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Christoph Bausenwein

Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel

VERLAG DIE WERKSTATT

Copyright © 2011 Verlag Die Werkstatt GmbH

ISBN 978-3-89533-814-4

Inhalt

VORSPIEL Ereignisse, Einflüsse, Spielidee

AUFTAKT Hennef oder die Frage
»Wie wird man Bundestrainer?«

I.TEIL DER AUFSTIEG EINES UNSCHEINBAREN

KAPITEL 1 Der unvollendete Profi
oder: Eine Spielerkarriere ohne Höhepunkte

Von Schönau nach Freiburg · Von Freiburg nach Stuttgart · Über Frankfurt zurück nach Freiburg · Über Karlsruhe erneut zurück nach Freiburg

EINWURF Der bodenständige Badener

KAPITEL 2 Als Lehrling in der Schweiz
oder: Ein Erweckungserlebnis in der Fußballprovinz

Fußball-Neuland in Rheinfall-Nähe · Jogi mit Contini in Winti · Spielertrainer beim FC Frauenfeld

EINWURF Die Trainerschmiede Magglingen

KAPITEL 3 Der (zu) nette Herr Löw
oder: Aufstieg und Demontage eines Trainer-Neulings

Der Interimstrainer · Neuer Chef in Stuttgart · Ein Pokalsieger mit Glatze · Führungsmangel und Winterkrise · Demontage eines Trainers · Ende mit Finale · Nachrufe und Lehren

EINWURF Die Fußballprofessoren aus Baden-Württemberg

KAPITEL 4 Reise ins Ungewisse
oder: Erfahrungstrips zwischen Bosporus und Alpenrepublik

Harun Arslans großer Deal · Abenteuer Istanbul · Perfekte Arbeitsbedingungen · Ein tolles Jahr mit »normalem« Ende · Als Wunschkandidat in Karlsruhe · Freche Fragen und nur ein einziger Sieg · Flucht nach Adana · Triumph in Tirol · Die Pleite des Meisters · Von der Arbeitslosigkeit in die Milliardärsfalle

EINWURF Der Blick über den Tellerrand und die Datenbank

KAPITEL 5 Der WM-Sieg als Projekt
oder: Der Revolutionär Klinsmann und sein Fußball- Lehrer

Alles andere als ein Hütchenaufsteller · Spielphilosophie, Fußballkultur und allerlei Superlative · Crashkurs in der Taktik-Grundschule · Entengang und Gummitwist · Asienreise mit Psychologe · Mit Chefscout im Confed-Cup · Kritik und Gegenkritik · Die Idee mit dem Technischen Direktor · Italien-Desaster und Klinsmann-Frage

KAPITEL 6 Sommermärchen mit Chef-Duo
oder: Der Bundestrainer 1b als Taktikflüsterer

Nominierungspuzzle mit Überraschungen · Fitnesseinheiten und Taktikstunden · Die Lehre von Costa Rica · Der DFB-Zug kommt ins Rollen · Zitterpartie und Halbfinal-K.o. · Die Bilanz: Fröhlich am Rand des Wahnsinns

II. TEIL DER BUNDESTRAINER UND SEINE TURNIERE

KAPITEL 7 Der logische Klinsmann-Erbe
oder: Auf dem Weg zum selbstverständlichen Chef

Der Assistent wird Chef · Der Hansi als neuer Jogi · »Mehr als Klinsmanns Schattenmann« · Der geplante Sieg · Der Projekt-Vollender · Der coole Jogi

EINWURF Jogis Coolness – Lässiger Genuss,
Stilbewusstsein und Lust am Risiko

KAPITEL 8 Auf Bergtour
oder: Stresstest für den Konzepttrainer

Der Zugspitz-Kader · Perfektes Trainingslager · Ein Drama in Klagenfurt · Platzverweis in der Coaching-Zone · Der Bundestrainer hinter Milchglas · Über die Türken nach Wien · Chancenlos gegen »Tiqui-taca«

EINWURF Werbestrategie und Imagemanagement

KAPITEL 9 Eine Mannschaft wird geboren
oder: Leistungssteigerung durch Jugendkraft

Holpriger Start in die WM-Qualifikation · Der Beschluss zum Systemwechsel · Bewährungsprobe auf Kunstrasen · Tod eines Torwarts · Der vorläufige Kader für Südafrika · »Schleusentage« und Spielerausfälle

KAPITEL 10 Viele Sternchen in Südafrika
oder: Über die Kunst, auch ohne Titel zu erfreuen

Im balkanischen Tal des Jammers · Deutsche Geparden jagen Albions Löwen · Wirbelsturm über Weiß-Himmelblau · Spanien wieder Endstation · Die WM-Bilanz: Ohne Titel, aber voller Freude · Pläne, Ehrungen und Tränen

KAPITEL 11 Durchmarsch und forsche Töne
oder: Den Titel fest im Visier

Die nächste Generation · Zwischen Wunsch und Wirklichkeit · Umbruch mit höchstem Anspruch · Zwischenbilanz nach optimaler Punktausbeute

III. TEIL DIE NATIONALMANNSCHAFT ALS FIRMA LÖW

KAPITEL 12 Der Löw’sche Verhaltenskodex
oder: Die Trainer-Autorität in der Leitwolf-Probe

Konsensstil mit Grenzen · Der Ballack-Bierhoff Konflikt · Kuranyi-Flucht und Frings-Gemaule · Der »Imperator« stutzt den Kapitän · Verhaltenskatalog mit strengen Regeln · Eiszeit in der Nationalelf · Ende eines langen Abschieds · Die Podolski-Ohrfeige · Niemand vermisst den »Capitano« · Ein unrühmliches Ende · Lahm und der feine Unterschied

EINWURF Miro & Poldi –
Nominierungspraxis mit Urvertrauen

KAPITEL 13 Die Normierung der DFB-Ausbildung
oder: Vertragsquerelen, Spielphilosophie und Sportdirektor-Frage

Die gescheiterte Vertragsverlängerung · Friedensschluss im Flieger · Sammer-Philosophie und Peters-Dolchstoß · Streitpunkt U21-Nationalmannschaft · Der Kampf um Adrion · Der Trainerausbilder Wormuth · »Chef unter den sportlichen Führern« · Der Auftrag: Gemeinsam zum Titel

KAPITEL 14 Konfliktfeld Bundesliga
oder: Die Nationalelf als Feindbild und Vorbild

Dornröschenschlaf und Füße aus Malta · Kritik durch statistische Fakten · Die Liga wehrt sich · Klinsmann-Desaster und Löw-Lob

EINWURF Jeder Spieler seine eigene Firma

KAPITEL 15 Der Philosoph auf der Trainerbank
oder: Von der täglichen Arbeit am perfekten Spiel

Spielidee: Offensivfußball mit Spielkultur und Risiko · Lehrmethode: Klare Anleitungen mit eindeutigen Beweisen · Struktur: Mit höchster Disziplin zur kunstvollen Form · Taktik: Wie man möglichst schnell zum Torschuss kommt · Grundlagen 1: Fußball ist wie Autofahren · Grundlagen 2: Tempo ist alles · Grundlagen 3: »Körperlos« spielt man schneller · Grundlagen 4: Nach dem Spielen muss man gehen · Kriterien: Warum die Spieler zur Philosophie passen müssen · Kritik: Wenn das Offensivspiel »reagierend« wird · Weiterungen: Fußball ist mehr als nur ein Spiel

Bilder

Schlusswort

Danksagung

Karrieredaten von Joachim Löw

VORSPIEL

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Ereignisse, Einflüsse, Spielidee

Fragen an Bundestrainer Joachim Löw

Herr Löw, bevor Sie im Jahr 2004 Assistent von Bundestrainer Jürgen Klinsmann wurden, waren Sie bei Austria Wien entlassen worden. Hatten Sie nach dem Ende in Wien eigentlich andere Pläne?

»Als entlassener Trainer hatte man damals keine großen Pläne. Ich hätte mich weitergebildet und ich hätte auf die nächste Chance gewartet.«

War die Ernennung zum Klinsmann-Assistenten nur Zufall bzw. eine glückliche Fügung?

»Ich glaube nicht, dass es nur eine glückliche Fügung war. Ich habe gemeinsam mit Jürgen Klinsmann den Trainerlehrgang im Jahre 2000 gemacht, und ich denke, dass ich ihn in diesem Lehrgang überzeugt habe. Jürgen Klinsmann hat ja immer einen kleinen Kreis von Leuten um sich herum, mit denen er zusammenarbeitet. Aber das heißt nicht, dass er von diesen Leuten wenig verlangt oder sie nur einstellt, weil es Kumpels sind.«

Bedauern Sie manchmal, kein Vereinstrainer mehr zu sein?

»Nein, ich bedauere das nicht. Es sind zwei unterschiedliche Aufgaben. Ein Vereinstrainer kann sich bei vielen internationalen Vereinen beispielsweise einen rechten Mittelfeldspieler aussuchen, wenn er einen braucht. Bei mir spielen andere Faktoren eine Rolle. Ich muss mir aus einem feststehenden Reservoir die Spieler aussuchen.«

Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Qualität eines Bundestrainers? Innere Berufung, Fleiß und Hartnäckigkeit, fachliches Können – was kommt an erster Stelle?

»Da möchte ich keine Unterschiede machen. Fleiß und Hartnäckigkeit nützt nichts ohne fachliches Können usw.«

Heute kommt kein Trainer mehr ohne Computeranalyse und wissenschaftliche Unterstützung aus. Ist also nicht vielmehr das überlegene Wissen am wichtigsten?

»Nein, das glaube ich nicht. Die wichtigste Qualität eines Bundestrainers ist, ein Konzept zu haben, eine Spielidee, und diese mit den Spielern umzusetzen und auch bei Widerständen durchzusetzen.«

Gibt es für diese Spielidee, den Stil, den Sie spielen lassen, prägende Vorbilder?

»Am meisten entspricht dies schon meinen eigenen Vorstellungen. Schnell nach vorne, technisch gut, direkt, flach. Kein großes Taktieren, Zufälle möglichst ausschalten. Dies entspricht meiner Mentalität und auch meiner Auffassung vom Fußball.«

Aber es gab natürlich Einflüsse. Sie haben Ihre Fußballkarriere in der Schweiz beendet und dann auch dort, in Magglingen, mit Ihrer Trainerausbildung begonnen.

»Die Einflüsse kamen nicht nur aus Magglingen, sondern aus dem gesamten Schweizer Fußball. Bei diesem Fußball habe ich schon immer eine gute Basis gesehen mit verschiedenen Einflüssen und auch mit verschiedenen und interessanten Sichtweisen. Dies kam auch bei der Trainerausbildung in Magglingen zum Ausdruck.«

Was betrachten Sie als das wichtigste Element Ihrer Spielidee oder Spielphilosophie?

»Das Spieltempo, das Umschalten von Abwehr auf Angriff, was heutzutage fast schon kein Umschalten mehr ist, weil alles fast schon direkt ineinander übergeht.«

Die taktischen Entwicklungen bei der Nationalmannschaft gelten als vorbildhaft für die Bundesliga. Gibt es auch in umgekehrter Richtung einen Ideentransfer?

»Ich habe ein Problem damit, wenn immer drüber diskutiert wird, wer wen inspiriert hat, wer welche Idee hat. Wir haben unsere Entwicklung in der Nationalmannschaft – und es gibt aber auch Entwicklungen bei Borussia Dortmund, Bayern München oder allen anderen Vereinen. Jeder hat seine Aufgaben, sein Umfeld und seine Vorstellungen – da sollte man nicht werten zwischen gut und schlecht, zwischen modern und unmodern. Ob und wie es Ideentransfers gibt – ich weiß es nicht. Es gab schon immer Entwicklungen im Fußball – in alle Richtungen.«

Der englische Taktikexperte Jonathan Wilson interpretierte das Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2010 – im Gegensatz zum »aktiven« der Spanier – als »reaktiven Fußball«, also als Konterfußball. Stimmen Sie ihm zu?

»Nein. Das war vielleicht zwischen 2006 und 2008 so – aber inzwischen spielen auch wir einen sehr ›aktiven‹ Fußball.«

Glauben Sie, dass Ihre Vorstellungen vom Fußball – abgesehen von plakativen Stichworten – in den Medien korrekt wiedergeben werden, bzw. überhaupt korrekt wiedergegeben werden können?

»Eine schwierige Frage. In den Medien kann die Idee eines Trainers nur grob wiedergegeben werden. Was über diese grobe Linie hinausgeht, ist dann doch arg fachspezifisch.«

Weg vom Fachspezifischen, hin zu den Emotionen: Welchen Augenblick in Ihrer Karriere haben Sie als den schönsten empfunden?

»Es gibt keinen einzelnen Moment, den ich da herausheben möchte. Natürlich waren die Spiele in Südafrika gegen England und auch gegen Argentinien große Momente. Aber auch der Sieg mit dem VfB Stuttgart im DFB-Pokalfinale 1997 war eine gute Sache. Ich bin keiner, der an einzelnen Augenblicken hängt.«

Wann hatten Sie es als Trainer am schwersten?

»Schwierig ist manchesmal, wenn ein Spieler in seiner individuellen Art sehr gut ist, auch charakterlich sehr stark ist – sein Spiel aber trotzdem nicht in unsere Philosophie passt. Wir können ja nicht die elf besten Spieler aufstellen, sondern brauchen die beste Elf. Das ist manches Mal schwierig, weil diese Spieler diese Dinge naturgemäß anders sehen als die Trainer.«

Haben Sie auch mal was falsch gemacht? Gibt es Entscheidungen, die Sie bereuen?

»Das muss man im Fußball differenziert sehen. Wenn ich eine Entscheidung unter den gegebenen Umständen treffe, bin ich mir hundertprozentig sicher, dass sie richtig ist. Natürlich gibt es im Fußball manches Mal Einflüsse, dass sich diese Entscheidung am Ende doch als falsch herausstellt. Damit muss ein Trainer immer leben. Aber es ist wichtig, dass er sich in dem Moment, in dem er die Entscheidung trifft, alle Möglichkeiten überlegt hat und sich seiner Sache sicher ist.«

Joachim Löw auf Fragen des Autors, 26. August 2011

AUFTAKT

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Hennef oder die Frage

»Wie wird man Bundestrainer?«

Nach dem Gewinn des Europameistertitels 1996, der im Finale von London durch ein »Golden Goal« von Oliver Bierhoff gegen Tschechien gelang, ging es mit dem deutschen Fußball rapide bergab. Bei der WM 1998 gab es im Viertelfinale gegen Kroatien ein beschämendes 0:3, Berti Vogts quittierte daraufhin seinen Job als Bundestrainer. Sein Nachfolger Erich Ribbeck, dessen Trainer-Knowhow sich durch nicht viel mehr als die Reaktivierung des bereits aussortierten Alt-Liberos Lothar Matthäus und den Leitspruch »Konzepte sind Kokolores« auszudrücken schien, führte die DFB-Elf auf einen noch nie dagewesenen Tiefpunkt. Bei der EM in den Niederlanden und Belgien schied Deutschland erstmals in seiner Fußballgeschichte bereits in der Vorrunde eines großen Turniers aus. Nach einem 1:1 gegen Rumänien und einem 0:1 gegen England ging die deutsche Elf am 20. Juni 2000 in Rotterdam gegen Portugal sang- und klanglos mit 0:3 unter.

Die Erinnerung an dieses deprimierende Debakel kann dem deutschen Fußballfan immer noch einen eiskalten Schauder über den Rücken jagen. Jammern muss er inzwischen freilich nicht mehr, denn es hat sich einiges getan. Zehn Jahre danach ist der deutsche Fußball wieder obenauf und kann, wie vor allem die WM 2010 in Südafrika zeigte, nicht nur die eigenen Fans begeistern. Ursache für den Wandel ins Positive waren zahlreiche Veränderungen, die man unmittelbar nach der EM-Pleite von 2000 eingeleitet hatte. Die Tatsache, dass es in Deutschland heute wieder zahlreiche Talente gibt, ist vor allem der von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) getroffenen Entscheidung zu verdanken, die Vergabe einer Lizenz für die Bundesliga seit der Saison 2001/02 an die Verpflichtung zu binden, ein eigenes Nachwuchsleistungszentrum zu betreiben. Und dann sind natürlich vor allem die Veränderungen an der Spitze der Nationalelf zu nennen, die Revolution in Trainingsmethoden und Spielphilosophie beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), die Jürgen Klinsmann im Jahr 2004 einleitete und die Joachim Löw seit 2006 fortführt und verfeinert.

Weniger bekannt ist, dass der Keim der Wiederauferstehung der deutschen Nationalmannschaft fast zeitgleich zum großen Desaster vom Juni 2000 gelegt wurde. Und zwar im südostlich von Köln zwischen Westerwald und Bergischem Land gelegenen Hennef, an der Sportschule des Fußballverbandes Mittelrhein. Dort hatten die Teilnehmer eines Trainer-Sonderlehrgangs für verdiente Nationalspieler des DFB in der Woche vor dem Desaster von Rotterdam ihre Prüfungen abgelegt.

Begonnen hatte der erste Teil des Lehrgangs am 3. Januar. Man habe schon länger überlegt, einen Sonderlehrgang abzuhalten, erläuterte der DFB-Chefausbilder Gero Bisanz zum Auftakt. Initiator war der ehemalige Bundestrainer Berti Vogts, der erst nach lange anhaltendem Widerstand im DFB seine Idee hatte durchsetzen können. Ziel der Sache war, ehemalige Nationalspieler dem Fußball als Trainer zu erhalten. Weil man ihnen das Angebot machen wollte, die Trainerlizenz auf verkürztem Weg zu erhalten – mit 240 statt den sonst üblichen 560 Unterrichtsstunden –, hatte es vor allem von den »normal« ausgebildeten Bundesligatrainern heftige Kritik wegen dieser »Sonderbehandlung« gegeben. Es seien die gleichen Inhalte und die gleichen Dozenten wie bei dem sechsmonatigen Lehrgang, wehrte Ausbildungsleiter Bisanz jedoch alle Einwände ab. Alles sei nur dichter gepackt, geschenkt werde keinem etwas.

Nachdem die Sache dann endlich abgesegnet war, hatte der DFB den auf Anhieb von der Idee begeisterten Jürgen Klinsmann als Akquisiteur angeheuert. Der ehemalige Torjäger, der seine Nationalmannschaftskarriere zwei Jahre zuvor bei der WM in Frankreich beendet hatte, startete einen Rundruf bei ehemaligen Kameraden, die als Teilnahmebedingung mindestens 40 Länderspiele bestritten und einen Welt-oder Europameistertitel errungen haben sollten. Es kam die Creme de la Creme deutscher Ex-Internationaler, allein acht Weltmeister von 1990 und zahlreiche Spieler aus dem Kader des Europameisters von 1996.

Neben ehemaligen Stars wie Jürgen Kohler, Matthias Sammer, Andreas Köpke, Dieter Eilts, Guido Buchwald, Pierre Littbarski oder Stefan Reuter durften mit den Ex-Nationalspielerinnen Doris Fitschen und Bettina Wiegmann auch zwei Frauen per Schnellkurs ihr Fußball-Lehrer(in-nen)-Diplom erwerben. Dazu konnten einige der insgesamt 19 Teilnehmer mit einer »Sondergenehmigung« antreten. Unter ihnen waren der bulgarische Nationalspieler Krassimir Balakov, der aufgrund eines Kooperationsvertrages mit dem bulgarischen Fußballverband zugelassen wurde, und sein ehemaliger Trainer beim VfB Stuttgart, Joachim Löw. Der heutige Bundestrainer, der 1997 mit dem VfB Pokalsieger geworden war und sich nach seiner Entlassung bei Fenerbahce Istanbul als Trainer versucht hatte, war inzwischen beim Zweitliga-Absteiger Karlsruher SC gelandet und trotz seiner nun schon mehrjährigen Trainertätigkeit noch immer nicht im Besitz einer vom DFB anerkannten Lizenz. Die sollte er also jetzt endlich nachholen.

Es waren arbeitsreiche Tage. In dichter Abfolge standen Taktik und Trainingsführung, Psychologie und Rhetorik sowie Sportmedizin auf dem Programm, die Diskussionen in den Arbeitsgruppen dauerten teilweise bis in den späten Abend an. »Weil das Programm so komprimiert war, entstand bald eine sehr intensive Arbeitsatmosphäre«, erinnert sich Bisanz. Und er war begeistert von den Qualitäten seiner Teilnehmer. Fast alle hatten das Spiel selbst auf höchstem Niveau betrieben und ihre Erfahrungen ausgiebig reflektiert. Weil sich die meisten der Teilnehmer bereits sehr gut kannten und die Außenseiter inklusive der beiden Frauen hervorragend integriert wurden, habe sich ein besonderes Gruppengefühl eingestellt. Bisanz sprach von einer »verschworenen Gemeinschaft«. Als Sprecher der Gruppe hatte sich schon bald der mit einer natürlichen Autorität ausgestattete Klinsmann herauskristallisiert. Was er einmal mit seinem Trainerschein beginnen wollte, hatte der Schwabe, der sich auch in seiner Wahlheimat Kalifornien gezielt in Sachen Fußball weitergebildet hatte, freilich noch nicht entschieden. Er sah darin erstmal »eine weitere Option für die Zukunft«.

Klinsmann fand in Hennef Gefallen am Trainerjob, an der Aufgabe zumal, die Komplexität des Spiels zu durchdringen und anderen zu vermitteln. Laut Bisanz hatte er auch Talent bewiesen. Er habe während der Übungen mit einem ausgeprägten Sinn für »die Fußballstruktur« die Fehler gesehen und auf den Punkt gebracht. Andere scheinen aber noch besser gewesen zu sein. Insbesondere sein Lehrgangskamerad Joachim Löw, ein Mann mit bemerkenswert »geradliniger Denkweise«. Der habe ihm in nur zwei Minuten die Vorteile einer Viererkette erklären können. »Ich war 18 Jahre Profi«, soll der schwer beeindruckte Klinsmann zu seinem Banknachbarn Guido Buchwald gesagt haben, »aber kein einziger meiner Trainer konnte mir das so vermitteln.«

Diese nette Geschichte, die gleichsam die Qualität eines Ritterschlags haben sollte, wird Klinsmann nach der vier Jahre später erfolgten Ernennung Löws zu seinem Assistenten immer wieder mal erzählen. Vorerst freilich hatte die Tatsache, dass Klinsmann von Joachim Löws theoretischem Wissen und didaktischem Können beeindruckt war, noch keine Konsequenzen. Der Bundestrainer in spe ging wieder nach Kalifornien zurück, und der in Karlsruhe erfolglose Zweitligatrainer sollte nach einer Kurzzeit-Pleite im türkischen Adana versuchen, in Österreich beim FC Tirol sowie bei Austria Wien wieder in die Erfolgsspur zurückzufinden.

Bei der deutschen Nationalmannschaft trat indessen Besserung ein. Der allseits beliebte Ex-Stürmerstar Rudi Völler übernahm zunächst interimsweise das Amt des Bundestrainers für den ab 2001 vorgesehenen Leverkusener Trainer Christoph Daum, der dann schlagenzeilenträchtig gescheitert war, weil ihm Kokainkonsum nachgewiesen wurde. Unter »Ruuudi« ging es von den Ergebnissen her wieder aufwärts, auch wenn die Ästhetik des deutschen Spiels oft recht zu wünschen übrig ließ. Das glückliche Erreichen des mit 0:2 gegen Brasilien verloren gegangenen WM-Finales von 2002 musste geradezu als sensationell eingestuft werden. Doch mit der vorübergehenden Euphorie war es bald wieder zu Ende. Auf heftige Kritik nach mauen Spielen gegen Gegner wie Island und die Färöer platzte Völler mehrfach der Kragen. Mehr gebe das Potenzial des deutschen Fußballs eben nicht her, meinte er. Schließlich wurden die realen Möglichkeiten der deutschen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2004 in Portugal auf drastische Weise bloßgelegt. Die Bilanz von »Rudis Rumpelfüßlern«: eine gute Halbzeit beim 1:1 gegen die Niederlande, ein torloses Unentschieden gegen Lettland und schließlich eine demütigende 1:2-Niederlage gegen Tschechiens B-Elf – und damit ein erneutes Aus in der Vorrunde. Wer’s gesehen hat, der wird nie vergessen, wie der ratlos-deprimierte Rudi Völler nach dem letzten Spiel zu den deutschen Fans ging und achselzuckend anzeigte: »Mehr war nicht drin. Wir haben alles versucht.« Einen Tag später trat er zurück. Völler hatte eingesehen, dass nach dieser Mega-Pleite sein Kredit aufgebraucht war und er damit einem unübersehbar notwendig gewordenen fundamentalen Neuanfang nur im Wege stehen würde.

Die DFB-Führung verfiel in eine geradezu bestürzende Ratlosigkeit. Niemand hatte eine Ahnung, wer den Job nun übernehmen könnte. Denn im Grunde war der von den Fans selbst in der Pleite immer noch gefeierte Rudi Völler (»Es gibt nur ein’ Rudi Völler«) die einzig übriggebliebene Lichtgestalt am sich bedrohlich verdunkelnden Fußballhimmel Deutschlands. Viele gute Möglichkeiten blieben da nicht. DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder präsentierte zunächst seinen Wunschkandidaten Ottmar Hitzfeld als sicheren neuen Bundestrainer. Dieser sagte aber wieder ab. Nun gründete sich eine seltsame »Trainerfindungskommission«, bestehend aus Franz Beckenbauer, Werner Hackmann, Horst Schmidt und eben Mayer-Vorfelder. Allerlei Namen wurden gehandelt, unter anderem Otto Rehhagel, doch auch nach vier Wochen dilettantischen Werkelns war der DFB noch immer nicht in der Lage, einen Trainer zu präsentieren. Und dann tauchte plötzlich, ins Spiel gebracht vom Ex-Bundestrainer Berti Vogts, ein ganz neuer Name auf: Jürgen Klinsmann.

Es war die Riesenüberraschung des Fußballjahres 2004. Tatsächlich durfte der inzwischen in Kalifornien ansässige ehemalige Stuttgarter Stürmerstar, Weltenbummler (AS Monaco, Inter Mailand, Tottenham Hotspurs), Welt- und Europameister das höchste Amt in Fußball-Deutschland übernehmen. Kurz nach seiner Inthronisierung erinnerte er sich an den Viererketten-Versteher von Hennef und kürte ihn zu seinem Assistenten. Alle wunderten sich: Was wollte Klinsmann denn mit diesem Löw, den man als Spieler kaum wahrgenommen hatte, der als Trainer des VfB Stuttgart nur kurzzeitig erfolgreich gewesen und dann in der Türkei und Österreich jenseits des großen Fußballs untergetaucht und inzwischen beinahe schon vergessen war?

Der Amstantritt des Trainerteams Klinsmann/Löw war der Beginn einer radikalen Umwälzung im DFB, die bis heute anhält und zu einer begeisternden Attraktivität des deutschen Spiels geführt hat, die sich damals, im grauenvollen Sommer des Jahres 2000, wirklich niemand ernsthaft hatte vorstellen können. Damals war Joachim Löw ein Nobody, heute ist der Mann, der 2006 das Klinsmann-Erbe als Chef übernommen hat, der Liebling der Nation. So erstaunlich diese Entwicklung von außen betrachtet aussehen mag, so nachvollziehbar wird sie für den, der die innere Konsequenz des Hauptakteurs in den Fokus stellt. Den Traum vom perfekten Spiel hegte Joachim Löw schon zu einer Zeit, als er von der großen Öffentlichkeit noch gar nicht wahrgenommen wurde. Heute entfaltet er ihn in gereifter Form an höchster Stelle mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit. Er interpretiert den Job des Bundestrainers inzwischen in einer Art und Weise, dass Amt und Person beinahe zu verschmelzen scheinen. Man kann sich kaum vorstellen, von wem er jemals ersetzt werden könnte. Und dabei weiß man nach wie vor nur sehr wenig über diesen Mann, der spätestens seit der WM 2010 beinahe wie ein natürlicher Herrscher über dem deutschen Fußball zu thronen scheint. So wird es Zeit, den Weg Joachim Löws ein wenig zu erhellen und aufzuzeigen, wie sein Traum vom perfekten Spiel sich entwickelt hat.

I. TEIL

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Der Aufstieg eines Unscheinbaren

KAPITEL 1

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Der unvollendete Profi

oder: Eine Spielerkarriere ohne Höhepunkte

Ein 40 Kilometer von Freiburg entfernter, kaum 3.000 Einwohner zählender Luftkurort im südlichen Schwarzwald, ein zwischen Wiesen, Bergen und Wäldern eingebettetes Urlaubsidyll zwischen dem Feldberg und der Schweizer Grenze bei Lörrach, die Stadt Schönau, ist die Heimat des späteren Bundestrainers. Hier wuchs der am 3. Februar 1960 geborene Sohn eines Ofensetzermeisters als ältester von vier Brüdern auf, hier besuchte er die Grundschule, hier war er in der Dorfkirche Ministrant, hier ging er in das Gymnasium, das er im Juni 1977 vorzeitig abbrach und mit der mittleren Reife verließ, hier entdeckte er seine Begabung und seine Liebe für den Fußball.

Es war ein einfaches und erdgebundenes Aufwachsen in einer überschaubaren Welt. Die vor dem Krieg aus dem etwa 80 Kilometer entfernt gelegenen Schwarzwaldort Hornberg zugezogene Familie Löw war in Schönau bestens etabliert. Die Löws hatten es in der Wirtschaftswunderzeit zu allgemeiner Anerkennung gebracht; sie gehörten zu denen, die es, wie es so schön heißt, »geschafft« hatten. Der Opa besaß einen Lebensmittelladen, Vater Hans, Jahrgang 1921, zählte als Chef seines kleinen Handwerksbetriebs – etwa 20 Arbeiter bauten unter seiner Regie Kachelöfen – zu den Bessergestellten des Ortes, Mutter Hildegard sorgte als gute Köchin für das leibliche Wohl, unter der Woche einfache Küche mit Brägele (Bratkartoffeln) und Bubespitzle (Schupfnudeln), sonntags mit Fleisch, sehr häufig in Form des geradezu legendären Sauerbratens. Das Leben in der badischen Provinz war beschaulich und genügsam, geprägt vom ehrlichen Fleiß einer Nachkriegsgeneration, der schon die sonntägliche Genuss-Zigarre des Ofensetzers Hans Löw wie ein unerhörter Luxus erschien. »Schönau ist meine Heimat, und ich bin stolz darauf, dort in einer intakten Familie groß geworden zu sein. Unser Leben war klar und einfach strukturiert«, sagt Joachim Löw.

Der heutige Bundestrainer, der schon von Kindesbeinen an von allen nur »Jogi« genannt wurde, war ein unauffälliger Schüler und braver Bub, der am Sonntag in der katholischen Kirche ministrierte, nur selten gab es wegen kleiner Sünden mal eine Ohrfeige vom Vater oder vom Großvater. »Es gab klare Regeln in Bezug auf Respekt, Höflichkeit und Anstand«, benennt Joachim Löw das von den Eltern vermittelte Normengerüst, das bis heute seine moralischen Vorstellungen bestimmt. »Das ist aber nicht so zu verstehen, dass lange Ansprachen gehalten worden wären, die Eltern haben es einfach vorgelebt.« Und so führten die Löw-Jungs ihr Kinderleben artig und bescheiden, es war keine Generation, die verhätschelt und verwöhnt wurde. Modische Ansprüche stellte der heute so gestylte Bundestrainer noch keine, manche Jacke wurde vom Älteren zum Nächstjüngeren weitergereicht, größte Vergnügen waren ab und zu mal eine Party oder ein Gang ins Kino nach Freiburg, in den Ferien ging es nicht auf weite Auslandsreisen, sondern nur ins Schwimmbad.

Und dann gab es natürlich noch den Fußball. Alle Löw-Söhne rannten dem Ball hinterher. Nicht nur Joachim sollte es zum Profi schaffen, auch der Zweitjüngste, Markus, wird wie sein älterer Bruder später eine Zeit lang beim SC Freiburg kicken. Der Drittjüngste, Christoph, war angeblich der Talentierteste, sollte aber andere Interessen entwickeln und ein Studium absolvieren. Und Peter, der Jüngste, wird später das Vereinsheim des FC Schönau im kleinen Buchenbrandstadion übernehmen. Vielleicht hätte auch einer seiner Brüder Karriere im Fußball machen können, meint Joachim Löw. »Aber es müssen im Fußball viele Komponenten zusammenkommen. Und dazu gehört neben Talent und Ehrgeiz auch die nötige Portion Glück.«

Von Schönau nach Freiburg

Jogi spielte zunächst für die Turn- und Sportfreunde Schönau von 1896, mit denen er 1970 seinen ersten Titel errang: Bezirksmeister der D-Jugend. Später wechselte er zum Konkurrenzverein FC. Fußball war sein Leben. »Jeden Tag nach der Schule habe ich mit Freunden auf der Straße gespielt«, erzählt er, stundenlang. Auch ehemalige Mitspieler beschreiben ihn als enorm ehrgeizig. »Selbst den Weg zum Training und zurück hat er mit dem Ball am Fuß zurückgelegt«, erinnert sich Hansi Schulzke. Dietmar Krumm, Amtsleiter in Schönau und Jugendleiter des FC, bezeichnet den jungen Jogi, der einfach »dauernd mit dem Ball unterwegs« gewesen sei, als das »Jahrhunderttalent« von Schönau. Viele Jahre habe er mit dem heutigen Bundestrainer gemeinsam in der Jugend gespielt. »Jogi war zwar jünger als wir, kickte aber immer eine Altersstufe höher. Er war ein prima Kumpel, auf den man sich immer verlassen konnte. Wir beide hatten damals nur Fußball im Kopf.« Die Freundschaft hielt über die Jugend hinaus. Nach der Ernennung zum Bundestrainer schrieb Krumm als einer der Ersten eine Glückwunschmail – Löw antwortete sofort. Und natürlich blieb der berühmteste Fußballer aus Schönau seinem Heimatverein bis heute eng verbunden. Am 24. Juli 2007, zur Eröffnung des neuen Kunstrasenplatzes im Buchenbrandstadion, erschien der Bundestrainer selbstverständlich höchstpersönlich.

Jogis großer Förderer war Wolfgang Keller, eine Schönauer Trainer-Legende, durch dessen Lehre mehrere spätere Profis gegangen waren. Keller nahm seine Aufgabe ernst, trimmte seine Jungs in Trainingslagern, machte sie mit Deuser-Gummibändern fit und lehrte sie das Offensivspiel mit direktem Zug zum Tor. Die Schülerteams des FC Schönau waren weithin gefürchtet für ihre Torgefährlichkeit. Und der Jogi, so heißt es, habe die Hälfte aller Tore geschossen. »Seine Stärke war das Eins-gegen-eins, und der Abschluss«, so Keller. »In einem Spiel hat er mal 18 Tore geschossen, das war Rekord.« Obwohl er immer der Jüngste gewesen sei, erzählt Keller, habe er sich durchgesetzt. Er sei aber nicht nur eine Riesenbegabung gewesen, sondern zudem »charakterlich einwandfrei«. Bis zum 16. Lebensjahr hat Keller den talentierten und fleißigen Jugendspieler betreut, oft hat er ihn abgeholt und nach Auswärtsspielen vor dem Elternhaus wieder abgesetzt.

Die nächste wichtige Bekanntschaft des ehrgeizigen Fußballers Jogi Löw war ein Altersgenosse, Henry Schüler, mit dem er bei einem Lehrgang in der südbadischen Sportschule Steinbach zusammentraf. Schülers Vater Gerhard war sehr engagiert im Nachwuchsbereich von Eintracht Freiburg, einem damals für seine gut geführte Jugendabteilung weithin bekannten Verein. Er überredete das bereits von zahlreichen Vereinen wie dem FC Basel oder dem Freiburger FC umworbene Talent aus Schönau, sich der Eintracht anzuschließen. Erster Anlass für den Umzug nach Freiburg, wo er zunächst als »Gastsohn« bei der Familie Schüler unterkam, war freilich eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann, die er nun begann. Außerdem, so sollte der erwachsene Joachim Löw erläutern, habe er sich damals ganz bewusst vom Elternhaus abnabeln wollen. Der Vater sei zwar stolz gewesen auf seinen talentierten Sohn, habe ihn auch unterstützt, aber er sei letztlich »alles andere als ein ›Fußball-Vater‹« gewesen: »Für ihn war wichtiger, dass ich vor Beginn der Profikarriere meine Ausbildung abschloss.« Also nahm der Sohn seine berufliche Ausbildung ernst und versuchte daneben, sein fußballerisches Können in der A-Jugend der Eintracht zu perfektionieren. Schließlich fand der 17-Jährige, der trotz seines geringen Monatseinkommens von rund 500 DM bald eine eigene kleine Wohnung beziehen sollte, über die Eintracht (und die Berufsschule) auch sein privates Glück: Er lernte Daniela kennen und lieben, die Tochter des damaligen Eintracht-Vereinsvorsitzenden Hans Schmid, seine spätere Frau.

Von Freiburg nach Stuttgart

Im Jahr 1978 war der SC Freiburg nicht zuletzt dank der Tore von Wolfgang Schüler in die 2. Liga Süd aufgestiegen. Der ältere Bruder des Löw-Freundes Henry Schüler hatte seine fußballerische Grundausbildung ebenfalls bei der Eintracht absolviert. Kein Wunder also, dass sich die Breisgauer auf der Suche nach Nachwuchs-Talenten erneut bei der Eintracht umsahen und schließlich den 18-jährigen Torjäger Jogi Löw verpflichteten. Der hatte da bereits ein Jugend-Länderspiel bestritten und sich den Ruf als eines der größten Talente Südbadens erworben. Der 1,79 Meter große Schlaks mit dem Pilzkopf kam ab dem 2. Spieltag zum Einsatz und erlebte einen fürchterlichen Auftakt: 0:5 in Offenbach, 0:5 gegen Homburg, 0:2 in Fürth. Dann ging es mit einem 4:3-Sieg gegen Saarbrücken endlich aufwärts. Seinen ersten Treffer erzielte das grazile Sturmtalent am 9. Spieltag zum 2:0 gegen Baunatal (Endstand 3:1). Unter Trainer Heinz Baas, der den erfolglosen Manfred Brief abgelöst hatte, etablierte sich der Neue als Stammspieler. Als der erhoffte Torjäger erwies er sich jedoch noch nicht: Er erzielte in dieser Spielzeit nur noch drei weitere Treffer.

In der nächsten Saison unter Jupp Becker, ehemaliger Nachwuchscoach des VfB Stuttgart und ein ausgemachter Verfechter des Angriffsfußballs, lief es wesentlich besser. Löw machte alle Spiele mit – in der damaligen 20er-Liga waren das 38 – und erzielte 14 Tore. In derselben Spielzeit verdiente er sich zudem internationale Lorbeeren. Am 10. Oktober 1979 erhielt er seine erste Berufung in die damals von Berti Vogts betreute Juniorenauswahl (U21) des DFB. Beim 0:1 gegen Polen in Thorn wurde er in der zweiten Hälfte für Klaus Allofs eingewechselt. Bis zum Frühjahr 1980 folgten drei weitere Spiele an der Seite von späteren Fußballgrößen wie Lothar Matthäus, Rudi Völler, Pierre Littbarski und Bernd Schuster. »Dort gab es schon ein gewisses Niveau, und ich war eine feste Größe«, wird Löw noch Jahre später nicht ohne Stolz erzählen.

Es war bei dieser Leistungsbilanz kein Wunder, dass der stilbewusste junge Offensivspieler, der – wie damals nicht unüblich – eine Vorliebe für Schlaghosen hatte und modische Hemden mit ganz langen Krägen, der zudem einen Schnäuzer trug und einen Ring im linken Ohr, den Talentjägern der großen Bundesligavereine ins Auge gefallen war. Es gab Angebote von Bayern, Schalke, Frankfurt und dem VfB. Löw entschied sich schließlich für die Stuttgarter, die eine für damalige Verhältnisse recht üppige Ablöse von 500.000 DM hinlegten. Er hatte nun glänzende Perspektiven. Sein letztes Spiel für den SC Freiburg bestritt er am 18. Mai 1980 in Bürstadt. Die Breisgauer gewannen locker mit 5:1. Doch Joachim Löw war beim Abpfiff nicht mehr auf dem Platz: In der 49. Minute hatte er nach einem Ellbogencheck Rot gesehen. Es war ein etwas unrühmlicher Abschied für den normalerweise stets fairen Spieler.

Während der Vorbereitung zur Bundesligasaison in Stuttgart hinterließen das Talent aus dem Schwarzwald und die zwei weiteren Neuzugänge aus der 2. Liga – Karl Allgöwer von den Stuttgarter Kickers und Dieter Kohnle vom SSV Ulm – in den ersten Testspielen einen guten Eindruck. Während Allgöwer zu einer tollen Karriere durchstartete, hatten jedoch Kohnle und Löw Pech. Denn sie lagen noch vor Saisonbeginn zusammen auf Zimmer 544 des Stuttgarter Katharinenhospitals. Kohnle mit Kapsel- und Bänderriss, Löw mit Schienbeinbruch. Jürgen Sundermann bedauerte den Ausfall seiner beiden Talente: »Beide hatten sich mit großem Ehrgeiz hineingekniet, waren auf dem besten Wege, versprachen viel.«

Vier Tage vor dem ersten Ligaspiel hatte Löw das Schicksal in Gestalt des englischen Nationaltorhüters Ray Clemence ereilt. Es war schon etwas kurios. Löw hatte bis dahin immer à la Paul Breitner mit heruntergezogenen Stutzen gespielt. Ohne Schienbeinschoner. Nach dem Wechsel zum VfB war dann die Anweisung von Trainer Jürgen Sundermann ergangen: »Stutzen unten geht nicht mehr, verboten. Schienbeinschoner anziehen!« Balltechnisch begabte Spieler wie Joachim Löw hassten Schienbeinschoner. Aber er gehorchte und zog sie sich an. Und dann passierte es: »Mein allererstes Spiel mit Schienbeinschoner, ein Vorbereitungsspiel gegen Liverpool: Schienbeinbruch! Ich bin von der Mittellinie alleine auf den Torwart zugelaufen, den Ball ein bisschen zu weit vorgelegt – dann tritt Ray Clemence auf mein Standbein.«

Diese 13. Minute im Stuttgarter Neckarstadion beim letzten Vorbereitungsspiel zur Saison 1980/81 hatte schwerwiegende Folgen. »Bis vor meinem Schienbeinbruch war ich überragend, wirklich gut«, erinnert sich Löw. Es war ein komplizierter Bruch. Vier Wochen lag er im Krankenhaus, insgesamt acht Wochen trug er Gips: »Mein Oberschenkel hatte danach den Umfang meines Oberarms.« Es dauerte Monate, bis er wieder einigermaßen belastbar war. Am Ende der Saison wagte er vier Einsätze. Aber es war nicht mehr so wie zuvor. »Ich war nicht mehr so schnell, das war das Problem. Und ich hatte Angst.« Aber noch gab es Hoffung. Er war ja gerade erst 21 Jahre alt geworden. Hätte die Verletzung eine Fortsetzung der Fußballkarriere nicht mehr zugelassen, hätte er vermutlich eine Tätigkeit in seinem gelernten Beruf aufgenommen, überlegt Joachim Löw heute. Oder er hätte früher mit seiner Trainerausbildung begonnen.

Über Frankfurt zurück nach Freiburg

Der Vorgänger von Jürgen Sundermann, Lothar Buchmann, arbeitete inzwischen bei der Frankfurter Eintracht. Er hatte Löw schon zu seiner Zeit beim VfB als entwicklungsfähiges Talent ins Auge gefasst und holte ihn nun als Leihspieler. Das Geld für einen Kauf besaß der amtierende deutsche Pokalsieger nicht, den damals immense Schulden drückten. Buchmann stellte Löw als möglichen Nachfolger für Bernd Hölzenbein vor, den Weltmeister von 1974. Der Schwarzwälder sei ein schneller und trickreicher Offensivspieler mit Torriecher, behauptete er. Und er wagte sogar einen direkten Vergleich: »Ein Talent wie Allgöwer.« Das war eine gewaltige Hypothek. Und nicht wenige Beobachter in Frankfurt waren skeptisch. Umso erstaunlicher war es, dass er in der Vorbereitung durchaus zu überzeugen wusste. In einem mit 6:1 gewonnenen Testspiel gegen eine Auswahl St. Margarethen/Höchst erzielte er respektable vier Treffer, gegen AS St. Etienne in Paris zeigte er ebenfalls eine ansprechende Leistung. Die »Abendpost« schrieb: »Joachim Löw trug als zweite Sturmspitze Bernd Hölzenbeins hinterlassene Nummer 7. Eifrig, fleißig, immer bereit, sich anzubieten, und immer gewillt, den Ball sofort wieder abzugeben, bemühte Löw sich an die neue Umgebung zu gewöhnen.« Trainer Buchmann sah sich in seiner Einschätzung bestätigt: »Ich habe immer an Löw geglaubt und ich wusste, dass er genau in unser Frankfurter Konzept passen würde. Deshalb habe ich mich für ihn stark gemacht.« Löw selbst war ebenfalls zuversichtlich: »Das komplizierte, vertrackte Passspiel der Frankfurter liegt mir. Ich bin kein Dauerläufer. Ich hab’ den Ball lieber flach, passe mich den Nebenleuten an, gehe auf ihre Ideen ein, wenn ich so viel Verständnis wie von meinen neuen Kameraden finde.«

Aber würde er dem harten Bundesliga-Alltag gewachsen sein? Im Vorbericht der »Bild« zum ersten Saisonspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern meinte der Neu-Frankfurter: »Ich konzentriere mich zwar auf das Spiel, habe mir auch schon ausgemalt, wie ich gegen Kaiserslautern ein Tor schießen könnte, aber ein Hölzenbein-Trauma gibt’s bei mir nicht. Ich bin nicht der Holz. Ich bin der Löw.« Tatsächlich erzielte er im Spiel gegen die »Roten Teufel« (Endstand 2:2) die 1:0-Führung. »Bei meinem Tor hab’ ich nicht überlegt, sondern einfach draufgehalten«, berichtete er in seinem ersten Interview als Bundesliga-Torschütze. Sein Trainer war begeistert von dem feingliedrigen Stürmer. Der Jogi sei »eine echte Verstärkung«, meinte er, man werde »noch viel Freude« an ihm haben. Bei Lothar Buchmann, im Vergleich zum Disziplinfanatiker Sundermann ein eher väterlicher Trainer, schien Löw in guten Händen. Doch der stets etwas schüchtern wirkende 21-Jährige sollte in der Folgezeit kaum einmal besonders auffällig werden, obwohl er meist in der Startelf stand. Ab und zu deutete er seine Qualitäten an, meist aber bewies er wenig Durchsetzungsvermögen. Da auch seine Kondition zu wünschen übrig ließ, wurde er fast immer ausgewechselt – ob im Europapokal gegen Saloniki, im DFB-Pokal gegen Brunsbüttel oder in der Bundesliga. Erst am 10. Spieltag, beim 2:1 gegen Bielefeld, gelang ihm wieder ein Treffer. Doch auch in diesem Spiel hatte er nicht wirklich überzeugt. Er müsse mehr aus sich machen, insisistierte der Trainer, vor allem müsse er zweikampfstärker werden.

Löw schien sich diese Kritik zu Herzen zu nehmen. Er traf beim 2:3 im Auswärtsspiel in München gegen die Bayern und beim folgenden 3:1-Heimspielsieg gegen Bayer Leverkusen. Sein Treffer gegen die Werkself war sehenswert: Auf Höhe der Mittellinie schnappt er sich den Ball, setzt zu einem fulminanten Spurt an, zieht dann aus 20 Metern satt ab – und die Kugel zischt in den Winkel. Mit drei Treffern in drei aufeinanderfolgenden Spielen schien Löw auf dem besten Weg, sich in der Bundesliga durchzusetzen. Aber es war nur ein Strohfeuer. Er kam in dieser Saison noch zu 13 weiteren Einsätzen, ins Netz traf er jedoch nur noch ein einziges Mal. Beim 4:2 gegen den 1. FC Köln am 21. Spieltag verwandelte er einen Elfmeter.

Seine Bilanz nach einem Jahr Frankfurt fiel somit recht mager aus: 24 Bundesligaspiele, nur drei davon über die volle Distanz, fünf Tore. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass sein Talent für die Bundesliga nicht ausreichen würde. Er war zu langsam und zu wenig durchsetzungsfähig, zudem vor dem Tor insgesamt zu harmlos. Zum Ende der Saison wurde er nicht einmal mehr bei Freundschaftsspielen berücksichtigt. Als er während einer Bundesligapause im März 1982 in Kassel zur Halbzeit ausgewechselt wurde, soll er sich frustriert in der Kabine eingeschlossen haben. Womöglich hatte er sich bei der Eintracht am Ende doch zu wenig angestrengt, sollte er Jahre später einräumen. Letztlich habe sein Scheitern in Frankfurt »schon irgendwie« an ihm selbst gelegen, da wolle er »nichts beschönigen«.

Im Juni 1982 kam folgerichtig die Zurückstufung. Ein frustrierter Joachim Löw kehrte wieder zurück in die 2. Liga zum SC Freiburg, der für seinen nun als erstliga-untauglich abgestempelten Ex-Spieler immerhin noch 350.000 DM auf das Konto der Eintracht überwies. Die Investition lohnte sich. Unter dem ehemaligen Bayern-Spieler Werner Olk, den die Breisgauer eben erst als neuen Trainer verpflichtet hatten, bekam der jetzt mit reiferer Spielanlage überzeugende Offensivspieler sein Selbstvertrauen zurück. Joachim Löw avancierte zum Spielgestalter und entscheidenden Mann beim SC. Am Ende seiner ersten Saison hatte er sämtliche 34 Spiele bestritten und acht Tore geschossen. 1983/84, nun unter dem Trainer Fritz Fuchs, lief er zu noch größerer Form auf: Ihm gelangen in 31 Spielen 17 Tore. Er war damit, als Mittelfeldspieler, der beste Torschütze seines Teams und der fünftbeste in der Liga. Nun stand fest: In der 2. Liga konnte er bestehen, von seinen fußballerischen Möglichkeiten her und auch als Torjäger. Dort konnte er seine Technik ausspielen, die er in der höchsten Spielklasse wegen seiner körperlichen und kämpferischen Defizite nicht so zur Geltung hatte bringen können.

Über Karlsruhe erneut zurück nach Freiburg