachließen in ihrem Protest gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche.7 Wahrscheinlich sind Ihnen auch nicht die letzten freien Bauern begegnet, die Ende der 1950er Jahre nicht an den Segnungen des angeblichen sozialistischen Frühlings teilhaben wollten, den Eintritt in die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) noch ablehnten, als die großen Lautsprecherwagen vor die Höfe fuhren. Und die Streikenden und Demonstranten des 17. Juni 1953 waren wohl auch nicht in Ihrem Umfeld, denn viele von ihnen haben sich schnell in den Westen abgesetzt, sofern sie nicht früher aufgegriffen und in unsere Zuchthäuser gebracht worden waren. Die über Prag 1968 nicht schweigen wollten – kannten Sie die vielleicht? Oder die Kreise um Jürgen Fuchs in Jena, um Robert Havemann in Berlin, diejenigen, die wie Rudolf Bahro dachten oder andere Systemkritiker innerhalb der SED – sind Sie denen begegnet? Oder denjenigen, die als Künstler, als Schriftsteller zu den Unterstützern von Wolf Biermann gehörten, als man ihn aus der DDR hinausgeworfen hatte? Oder kannten Sie vielleicht doch einen der kirchlichen Gesprächskreise, eine der Umwelt- und Friedensgruppen, einen unter jenen, die sich ganz zuletzt in ökumenischer Gemeinschaft um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gekümmert hatten? Oder unter jenen, die viel Bereitschaft, für Menschenrechte zu kämpfen, in die Tagespolitik 1989 einbrachten? Oder einen der Sänger, der Schauspieler, der Autoren, die redeten, sangen – und gingen?

Vermutlich haben nur wenige unter Ihnen Zugang zu diesen Milieus gehabt. Und sollten Sie im Fernsehen je von ihnen gehört haben, so haben Sie, so haben wir vielleicht aus sicherer Distanz über sie reden können – doch wann fing es an, dass wir ihre Haltung und unsere Haltung zusammenbringen mochten? Haben Sie überlegt, habe ich überlegt – irgendwann –, deren Anliegen zu Ihrem, zu meinem zu machen?

Haben wir uns durch die, die den Mut zum Anderssein hatten, anregen lassen, auch nur ein winziges Zeichen von Zivilcourage zu geben, das uns Mögliche zu tun? Nicht das Heldenmäßige, aber das uns Mögliche? Das ist eine Frage, der wir uns stellen sollten!

Erinnern wir uns einmal: Haben wir nicht fast bis zuletzt die Mundwinkel zum Lächeln hochgezogen und nach oben gewinkt bei der Maidemonstration? Sind wir nicht fast bis zuletzt zu jeder Manifestation gegangen? Haben wir nicht immer gewählt, obwohl wir schon keinen Grund mehr hatten?

Es war vieles auch gar nicht so schlimm …, nicht wahr? Warum sollte man zum Beispiel einen Konflikt riskieren wegen der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft oder in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft? Schadete ja nichts, ob man drin war oder nicht. Weiß irgendeiner von Ihnen noch – er muss natürlich ein bisschen älter sein als achtzehn –, wie viel Resolutionen er in seinem sozialistischen DDR-Leben zugestimmt hat? Kann einer noch sagen, wofür und wogegen die waren?

Wir wissen, wie schnell unsere Hände hoch gingen. Und wenn wir besonders mutig waren, haben wir einen kleinen Augenblick gezögert, sodass andere bemerkten, dass wir uns nicht gleich gemeldet hatten. Und dann an unseren Schulen das Schweigen, wo wir hätten reden müssen. Ich rede nicht über die Schüler. Ich rede über uns Eltern. Ach ja, wir haben geredet, es gab ja die »vorbereiteten Diskussionsbeiträge«! Sie erinnern sich? Auch an die Versammlungen der Genosseneltern, die es vor den eigentlichen Versammlungen gab? Da wurden andere Dinge besprochen als bei uns. Wir hatten uns entschlossen, auch diese Versammlungen für normal zu halten. Oder gibt es unter Ihnen jemand, der das mal zum Thema gemacht hätte? Ich kenne eine Frau aus meiner früheren Neubaugemeinde Rostock-Evershagen, die den Mut hatte, sie öffentlich zu hinterfragen. Aber irgendwie rückten alle sichtbar von ihr ab. Ging sie allein nach Hause, oder hatte sie wenigstens eine Begleiterin? Ich weiß es nicht.

Mancher war schon so kleinmütig geworden, dass er das Ganze nur noch im Suff meinte ertragen zu können. Und Freunde, viele von uns sind daran krepiert. Das Land, aus dem wir kamen, hatte eine Suizidrate, die keinem verraten wurde. Sie war Staatsgeheimnis.

Wir erinnern uns auch an die Betriebe, jene unsägliche »Schule der sozialistischen Arbeit«. Wie oft war es wie Kabarett – aber keiner hat gelacht. Im Gegenteil. Wer lachte oder Laut gab, dem war man gram. Sollte doch keiner so tun, als könne er es nicht ertragen.

Zuchthaus, Rechtsbeugung, Stasi, Militarismus – von all dem soll hier nur mittelbar die Rede sein. Unser damaliger Alltag soll es sein, den wir jetzt vor unser geistiges Auge rufen. Möglicherweise werden wir gewahr, dass das Eingepasstsein in ein System auch etwas Beruhigendes hatte. Wenn ich sowieso nichts machen kann, bin ich weder verantwortlich noch fühle ich mich zu einer besonderen Anstrengung verpflichtet. War eigentlich eine komfortable Lebensvariante … Wie spät trauten wir uns, es zu merken? Ist das, was uns heute als Nostalgie betrübt, nicht auch Sehnsucht nach dem süßen Gift der Abhängigkeit?

Es ist unmöglich, den Grund für die grassierende Unzufriedenheit allein in der Mangelhaftigkeit der Verhältnisse nach 1989 zu sehen. Durch Umfragen wissen wir, dass unsere generell unzufriedenen Mehrheiten für sich persönlich durchaus Zufriedenheit bezeugen. Wie sollen wir begreifen, dass im reichsten, bestgeordneten Teil des postkommunistischen Europa – eben bei uns in den neuen Bundesländern – das allgemeine Befindlichkeitsbarometer ein markantes Tief aufweist, im völlig verarmten, problemüberhäuften Albanien dagegen ein Hoch? Könnte es sein, dass es viele von uns gar nicht reizt, sich als Subjekt des Gemeinwesens zu sehen?

Könnte es sein, dass wir – so wie wir früher die kleine Münze des uns Möglichen an Zivilcourage gering achteten – jetzt die Haltung des Bürgers als Citoyen, als Mitgestalter geringschätzen? Könnte es sein, dass die Klagelieder und Attacken von mehr oder weniger gewandelten SED-Kadern auf die Bundesrepublik deshalb von einigen so gern gehört werden, weil sie so wenig oder gar nichts von uns fordern?

Offenbar war unsere Sehnsucht nach Freiheit größer als unsere Bereitschaft, Verantwortung für unsere Freiheit zu übernehmen.

Freiheit, die wir jenseits der Mauer sahen, war Verheißung. Freiheit, die wir ohne Mauer erleben, ist für einige auch Enttäuschung und Belastung. Denn Freiheit macht auch Angst. Niemand entscheidet mehr für uns – außer er hat unser ausdrückliches Mandat: Der prinzipielle Unterschied zwischen dem vereinigten Deutschland und der untergegangenen DDR – Kohl kann prinzipiell nicht regieren wie Honecker.

Weil aber viele von uns ihr Leben lang nicht gelernt haben, in Freiheit selbstbestimmt zu handeln, verharren viele im Räsonnieren über das unbekannte Neue und scheuen Selbstreflexion und Trauer über das fremdbestimmte Alte. Sie schämen sich nicht, sich von jenen vertreten zu lassen, die selbst jahrzehntelang keine substantielle Kritik am alten System geübt haben und diese Kritik auch nicht bei anderen duldeten – und die heute völlig gewandelt auftreten.

Diejenigen, die früher am allgegenwärtigen DDR-Militarismus nichts auszusetzen hatten, überraschen uns heute durch ihren Pazifismus.

Diejenigen, die früher selbst Arbeiter in staatlichen Betrieben drastisch ausbeuten ließen und ihnen nicht einmal die betrieblichen Mitbestimmungsrechte und die gewerkschaftlichen Freiheiten gewährten, die die Arbeiterklasse in Jahrzehnten erkämpft hatte, attackieren die Arbeitgeber, die mit freien Gewerkschaften verhandeln, als Kapitalisten.

Diejenigen, die de facto die Gewaltenteilung bei uns abgeschafft hatten, die wichtige Rechtsinstanzen gar nicht kannten und immer wieder das Recht beugten, malen heute das Gespenst einer Bedrohung des Rechtsstaates an die Wand, obwohl die Rechte des Bürgers in unserem Lande in nie gekannter Weise garantiert sind.

So linienförmig, wie sie sich in die totalitäre Macht fügten, so fundamentalistisch kritisieren sie nun demokratische Macht: Opposition im Sonderangebot, die keine Repression und nicht einmal das Risiko zu fürchten hat, für ihre Worte beim Wort genommen zu werden.

Liebe Weimarer,

wir haben uns erinnert an das, worauf wir nicht stolz sein können. Dies taten wir nicht, um uns zu beschämen und zu beschimpfen, um uns zu erniedrigen. Wir haben es getan, weil wir uns beistehen müssen, wenn wir Umkehr finden wollen. So wie wir uns helfen mussten, als wir den aufrechten Gang zu erlernen hatten. Beides sind Akte der Befreiung: Auflehnung gegen Unterdrückung wie Übernahme von Verantwortung in Freiheit – Schritte auf dem Weg zur Subjektwerdung.

Als die Leipziger uns lehrten, Verlorengegangenes wieder zu sehen und auszusprechen »Wir sind das Volk!«, war aus der Verfügungsmasse der Mächtigen das geworden, was Demokraten nach der Abdankung der Könige den Souverän nannten. Wenn wir uns daran erinnern, wie der Untertan zum Souverän wurde, steckt darin auch die Ermutigung, weiter jene Haltung abzulegen, die durch Fesseln und Ketten in uns erzeugt worden ist. Dies wird ein langer Prozess sein. Denn zwei Generationen der Bürgerinnen und Bürger, die im Osten lebten, haben von 1933 bis 1989 als Gebundene gelebt. Und weil wir die Fesseln und die Ketten so lange getragen haben, wird es auch lange dauern, bis wir den freien Atem und die aufrechte Haltung erlernt haben werden.

Wir haben mit dem Motiv des Dankes begonnen, wir schließen auch damit. Wir schließen mit dankbarem Erzählen. Ich erinnere gern an Plauen. Diese Stadt steht heute für alle anderen unseres ehemaligen kleinen Landes. Es ist der 7. Oktober 1989, Staatsfeiertag. Am Abend wird weit über das Vogtland hinaus bekannt sein: Hier haben fast zwanzigtausend Menschen für die Demokratie demonstriert!

Dabei war es nur eine kleine Gruppe, die es gerade schaffte, einige wenige Handzettel herzustellen mit einer einfachen Schreibmaschine. Doch die Wiedergeburt des Souveräns in Plauen vollzog sich, als dieser kurze Text der »Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft« formuliert wurde:

Bürger der Stadt Plauen!

Am 7. Oktober findet auf dem Plauener Theaterplatz

eine Protestdemonstration statt!

Unsere Forderungen lauten:

– Versammlungs- und Demonstrationsrecht

– Streikrecht

– Meinungs- und Pressefreiheit

– Zulassung der Oppositionsgruppe »Neues Forum« sowie anderer unabhängiger Parteien und Umweltgruppen

– Freie, demokratische Wahlen

– Reisefreiheit für alle

Bürger! Überwindet Eure Lethargie und Gleichgültigkeit! Schließt Euch zusammen! Es geht um unsere Zukunft! Informiert die Arbeiter in den Betrieben!

Nach der Massendemonstration war in Plauen neues Selbstbewusstsein entstanden. Es hat uns selbst im fernen Rostock geholfen, als wir unsere Gottesdienste und Demonstrationen organisierten. Ich erinnere mich an das befreite Lachen, als ich eine Erklärung vorlas, die wir aus Plauen erhalten hatten. In dieser Erklärung protestierte die Freiwillige Feuerwehr gegen den Einsatz von Tanklöschfahrzeugen, mit denen gegen die Demonstranten vorgegangen werden sollte:

Das zweckentfremdete Einsetzen von Tanklöschfahrzeugen als Wasserwerfer gegen fast ausschließlich friedliche, unbewaffnete Bürger und Kinder vereinbart sich auf keine Weise mit den Aufgaben der Feuerwehr entsprechend Brandschutzgesetz vom 19. 12. 1974!

Durch diesen Einsatz der Löschfahrzeuge ist das gute Ansehen der Feuerwehr auf das Gröbste geschädigt worden sowie keine Vertrauensbasis mehr vorhanden!

Die Freiwillige Feuerwehr Plauen wird, bis ein Vertrauensverhältnis Bürger – Feuerwehr wieder entstanden ist, keine Maßnahmen im vorbeugenden Brandschutz durchführen, da ich als Wehrleiter die Gefährdung meiner Kameradinnen und Kameraden durch verständliches emotionales Verhalten der Bürger nicht verantworten kann!

Die Einsatzbereitschaft der Freiwilligen Feuerwehr Plauen zur Brandbekämpfung bleibt gewährleistet.

Wir erwarten zu diesen Maßnahmen eine Stellungnahme der staatlichen Organe!

Gerold Kny

Wehrleiter

So konnte man es also auch machen. So eine Tat wirkte ansteckend. Ob Gerold Kny überhaupt weiß, dass wir in Mecklenburg mit ihm verbunden waren?

Sehr verehrte Damen und Herren,

Erinnern kann beides enthalten: Zumutung und Geschenk. Wer die Zumutungen fürchtet und einen Schlussstrich zwischen uns und das Vergangene setzen möchte, der erspart sich für den Augenblick zwar Schmerzen. Er verkennt aber, dass uns aus Wissen auch Kräfte erwachsen, die uns die Gestaltung der Zukunft erleichtern. Das Deutschland, das wir nach der Einheit geschaffen haben, enthält fast alles, wofür wir 1989 gekämpft haben.

Und dennoch ist es voller Unzulänglichkeiten und überwölbt von großen Problemen. Aber gerade deswegen müssen wir uns gegenseitig ermutigen, die Herausforderungen von heute mit dem Mut von 1989 anzunehmen. Wir wollen doch auch noch Freiheit nach der Freiheit wachsen sehen.

4 Auszug aus Joachim Gauck, »Über Deutschland«, in: Weimarer Reden über Deutschland 1994, eine Veranstaltung des Deutschen Nationaltheaters Weimar und der Bertelsmann Buch AG, hg. von der Stadtkulturdirektion Weimar, Weimar 1994, S. 5–15.

5 Egon Krenz löste Erich Honecker am 18. Oktober 1989 als Generalsekretär der SED ab. Er bekleidete das Amt bis zum 3. Dezember 1989, an dem die letzte Sitzung des Zentralkomitees der SED stattfand.

6 Etwa hundertzwanzig Bürgerrechtler wurden bei der offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 verhaftet, als sie Plakate mit dem Zitat von Rosa Luxemburg »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden« zeigen wollten.

7 Die Paulinerkirche wurde am 30. Mai 1968 gesprengt; Leipzig sollte zu einer sozialistischen Großstadt umgestaltet werden. Zu Protesten aus studentischen Kreisen kam es sowohl vor wie nach dem Abriss. 2009 wurde ein moderner Bau eingeweiht.