Annette Seemann & Ulrike Müller

Das Mädchen im Schloss

Lebensgeschichten der Herzogin Anna Amalia

Band 1

Mit Illustrationen von Brigitte Geyersbach

Annette Seemann

stammt aus Frankfurt/​Main, wo sie Germanistik und Romanistik studierte und 1986 promovierte. Sie lebt seit 2002 in Weimar und arbeitet als Buchautorin zur Weimarer Kulturgeschichte und weiblichen Biographien, als Übersetzerin sowie für pädagogische Projekte (Weimarer Kinderbibel). Außerdem ist sie im Ehrenamt für die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e. V. tätig.

Ulrike Müller

wurde in Hamburg geboren. Dort studierte sie Evangelische Kirchenmusik, Germanistik und Theologie und promovierte 1989. Seit 1992 lebt sie in Weimar und arbeitet als Autorin, Referentin und Reiseleiterin. Auch ihre Themen sind weibliche Biographien und die Weimarer Kulturgeschichte. Daneben gestaltet sie gemeinsam mit befreundeten KünstlerInnen musikalischliterarische Salonprogramme.

Brigitte Geyersbach

wurde in Wurzen geboren. Nach ihrem Designstudium an der Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein ging sie 1980 nach Weimar an die Bauhaus Universität. Als freiberufliche Designerin arbeitet sie seit 1986. Sie ist auf den Gebieten Grafikdesign und Fotografie tätig, konzipiert und gestaltet Ausstellungen und Bücher. Mit dem Verein Löwenstarke Stöberkiste entwickelt und betreut sie interaktive Projekte für Kinder.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über die Autorinnen

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Amalundes Nixenlied

Worterklärungen

Nachwort

Weitere Bücher

Impressum

Klappentext

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wir freuen uns, dass ihr unser Buch in den Händen haltet. Ihr lernt darin Menschen kennen, die vor mehr als 250 Jahren gelebt haben. Sie sind wie heutige Menschen: sympathisch oder unausstehlich, können mitreißen und neugierig machen, aber auch enttäuschen und verletzen. Zu ihrer Lebenswelt gehörten Verhaltensweisen und Gegenstände, die euch möglicherweise fremd sind; vielleicht hört ihr sogar zum ersten Mal davon. Dinge hingegen, die wir heute selbstverständlich benutzen, waren damals noch gar nicht in Gebrauch: elektrisches Licht, Hähne, aus denen fließendes Wasser kommt, Autos, Tabletten gegen Grippe. Unglücklicher als wir waren die Menschen deshalb nicht, sie lebten nur anders.

Im Mittelpunkt unserer Geschichte steht Amélie, ein Mädchen, das wirklich gelebt hat, eine „historische Gestalt“. Amélie, mit vollständigem Namen Anna Amalia, war eine Prinzessin. Sie wurde 1739 im Schloss von Wolfenbüttel geboren, im heutigen Bundesland Niedersachsen. Ihre Eltern waren Carl I. und Philippine Charlotte, Herzog und Herzogin von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel. Damals gab es auf dem Gebiet von Deutschland unzählige, zum Teil kleinste Fürstentümer, jedes mit einer eigenen Regierung und eigenem Geld. In einem Schloss zu leben, werdet ihr nun vielleicht denken, das muss traumhaft gewesen sein, fast wie im Märchen. Doch ihr werdet euch wundern: Unsere Amélie wurde zwar umsorgt, besaß viele schöne Kleider und brauchte sicherlich nie selbst ihr Zimmer aufzuräumen. Aber sie musste von morgens bis abends lernen. Zeit zum Spielen gab es da für sie kaum. Kinder wurden damals wie kleine Erwachsene behandelt: Waren sie wie Amélie vornehmer Herkunft, wurden sie auf ihre Rolle als Adlige vorbereitet. Kamen sie aus einfachen Verhältnissen, mussten sie oft schon hart arbeiten, auf dem Land, in Handwerksberufen oder – die Mädchen – in der Hauswirtschaft.

Unsere Geschichte setzt zu der Zeit ein, als Amélie sieben Jahre alt war und den größten Teil des Tages damit verbrachte, die vielen Regeln zu verinnerlichen, die im Schloss und bei Hofe galten: dass es zum Beispiel höchst ungehörig war, einfach laut zu lachen. Und dass es unbedingt wichtig war, die Menschen, die sie traf, ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung gemäß richtig zu begrüßen und anzureden. (Probiert aus Spaß mal aus, wie es sich anfühlt, eure Eltern und Geschwister mit Sie anzusprechen!) Als geradezu lebensnotwendig wurde es angesehen, die Familiengeschichte und den eigenen Stammbaum zu kennen. Denn im Netz der Verwandtschaft mit anderen Fürstenhäusern fand auch ein kleines Fürstentum Unterstützung, wenn es angegriffen wurde. Anna Amalias Mutter zum Beispiel war die Schwester des mächtigen Preußenkönigs Friedrich II., genannt Friedrich der Große.

Amélie lebte in einer Zeit des Umbruchs. Der Umgang zwischen den Menschen war noch weitgehend von Befehlen und Gehorchen bestimmt, doch wurde eigenständiges Denken und Handeln immer wichtiger. Wissenschaftliche Erkenntnisse und das Lesen erlangten zunehmend Bedeutung. Die medizinischen Kenntnisse waren zu Amélies Zeit allerdings noch längst nicht so weit entwickelt wie heute. Es galt als normal, dass viele Menschen schon in jungen Jahren starben; da genügte manchmal eine einfache Halsentzündung. Um so wichtiger war es, im Glauben an Gott Schutz und Trost zu finden.

Woher wir das alles wissen? Informationen über die damalige Zeit und Anna Amalia gibt es aus ganz unterschiedlichen Quellen. Bekannt sind amtlich dokumentierte Daten wie die von Geburt, Konfirmation, Heirat. Überliefert sind auch die Namen von Verwandten, wichtigen Lehrern, bedeutenden Künstlern oder auch Amélies Kinderfrau. Dazu kennen wir die Geschichte der Gebäude, wie zum Beispiel der Schlösser von Wolfenbüttel und Salzdahlum (nahe gelegener Sommersitz der Familie), in denen die kleine Herzogin sich aufhielt. Einige der Gebäude existieren heute nicht mehr. Dennoch sind uns über Dokumente nicht nur ihr Aussehen und die Funktion einzelner Räume bekannt, sondern sogar Einrichtungsgegenstände wie Möbel, Geschirr oder Gemälde, ja sogar die Titel der Bücher, die Amélies Mutter besaß. Manche Dinge sind heute noch erhalten und werden in Museen gezeigt. Wenn ihr das Schloss in Wolfenbüttel besucht, könnt ihr euch selbst einen Eindruck davon verschaffen.

Im Text und in den Illustrationen haben wir versucht, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild von Amélies Leben darzustellen. Dennoch muss die Frage, wie es damals wirklich war, immer wieder neu gestellt werden. Darüber zum Beispiel, was Amélie als Kind und Jugendliche tatsächlich dachte, fühlte, sagte oder tat, wissen wir sehr wenig, das versuchen wir uns lediglich vorzustellen. Hinzu kommt, dass sich die Forschung nicht immer einig ist: Könnte es so gewesen sein oder war es vielleicht doch ganz anders? Doch hartnäckiges Fragen und Suchen lohnt sich. Obwohl wir schon einiges über Amélie wussten, haben wir während der Entstehung unseres Buches viel Neues dazugelernt. Die Bilder, die sich dabei am Ende ergeben haben, sind nicht vollständig, aber äußerst interessant.

Nun sind aber mehrere nebeneinanderstehende Bilder noch keine Geschichte. Um sie mit Leben zu erfüllen und zueinander in Beziehung zu setzen, haben wir die meisten Handlungen, Gespräche und auch einige der Nebenfiguren frei erfunden. Aus dem wahren Geschehen und unserer eigenen Phantasie haben wir etwas Neues entwickelt. Ihr wisst selbst, wie viel Spaß es machen kann, sich Geschichten auszudenken! Schließlich besteht das Leben aus weit mehr als Tatsachen. Das wusste übrigens auch unsere Amélie, die sich in unserem Buch mit einem prachtvollen Märchenwesen anfreundete. Je älter sie wurde, umso unklarer war ihr allerdings, ob sie ihm wirklich begegnet war oder … Womöglich habt ihr eine solche Erfahrung auch schon gemacht.

Ihr fragt euch vielleicht, wie wir überhaupt auf Amélie gekommen sind und warum wir uns gerade für ihre Kindheit und Jugend so interessieren. Wir drei, die dieses Buch für euch geschrieben und gezeichnet haben, und der Knabe Verlag, sind in Weimar in Thüringen zu Hause, und die Idee zu unserem Buch wurde hier geboren. Sie hängt mit der geschichtlichen Bedeutung zusammen, die Amélie nach ihrer Heirat bekam. Da lebte sie nämlich in unserer Stadt als Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ihr Name ist mit der geschichtlichen Epoche der „Weimarer Klassik“ verbunden, mit Namen wie Goethe und Schiller, aber auch Corona Schröter und Charlotte von Stein. Von dieser Zeit soll dann unser zweiter Band handeln.

Zugegeben: Unser Buch stellt euch vor eine richtige Herausforderung. Es ist keine leichte Kost und bietet einige Stolpersteine: Wortsteine, kleine harte Brocken, an denen ihr euch stoßen könntet. Es kommen alte Namen und Begriffe vor, die ihr womöglich noch nie gehört habt, altmodische, ja gestelzt erscheinende, aber oft sehr schöne Wörter. Sie zeigen, was die deutsche Sprache alles zu bieten hat – oder im 18. Jahrhundert zu bieten hatte. Macht euch doch einmal den Spaß und benutzt so ein Wort in einem ganz normalen Gespräch. Wir haben diese Wörter entweder gleich in der Geschichte erläutert oder im Text mit einem Punkt markiert und dann im Anhang in einem alphabetischen Verzeichnis erklärt. Unsere Amélie hatte mit noch größeren und schwereren Stolpersteinen zu kämpfen. Lasst euch überraschen, wie sie damit umgegangen ist! Sie war schließlich eine ziemlich kluge kleine Prinzessin, davon kann man sich manches abschauen … Mehr wird nicht verraten.

Jetzt wünschen wir euch: Viel Freude beim Lesen!

Kapitel 1

In welchem wir Amélie kennenlernen, die sich tapfer und phantasievoll dem nicht ganz einfachen Leben einer Prinzessin stellt

Amélie war enttäuscht, ja, und wütend vielleicht auch. Aber es war nicht erlaubt, mit dem Fuß aufzustampfen, es war nicht erlaubt, ein Widerwort zu geben: Noch nicht einmal „Nein, ich kann das nicht essen!“, durfte man sagen, wenn irgendein ganz furchtbares Gericht auf den Tisch kam. So wie die Taube beim Festessen neulich, mit der sie Mitleid gehabt hatte. All das hatte das Mädchen mit seinen sieben Jahren gelernt herunterzuschlucken und dabei zu lächeln. Außerdem schreiben und französisch sprechen – das konnten alle Geschwister eigentlich von Beginn an besser als deutsch, damit waren sie aufgewachsen. Und tanzen, feine Handarbeiten mit unendlich sich verwirrenden Fäden herstellen und immer Geduld üben. Etwa, wenn es ans Frisieren ging, das ewig dauerte, bis die Haare endlich der riesige Turmaufbau waren, den die Mode vorschrieb.

Aber heute war es einfach zu viel gewesen: Amélie durfte nicht mit den Brüdern und Schwestern in das Lustschloss Salzdahlum fahren. Dort würden sie vielleicht in den wunderbaren Laubengängen schon längst Verstecken spielen, Hütten bauen und mit den Hunden tollen. Es war einfach gemein. Als Strafe für ein paar ganz kleine Streiche musste sie zu Hause bleiben. Oder war es vielleicht schlimm, Madame Benzin, der Hofmeisterin, die alles in ihrem Leben und dem ihrer Schwestern bestimmte, heimlich hinter dem Rücken eine Nase zu drehen oder ihr eine Spinne in den Rückenausschnitt ihres Kleids gleiten zu lassen? Oder war es so furchtbar, im Gottesdienst zu lachen, als von Jesus und dem Lahmen die Rede war? Als es hieß, dass Jesus ihn aufforderte, aufzustehen, sein Bett zu nehmen und zu wandeln, hatte sie das überlegt: Wie wäre es gewesen, wenn der Lahme ihr Vater gewesen wäre und das tonnenschwere Prunkbett herumgetragen hätte? Das war doch komisch! Nein, ihre Vergehen waren nicht schlimm, befand sie trotzig. Warum war die Benzin denn auch immer so übel gelaunt?

Außerdem war es immer dasselbe: Abt Jerusalem, der ihren Unterricht und den der älteren Schwester kontrollierte, ließ keine Gelegenheit aus, Caroline zu loben. Amélie selbst wurde von ihm als „noch wenig gebildet“ bezeichnet. Caroline war neun, aber ein Muster aller Tugenden. Sie war klug, ihr Benehmen war vollkommen und sie war, wie die Eltern betonten, sehr schön. Von ihr selbst war nie die Rede, sie war einfach unwichtig. Warum nur? Sie ahnte es. Nur eines wurde hervorgehoben: Ihr feines Ohr, das es ihr möglich machte, jeden vorgesungenen Ton genau richtig zu treffen.

Amélie, so rief man sie – ihr deutscher Name, Anna Amalia, zierte nur die Geburtsurkunde – beschloss in ihrer Wut und Enttäuschung über den verpassten Ausflug, aber auch überhaupt (!) zu verschwinden. Wenn es an ihr so wenig zu loben gab, dann war sie ja wohl überflüssig! Außerdem hatten die Eltern nun wirklich genug Kinder. Sie hatte zwei ältere Geschwister und fünf jüngere – drei andere Geschwister waren schon früh verstorben. Gerade eben war eine neue Schwester angekommen, Friederike Wilhelmine, und zwei weitere Geschwister würden noch kommen. Kurz und gut: Sie drehte sich auf dem Absatz um. Ihr Ziel: Weg von hier.

Wenig später war sie wirklich, unter dem Vorwand, ein stilles Örtchen besuchen zu müssen, in ein Treppenhaus geschlüpft, das nur die Diener benutzten. Das war streng verboten, denn im Wolfenbütteler Schloss gab es eine riesige Menge von Regeln für alle Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Und da war es auch ganz deutlich, wer welche Treppen benutzen durfte, welche Räume aufsuchen konnte oder eben nicht. Gerade Toiletten oder Abtritte, wie sie auch genannt wurden, waren nur für die Bedienten da. Sie selbst und ihre Eltern hatten in ihren Gemächern kleine Kabinette oder auch Nachtstühle und -töpfe. Dieses dunkle Nebentreppenhaus jedenfalls war ihr und ihren Geschwistern streng verboten. Mit einer kleinen Gänsehaut überlaufen, weil sie ein Verbot übertreten hatte, und einem entsprechend kleinem schlechten Gewissen behaftet, war sie aber dennoch entschlossen nach unten in das Parterre des Schlosses gelangt. Und nachdem sie durch den dunklen, muffig riechenden Kellergang gehuscht war, entwischte sie durch eine unscheinbare, schwere Holztür aus dem Schloss. Vom Sonnenschein geblendet stand sie nun direkt am Mühlgraben, einem Seitenarm der Oker. Danach klopfte ihr Herz ganz gewaltig, stellte sie fest und wollte schon den Mut verlieren. Aber dann kam die Wut wieder: alle anderen waren in Salzdahlum. Nur sie und die neugeborene Schwester Friederike, die natürlich nicht laufen konnte, hatten zurückbleiben müssen. Nein, sie hatte keine Angst, im Gegenteil: Sie würde allein einen schönen Nachmittag verbringen. Vielleicht würde er sogar viel schöner sein als der, den die Brüder und ihre Schwestern Caroline und Elisabeth in Salzdahlum verbrachten. Oh ja, ihre blauen Augen blitzten unter den langen Wimpern, mit denen sie rasch die einzige Träne zerquetschte, die ihr doch entglitten war. Sie war fest entschlossen, einen sehr schönen Nachmittag zu verbringen! Tief atmete sie ein und machte sich selbst Mut, indem sie das kleine Menuett trällerte, das Caroline ihr neulich vorgespielt hatte. Sodann begab sie sich auf Schleichwegen durch Gärten der Wolfenbütteler Ackerbürger zu einem nur ihr bekannten Platz an der Oker, die auch den Schlossgraben speiste und die kleine Stadt insgesamt durchfloss, in der sie zur Welt gekommen war. Schon nach wenigen hundert Schritten war der letzte Garten durchquert. Das freie Land begann, ein weiter Blick bot sich ihr über die frühlingshafte Landschaft. Sie hatte die Oker schon erreicht.

Amélie liebte das Flüsschen, und jetzt war es hier auch ganz besonders lauschig. Sie setzte sich ins Gras, achtete nicht auf ihr hellgelbes Kleid, das ihren Ausflug sicher durch einige Flecken verraten würde. Sie genoss die Wärme und es flossen keine oder allenfalls nur noch ein paar kleine Tränen, die sie rasch mit dem Handrücken abwischte. Kein Taschentuch war zur Hand. Das hätte ihr im Schloss erneut einen Tadel eingebracht, nun sah es aber niemand … Sie seufzte. Wie sollte sie sich später entschuldigen, wenn sie zurückgekehrt war? Man würde sie gewiss wieder bestrafen. Ihr mehrere Seiten zum Abschreiben aufzwingen, was sie hasste. Oder sie schon wieder von einem Vergnügen ausschließen, während ihre Geschwister, sobald sie zurückgekehrt waren, auf den Kostümball gehen durften … Was war das für ein Leben? Und eigentlich war sie, genau wie die musterhafte Caroline, doch eine Prinzessin! Der Abt Jerusalem hatte das gesagt und auch das: „In Ihrem Fürstentum werden alle fürstlichen Kinder, also die Prinzen und Prinzessinnen, Herzog und Herzogin genannt.“ Wie fast alle anderen Menschen um sie herum, ausgenommen der Piper, die ihre Kammerfrau war und sie immer schon an- und ausgezogen und frisiert hatte, hatte er das auf Französisch gesagt. Es galt im Schloss als höchst unfein, deutsch zu sprechen. Das taten die Diener untereinander – und sie gelegentlich heimlich mit der Piper oder auch mit der Tochter der Köchin. Mit dieser zu sprechen, war ihr eigentlich auch nicht erlaubt.

Wenn die anderen, die Kinder der Bäcker und Weber und Bauern, wüssten, was das bedeutete! Tag für Tag. Eigentlich war es nur schrecklich. Sie war zwar immer unter Menschen, aber niemand verstand sie. Eine Freundin zu haben, jemanden, der sie verstehen könnte, der sie auch einmal trösten würde und der ihr nicht nur als Beispiel wie Caroline vorgehalten würde, das wäre schön, träumte sie und vergoss in ihrer Einsamkeit noch einmal ein paar Tränen. Und vielleicht schlief sie auch vor lauter Erschöpfung ein, denn an Schlaf fehlte es den Kindern von Herzog Carl und Herzogin Philippine Charlotte von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel immer: Sie wurden jeden Morgen sehr zeitig geweckt, um sechs Uhr, und kamen eigentlich nicht vor elf Uhr abends ins Bett. Natürlich nicht, ohne vor dem Bett kniend ein letztes Abendgebet zu sprechen. Nur die Geschwister unter vier Jahren durften einen Mittagsschlaf halten. Wie dem auch sei, eine Art Erscheinung riss sie plötzlich aus ihren eher traurigen Überlegungen: Da schlängelte sich doch ein ziemlich großer silbriger Fisch durch die gemächlich dahinfließende Oker. Das war ein ganz kapitaler Fisch, würde ihr großer Bruder Carl Wilhelm Ferdinand sagen. Der war schon dreizehn Jahre alt und ritt und jagte und focht. Aber … das war gar kein Fisch, das war … Und da hob dieses Tier doch seinen Kopf aus den Fluten. Und da hatte der Kopf ein Mädchengesicht und wunderbares, goldengrün schimmerndes Haar. Und da lächelte das Wesen, war jetzt nahe bei ihr, dann mit einem Sprung aus dem Wasser und aalte sich auf einem kleinen Felsvorsprung.

Amélie wollte ihren Augen nicht trauen, wollte davonrennen, schreien … aber das Wesen lächelte lieblich.

Und Amélie, die eigentlich ein mutiges kleines Mädchen war, fasste sich und sagte einfach nur: „Bonjour, Mademoiselle.“ Das heißt: „Guten Tag, junges Mädchen.“ Und das Wesen lachte und schüttelte seine nasse Haarmähne, dass die Tropfen wie glitzernde Perlen herumstoben und auch Amélie benetzten.

Verblüffung zu zeigen war unfein, das hatte sie auch schon gelernt! Auf keinen Fall durfte man sich beeindruckt zeigen, wenn der Anblick, den jemand bot, auch noch so seltsam war: Weder unmäßig dicke Menschen, noch Einäugige, Hinkende oder andere Bedauernswerte sollten angestarrt werden, sagte die schreckliche Madame Benzin immer. Die war die Frau eines Pastors und musste so etwas wissen. Und außerdem war dieses Wesen da eigentlich sehr schön, und richtig: Der lange schuppige Schwanz des Wassermädchens war das Zeichen dafür, dass sie einer Nixe begegnet war! Einem richtigen Märchenwesen. Sie hatte also recht und Caroline unrecht. Die sagte, es gäbe keine Zwerge, Hexen, Kobolde und Zauberer. Möglich. Nixen gab es jedenfalls, denn das Wesen hier war eine Nixe! Amélie beschloss, das Abenteuer zu genießen und fragte sie nach ihrem Namen. Da hörte sie einen ganz ausnehmend schönen, wie ihr schien: Amalunde hieß die Okernixe mit der Perlenstimme. Sie sprach kein Französisch, das hätte Madame Benzin als Grund genügt, das Gespräch gar nicht erst aufzunehmen, aber Amélie machte das nichts aus. Sie hatte sofort Vertrauen zu dem wunderschönen Wesen mit der guten Laune. Daher erzählte sie ihr alles: das von dem verbotenen Ausflug, von der Gemeinheit wegen Madame Benzin, von den ewigen Verhaltensmaßregeln und von allen Versuchen der anderen, ihr jede Freude, jedes bisschen Spaß zu vergällen. Erneut kamen ihr vor Wut ein paar Tränen. Da rollte Amalunde ihre grünen Augen und fasste mit ihrer kleinen, nassen Hand an Amélies Wange, fühlte die Träne an und fragte: „Was ist denn das?“ Amélie schämte sich: Das ging doch wirklich nicht. Eine fremde Person zu treffen, ihr alles Mögliche zu erzählen und dann noch – zu weinen. Und von der Person berührt zu werden! Sie fasste sich: „Ach das, das ist … gar nichts, das ist Wasser, du hast mich nass gespritzt.“ Da lachte Amalunde und peitschte ihren langen Fischschwanz lustig durch das Wasser, sodass Amélies Ärmel ganz nass wurden und sie auch zu lachen anfing.

Die Nixe gab übrigens vortreffliche Ratschläge, fand sie. Sie sagte beispielsweise: „Singe einfach in Dir ein Lied, und Du wirst sehen, wie gut es Dir dann geht.“ Dies schien ihr ein hervorragender Rat zu sein, und die Zeit mit der Gutgelaunten verging wie im Fluge. Als diese mit dem Fischschwanz noch einmal peitschte und dann ganz plötzlich zurück ins Wasser glitt und winkte, schien es Amélie, als seien erst wenige Minuten vergangen.

In Wahrheit aber wurde es schon fast dunkel. Amélie hörte noch ein seltsames Liedchen, das Amalunde wohl trällerte, während sie durch die Oker glitt. Jetzt hastete unsere kleine Prinzessin zum Schloss, weil ihr einfiel, dass man sie dort wahrscheinlich lange schon vermisste.

Das Lied hörte sie von nun an öfter, denn jede Gelegenheit nahm sie wahr, die neue Freundin – das wurde Amalunde nämlich für Amélie – zu treffen. Sie achtete der Strafen wenig, die sie für ihr Ausbleiben bei einer Tanzstunde oder dem Handarbeitszirkel der adligen Mädchen aus Wolfenbüttel und den benachbarten Rittergütern erhielt. Sie meinte, Amalunde war genau das, was sie sich gewünscht hatte: Ihre Freundin – ein Wesen, das immer heiter war, das nicht an gestern und an morgen dachte, sich nicht fürchtete und nie zornig war, das in der Gegenwart genoss und nicht, wie der Hofprediger es verlangte, sein Gewissen durchforstete nach irgendwelchen Sünden von gestern und vorgestern. Amélie wurde bei jedem Treffen von einer so feinen Heiterkeit getragen, und das Lied der Nixe summte sie bald immer vor sich her. Es hatte auch einen Text, und der wurde so etwas wie ein Wahlspruch für Amélie, die den Sinn am Anfang nur unvollkommen verstand:

Hör auf die Wellen, hör auf die Felder,

Trau dem Licht und der Schatten weicht.

Tritt in den Kreis der großen Natur.

Lache und wieg‘ dich im Wind,

Lache und wieg‘ dich im Wind.

Schau auf die Menschen, schau ihre Welt,

Sei eine Freundin dem guten Geist.

Sei ein Gedanke, der himmelwärts reicht.

Lache und wieg‘ dich im Wind,

Lache und wieg‘ dich im Wind.

Übrigens: Von ihrem heimlichen Ausflug hatte niemand im Schloss etwas mitbekommen, fast alle waren ja in Salzdahlum gewesen und spät zurückgekommen.

Und so war dieser Tag, der schlecht begonnen hatte, ein richtiger Glückstag für sie geworden, fand Amélie, als sie abends im Bett lag. Und sie träumte von einer Nixe mit goldengrünen Haaren.

Kapitel 2

Wie Amélie beinahe ein Segel in ihrer Suppe gefunden hätte und im Clavichord die Welt der Musik für sich entdeckt

Amélie war heute nicht heimlich, sondern mit Erlaubnis der Hofmeisterin ganz allein im Schloss unterwegs. Das Mittagessen nahmen sie und ihre Geschwister gemeinsam ein. Mit Ausnahme des ältesten Bruders Ferdinand, der im so genannten Kleinen Schloss unweit des großen Schlosses mit seinem eigenen Hofstaat und den Lehrern lebte, lernte und aß, wie es die Sitte für den Thronfolger erforderte. Alle übrigen Kinder der herzoglichen Familie hatten sich an jedem Wochentag um Punkt 12 Uhr im großen Speisesaal zum Mittagessen einzufinden. Und irgendwann war es beendet. Die Mutter, die Wert darauf legte, alle ihre Kinder einmal am Tag gemeinsam zu sehen, war heute ausnahmsweise nicht zugegen gewesen. Stattdessen hatte Madame Benzin als einzige Erwachsene mit den herzoglichen Kindern am Tisch gesessen, um diese zu beaufsichtigen.

Der Gesichtsausdruck der Dame war von einer derartig kalten und unbeweglichen Strenge gewesen, dass Amélie, die ihr direkt gegenüber saß, am liebsten auf der Stelle davongelaufen wäre. Sie fürchtete sich nämlich vor harten Worten und davor, getadelt zu werden, was leider zu oft geschah. Doch dann wurde sie zum ersten Mal in ihrem Leben von diesem später noch so häufig empfundenen unbezwingbaren Drang ergriffen, erst recht standzuhalten und aufrecht an ihrem Platz zu verharren.

Sie musste dieses Gesicht der Benzin immerfort ansehen – unauffällig, versteht sich, aus niedergeschlagenen Augen – und zwar so lange, bis sich irgendetwas, nur eine Kleinigkeit, darin ändern würde. Dann nämlich hörte die Angst auf. An deren Stelle aber hatte sich eine freche kleine Phantasie in ihren Kopf geschlichen, eine Art banger Erwartung – oder vielleicht war es auch eine heimliche Hoffnung. Was, wenn die lange dünne Nase der Hofdame in einer plötzlichen Regung von Ungehorsam auf einmal an dem silbernen Esslöffel festwachsen würde? Und zwar genau in einem jener Momente, in dem sie ihn, mit einer Portion Suppe gefüllt, in den Mund hinein beförderte? Amélie konnte es genau vor sich sehen: Madame Benzin würde den Löffel zunächst in der gewohnten würdevollen Langsamkeit mit der rechten Hand abwärts zum Teller führen, in die Suppe tauchen, dann frisch gefüllt bis an die Lippen heben und zur Abkühlung einen Augenblick ruhig halten. Aber dann! Auf dem Rückweg vom Mund zum Teller würde die Nase unverrückbar am Löffel kleben bleiben, sich also mitsamt diesem immer weiter vom Gesicht entfernen. Schließlich würde sie unten mit in der Suppe landen und wie ein kleines Segel daraus aufragen. Oder womöglich von den graugrünen Wogen der Suppe überspült werden wie bei Sturm der kleine Felsvorsprung an der Oker. Wie die gestrenge Dame wohl aussehen würde – so ohne Nase?

Amélie hielt unwillkürlich im Essen inne. Nur mühsam unterdrückte sie ein Kichern. Um ein Haar hätte sie, die gebotene Contenance vergessend, fast auch noch gegen das Redeverbot verstoßen, welches stets – bis auf das vor Beginn gesprochene Tischgebet – für die gesamte Zeit des Essens galt. Denn beinahe hätte sie ihren Lieblingsbruder Friedrich, der neben Madame am Tisch gegenüber saß, laut gebeten, das fantastische Geschehen schnell mit seinem Silberstift in das kleine, rote, in Wachstuch eingeschlagene Papierheft zu zeichnen, das er immer bei sich trug, um sich darin Sätze, Zahlen oder Kuriositäten zu notieren. Doch ein Kontrollblitz aus Madames Augen hatte sie zurückgeholt und das ganze Unterfangen verhindert. Ihren zweiten Gedanken, dass schließlich ja auch ihre eigene, Amélies Nase, am Löffel kleben bleiben und am Ende im Tellergrund untergehen könnte, hatte sie infolgedessen nicht mehr zu Ende denken können. Sie hatte ja schließlich nicht zu träumen, sondern weiter zu essen, nach dieser schier unendlichen Portion Vorsuppe noch Hauptgericht und Dessert zu bewältigen, und zwar möglichst viel davon. Denn sie war dünn, zu dünn, geradezu dürr wie eine Bohnenstange, wie Caroline nicht ohne jenen verhassten triumphierenden Unterton in der Stimme bemerkte.

Diese Suppe! Schon morgens gab es nichts außer Milchsuppe oder einer Getreidegrütze zu essen – schon allein das Wort Grütze war eine Zumutung! Aber das war so üblich, auch in einem Adelshaushalt, hatte die Oberhofmeisterin den Kindern mit freundlichem Bedauern erklärt, als Friedrich eines Morgens mutig fragte, ob er Hühnchen bekommen könne. Schließlich mussten die Kinder an vielen Wochentagen schon vor dem Frühstück eine Stunde Sprachunterricht bewältigen. Und Lernen macht auch die strebsamsten Kinder bekanntlich hungrig. Doch die Vorsuppe am Mittag schmeckte genauso grausig wie der Brei vom Morgen.

Neulich, beim festlichen Diner mit Gästen, da hatten in der Vorsuppe unter einer der ebenso seltenen wie verheißungsvollen Sahnehauben kleine rosafarbene Stückchen geschwommen. Und in der üblichen Unterweisung vor dem Mahl hatte die Hofmeisterin den Kindern erklärt, es handle sich um Krebsfleisch. Aber schwammen nicht Krebse sonst äußerst lebendig mit ihren großen Scheren im Meer herum? Jedenfalls hatten diese Krebse, das wusste Amélie todsicher, auf geheimnisvollen Wegen noch mit Scheren die Freitreppe des Wolfenbütteler Schlosses überwunden – schließlich hatte sie einen wahrscheinlich heruntergefallenen dort liegen sehen – und waren nun ohne in der Festsuppe gelandet. Hier taten sie keinen Mucks mehr und wurden von allen am Tisch gleichmütig verspeist. Und wie immer fand niemand außer ihr, Amélie, etwas Besonderes daran. Ob Amalunde, die Nixe, schon lebenden Krebsen begegnet war? Bestimmt! Im Fluss sollte es doch auch welche geben, aber nur ganz kleine. Die würde sie aber gewiss nicht essen, lieber würde sie mit ihnen plaudern. Denn wahrscheinlich konnten sie ebenso gut sprechen wie Amalunde. Amélies Herz klopfte. Die Nixe – ihre Nixe, ihre Amalunde. Amélie und Amalunde.

„A-ma-lun-de!“, sie sprach es leise vor sich hin. Welch ein wundervoller Name! Das klang wie Musik: herrlichste grüngoldene Wassermusik. Überhaupt sollte sie jetzt besser an die Musik denken! Die Unterhaltung mit der Nixe vor drei Tagen würde ihr sowieso niemand glauben, am wenigsten die Mutter, die sich, wenn sie zwischen ihren zahllosen Audienzen und Korrespondenzen, Bällen und wohltätigen Besuchen einmal Zeit hatte, nicht gerade brennend dafür zu interessieren schien, was in ihrer Amélie vorging.

Ja die Mutter! Eigentlich hatte Amélie zu ihr gar keine persönliche Beziehung. Ihrer Kammerfrau, der Piperin zum Beispiel, fühlte sie sich viel näher. Ihre Mutter bewunderte sie eher aus der Ferne. Philippine Charlotte war hochmusikalisch, hatte eine wohltönende Stimme und spielte verschiedene Instrumente, unter anderem Flöte. Amélie hörte gern zu, wenn die Damen und Herren sich an den Montagabenden im großen Saal einfanden und gemeinsam musizierten. Und wenn sie dann in dem Zusammenklang der verschiedenen Instrumente den feinen festlichmetallischen Klang des Cembalos heraushörte, das die Mutter so wundervoll zu spielen verstand, wurde ihr warm, viel wärmer als von der schrecklichen Suppe.

Pünktlich um ein Uhr sollte sie sich im Musikzimmer einfinden. Zum ersten Mal ganz allein! Heute wollte der Weg durchs Schloss wohl gar nicht enden! Er führte durch lange Flure, in