Dr. med. Hans Bankl

DER PATHOLOGE WEISS ALLES
… ABER ZU SPÄT

Heitere und ernsthafte Geschichten
aus der Medizin

ISBN 978-3-218-00971-3
Copyright © 1997/2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Rendl
unter Verwendung einer Karikatur von Serré aus „Humour noir et hommes en blanc“,
© by Editions Glénat, Grenoble
Lektorat: Elisabeth Tschachler-Roth
Satz: Zehetner GmbH, A-2105 Oberrohrbach
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

Vorbemerkung

Selbstzeichnung

Ohne Anatomie geht gar nichts!

Die erste Obduktion in Wien

Was ist Pathologie?

Historie ist doch schon vorbei

Der Medizinstudent

Das absolute Geschau

Der Eid

Vom Brenneisen des Hippokrates zur modernen Krebsvorsorge

Im Mittelpunkt steht das Herz

Die tätowierte Kaiserin

Der Mensch ist leider kein Hund

Was ist ein Leichnam?

Möglichst spät sich krümmen, oder: Woran wir leiden

Der Tod macht neugierig

Hilfe beim Sterben

Das schönere Wort

Über die Ungerechtigkeit in der Heilkunde

Vom süßen Geschmack des Harnes, von gestohlenen Hunden und einem vorenthaltenen Nobelpreis

Berühmte Hypertoniker aus Politik und Kunst

Von der merkwürdigen Sprache der Medizin

Die Wiener Krankheit

Wie krank sind unsere Ärzte?

Wunderheiler – gestern und heute

Mozart und der Kurpfuscher

Sigmund Freud und das Kokain

Über den Zufall

Der menschliche Körper als Recyclingobjekt

Quantität und Qualität des menschlichen Leichnams

Mumien gibt es nicht

Über den Scheintod

Große Zwerge

Gefälligkeitszeugnisse

Pathologie und Freimaurerei

Das Schönste und Gesündeste auf der Welt

Ende der Weisheit

Literatur

VORBEMERKUNG

Personen, nicht Ereignisse beeinflussen die Geschichte, sieht man von der Sintflut und dem Ausbruch des Vesuv ab. Persönlichkeiten ragen aus der Menge heraus und bestimmen die Richtung weiterer Ereignisse, auch wenn das zum Zeitpunkt ihres Wirkens noch niemand erkennt. Geschichte wird interessant und lebendig durch Personen.

Wer hätte, als Kolumbus 1492 aufbrach, gedacht, daß seine Mannschaft mit einer verheerenden Krankheit wiederkehren sollte – der Syphilis?

Niemand hat geahnt, daß Leonardo da Vinci (1452–1519) und Andreas Vesal (1514–1564), als sie Leichen kauften und raubten, um sezieren zu können, die Tieranatomie des Aristoteles und Galen für den Menschen als falsch erkennen würden.

Es war purer Zufall, daß jene sechs Personen, die Karl Landsteiner im Jahre 1900 untersuchte, verschiedene Blutgruppen hatten. Nur dadurch kam es zu seiner Entdeckung, die von der Kollegenschaft zunächst mitleidig belächelt wurde.

Was wäre geschehen, hätte der australische Pathologe Howard Florey eine völlig unbeachtete Publikation des Engländers Alexander Fleming nicht gelesen und somit nicht die Voraussetzungen für die Penicillinproduktion geschaffen?

Eingedenk solcher Reminiszenzen darf die Erinnerung an außergewöhnliche Menschen nicht im Strudel der aktuellen Tagesereignisse untergehen. Persönlichkeiten sind, was bleibt, wenn man Ämter, Orden und Titel abzieht.

Darf in der Medizin gelacht werden?

Humor ist in der ärztlichen Berufsordnung nicht ausdrücklich verboten, daher müßten medizinische Anekdoten erlaubt sein. Gegenwart und Historie der Medizin sind voll von Kuriositäten und zumindest zum Schmunzeln anregenden Ereignissen. Diesen erfreulichen Aspekt mit der sonst meist so strengen und kategorischen Medizin zu verbinden ist unsere Absicht.

Lächeln ist angenehm. Ein Buch, bei dessen Lektüre man Wissenswertes erfährt und gleichzeitig lächeln kann, erfüllt seine Aufgabe: Freude für den Leser. Mehr wollen wir nicht.

Weiß der Pathologe wirklich alles? Selbstverständlich nicht!

Der fragmentarische Titel dieses Buches entstammt einem alten, traditionellen Scherz der Wiener Medizin. Die Ärzte sind nämlich zum größten Teil gar nicht so humorlos, wie sie manchmal von der Krankenkasse hingestellt und von der Ärztekammer repräsentiert werden. Vor allem gibt es Könner und Künstler hohen Grades in diesem Gewerbe, und das wird dann prägnant so formuliert:

Der Chirurg kann alles, aber er weiß nichts.

Der Internist weiß alles, aber er kann nichts.

Der Pathologe kann alles und weiß alles,

... aber zu spät!

Die meisten Bonmots betreffen naturgemäß die Chirurgen.

„Ein Chirurg ist ein Mann, der sich täglich wundert, wieviel man von einem Menschen wegschneiden kann, ohne ihn umzubringen.“ „Was ist der Unterschied zwischen dem Finanzamt und einem Chirurgen? Gar keiner. Beide versuchen aus den Leuten soviel wie irgend möglich herauszuholen.“

Die Berufsbezeichnung Chirurg stammt übrigens vom altgriechischen „chirurgein“; mit der Hand arbeiten, masturbieren. Ist doch erstaunlich, oder? Auch Scherzehen, die bedeutende Personen betreffen, hat es immer und in allen Ländern gegeben.

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch hieß in Deutschland „fractura acida“, vom Internisten Werner Waldhäusl spricht man als „locus siLvestris“ und der zu seiner Zeit so dominierende Karl Fellinger wurde anerkennend „der gschwinde Karl“ genannt, da er als einer der wenigen in den Fakultätsgremien imstande war, Entscheidungen zu treffen und sonst endlose Sitzungen rasch zu einem Abschluß zu bringen.

Diese wenigen Beispiele stellen klar: Es handelt sich nicht um Verspottungen, im Gegenteil – diese Beinamen charakterisieren Persönlichkeiten. Ich verneige mich in Hochachtung vor jedem, der einen akademischen Spitznamen trägt; er überragt als Individuum die umgebende Herde.

Bis in meine derzeitigen reifen Jahre werde ich von vielen Kollegen als „kucskoid“ bezeichnet, da ich dem Vorbild meines Lehrers und Freundes Professor Lothar Kucsko (1912–1976) nacheifere. Diesen Spitznamen trage ich gerne, denn Kucsko – sein Spitzname war „Rex“ – hat nicht jeden Nachwuchspathologen akzeptiert, sondern wußte genau die Spreu vom Weizen zu trennen. Das schafft nicht unbedingt Freunde.

Medizinhistorische Anekdoten sind in der Mehrzahl nicht einwandfrei zuzuordnen. Das heißt, die Personen, denen man witzige, sarkastische oder tiefgründige Schlagfertigkeiten in den Mund legt, sind keineswegs zweifelsfrei identifizierbar oder hören, je nach Anekdotensammlung, auf andere Namen. Aber das macht nichts.

Manche Historiker bekamen den Vorwurf, daß sie die Ereignisse anders beschrieben, als diese tatsächlich geschehen sind. Manch einer erwiderte: „Mag sein, aber ist es so nicht viel besser und schöner?“

Und so soll denn ein Merksatz, eine „Lebensweisheit“ gelten, die Giordano Bruno (1550–1600) niedergeschrieben hat:

„Se non è vero, è molto ben trovato.“

Wenn es nicht wahr ist, so ist es sehr gut erfunden.

SELBSTZEICHNUNG

Eigentlich besteht ein Recht darauf, etwas über den Autor jenes Buches zu erfahren, welches man gerade in der Hand hat, eventuell durchblättert oder sogar liest.

Mein Name ist Bankl, und damit fängt bereits eine Geschichte an. Der ursprünglichen Bedeutung von Familiennamen nachzugehen ist manchmal aufschlußreich. „Bankl“ stammt angeblich von der Berufsbezeichnung „Bankler: und dies waren Leute, welche in früheren Zeiten von Bauernhof zu Bauernhof und von Viehstall zu Viehstall wanderten, wobei ihr wichtigstes Reisegepäck eine Schlachtbank war. Bei diesen Personen handelte es sich nämlich um vazierende Schlächter und Fleischbeschauer. Für einen Pathologen, der sich mit diagnostischen Leichenöffnungen beschäftigt, ist ein solcher Familienname nicht unoriginell.

Mein Großvater war Fleischhauergeselle, und dies ist die Fortsetzung der Geschichte. Im Ersten Weltkrieg wurde mein Großvater zum Soldaten gemacht, einer Sanitätseinheit zugeteilt und dort als Hilfskraft in eine Militärprosektur abkommandiert. Die Beschäftigung als Obduktionsgehilfe hat ihn derart fasziniert, daß er immer wieder sagte, er werde nach dem Krieg seinen Beruf wechseln und in einem Krankenhaus im Seziersaal arbeiten. Dazu ist es aber nicht gekommen, denn er wurde bei einer Leichenöffnung durch einen Messerstich verletzt. Die entstehende Infektion entwickelte sich rasch zur Sepsis, und daran ist er gestorben; man nannte das damals „Blutvergiftung“.

Was konnte nun aus einem Mediziner mit so einem Namen und solch einem Vorfahren anderes werden als ein Pathologe?

Ich habe mir die Berufswahl nicht leichtgemacht, sondern das Orakel befragt. Im Jahre meiner Promotion (1965) gab es weder eine Medizinerschwemme noch einen Aufnahmestopp an den Universitätsinstituten und daher reichlich freie Ausbildungsstellen. Nach entsprechender Bewerbung wurde mir sowohl von Professor Leopold Breitenecker (Gerichtsmedizin) als auch von Professor Hermann Chiari (Pathologie) eine Stelle angeboten. Dies war noch in jenen längst vergangenen Zeiten, als die Institutsvorstände entscheiden konnten, wen sie aufnehmen oder nicht, während heute Personalkommissionen und Institutskonferenzen Personalpolitik betreiben. Da im Areal des alten Allgemeinen Krankenhauses die Institute für Pathologie und Gerichtsmedizin unmittelbar nebeneinander lagen, habe ich mich dazwischen auf eine Parkbank gesetzt und eine Münze geworfen: Pathologie hat gewonnen.

Wie sich ein Pathologe in die Schriftstellerei verirrte und sogar begann Bücher zu schreiben, ist ganz einfach zu erklären. Durch eine glückliche Fügung sind bei mir Beruf und Neigungen eins. Das Interesse für die Geschichte der Medizin begann sehr früh, desgleichen die Sammlertätigkeit. Es klingt makaber, ist aber wahr, wenn ich bekenne, Obduktionsbefunde und damit Todesursachen zu sammeln. Und wenn man dabei, vom Glück begünstigt, Entdeckungen macht wie etwa den lateinischen Originaltext des Sektionsprotokolls von Beethoven oder den „autopsy report“ über den ermordeten Präsidenten J. F. Kennedy, so liegt es nahe, dies zu veröffentlichen. Damit fing die Bücherschreiberei an.

Die erste Person, mit der ich mich medizinbiographisch beschäftigt habe, kam als 22-Jähriger aus dem Ausland nach Österreich; der Vater war Alkoholiker, die Mutter tuberkulosekrank. Der junge Ausländer ohne anerkannte Berufsausbildung wurde durch Spenden betreut; er sah derart fremdländisch aus, daß er „spagnol“, der „Spanische“ genannt wurde. Wenige Jahre später war er ein schwer Behinderter.

Es hat also Zeiten gegeben, da war Österreich für einen mittellosen, spendenbedürftigen, durch Schwerhörigkeit behinderten Ausländer noch ein Einwanderungsland – denn es machte aus diesem Mann den Österreicher Ludwig van Beethoven.

Der zweite war ein Karriereflüchtling aus dem Ausland, der seinen Posten verloren hatte und arbeitslos war. Er blieb in Wien und wurde Österreicher – Österreich war ein Einwanderungsland, denn es machte diesen Mann, der aus dem damals unabhängigen Salzburg stammte, zum Österreicher Wolfgang Amadé Mozart.

Der nächste kam aus Mähren, war Jude und hieß Schlomo. Seine Verwandten waren klassische Wirtschaftsflüchtlinge, als sie nach Wien auswanderten. Schlomo blieb 78 Jahre in Wien, bis er vertrieben wurde und im Ausland Aufnahme fand. Trotzdem war Österreich bis 1938 ein Einwanderungsland, und aus dem tschechischen Juden wurde der Österreicher Sigmund Freud.

Einem Pathologen ist erlaubt, Erfahrungen und Gedanken darzulegen, Geschichten und Kuriositäten aus der Medizin zu erzählen sowie eine subjektive Meinungsäußerung als Arzt, der das Leben wie auch das Sterben beobachtet, abzugeben.

Es wird wohl kaum jemandem in den Sinn kommen, darin eine unerlaubte Werbung für das Kleingewerbe eines Pathologen zu entdecken. Für Ärzte besteht nämlich ein modifiziertes Werbeverbot, jedoch ist es unwahrscheinlich, daß aufgrund von Werbeinformationen sich Menschen in nennenswerter Anzahl an einen Pathologen wenden, um von ihm seziert zu werden.

Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel. Eines Tages erschien bei mir eine reife Dame, Trägerin eines bekannten Namens und Witwe eines weltberühmten Mannes, mit der Bitte, ich möge nach ihrem Ableben die Obduktion sowie die Leichenkonservierung zum Zwecke der Überführung in ihr Heimatland durchführen.

Es gibt also sogar in der Pathologie Voranmeldungen.

OHNE ANATOMIE GEHT GAR NICHTS!

Ärzte ohne Anatomiekenntnisse gleichen Maulwürfen;

sie arbeiten im Dunkeln, und ihrer Hände Tagewerk

sind – Erdhügel.

Wenn Ärzte nicht an Toten lernen können,

müssen sie dies an Lebenden tun –

und das kann Tote geben.

Medizinerweisheit

Diese beiden aphoristischen Bemerkungen sagen eigentlich bereits alles über die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Anatomie. Die Anatomie (griechisch: „Zergliederungskunst“) am Menschen ist eine junge Wissenschaft. Der Glaube, daß die Seelen der Verstorbenen so lange am Ufer des Flusses Styx herumirren müssen, bis ihre Körper beerdigt sind, machte die Anatomie im altklassischen Griechenland, der Geburtsstätte abendländischer Kultur, unmöglich. Ähnliches gilt bis heute für orthodoxe Juden und Moslems.

Viele Jahrhunderte studierte man nicht menschliche Anatomie, sondern Beobachtungen bei der Sektion von Tieren wurden auf den Körper des Menschen übertragen. Diese Erkenntnisse standen dann in den gelehrten Büchern von Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) bis Galen (2. Jahrhundert n. Chr.) und wurden geglaubt, da diese Leute Autoritäten waren.

Anatomie ist Wirklichkeit statt Vermutung,

darüber gibt es keine Diskussion.

Glaube ist Vermutung statt Wirklichkeit,

darüber gibt es nur Diskussionen.

Es ist erstaunlich, daß beim Einbalsamieren im alten Ägypten keine anatomischen Erkenntnisse gewonnen wurden. Im Gegenteil, denn es herrschten beispielsweise solche Vorstellungen:

Das Herz nimmt ab Geburt jährlich bis zum 50. Lebensjahr um 10 Gramm zu, von da an jährlich um ebensoviel ab –deshalb kann kein Mensch über 100 Jahre alt werden.

Ein Nerv führt direkt vom Herzen zum vierten Finger der linken Hand. Deshalb wurde dieser Finger als „digitus cordis“ bezeichnet. Aus langer Tradition entwickelte sich daraus die Gewohnheit, bei „herzlichen“ Angelegenheiten den vierten Finger links mit einem Ring zu schmücken. Personen mit klassisch-geschichtlichem Bewußtsein tragen daher den Freundschaftsring, Verlobungsring oder Ehering an der linken Hand.

Der Grieche Galen war die dominierende medizinische Autorität seiner Zeit und für über tausend Jahre richtungweisend. Am Höhepunkt seiner Karriere wurde er Leibarzt von Kaiser Marc Aurel (121–180 n. ehr.), welcher bekanntlich in Vindobona gestorben ist. In den Schritten des Galen findet sich erstmals der Begriff „Pathologia“ als Bezeichnung für eine Spezialdisziplin der Medizin. Aber auch er vertrat noch ziemlich abstruse anatomische Vorstellungen:

Die vier Lappen der Leber umfassen wie Finger die Herzkammern, um Wärme an diese abzugeben.

Die Atemluft wird der linken Herzkammer zugeführt, wo sie mit Hilfe der Körperwärme in Lebensluft verwandelt und durch die Arterien (Luftgefäße) im Körper verteilt wird.

Solche Ansichten bestanden bei der Mehrzahl der unbedarften Ärzte bis in das 16. und 17. Jahrhundert.

Seit wann gibt es eine exakte Anatomie?

Die Begründer waren das Universalgenie Leonardo da Vinci (1452–1519) und der kritisch-selbstbewußte Arzt Andreas Vesalius (1514–1564).

Leonardo war Künstler, kein Anatom. Um aber der Sache auf den Grund zu gehen, sezierte er selbst, überprüfte eigenhändig und fertigte 799 anatomische Zeichnungen an, deren Qualität und Korrektheit nur in ganz wenigen Ausnahmen von unserem heutigen Wissen abweichen.

Vesal war Leibarzt Karls V und ersetzte die bis damals übliche Tieranatomie durch die korrekte Menschenanatomie. Er schrieb darüber den Bestseller „De humani corporis fabrica libri septem“ (1543), dessen Illustrationen ein Schüler des Tizian anfertigte.

Die normale Anatomie als exakte Wissenschaft

ist knapp über 450 Jahre alt (1543, Andreas Vesal).

Die pathologische Anatomie als Spezialfach ist etwas

mehr als 230 Jahre alt

(1761, Giovanni Battista Morgagni).

Ganz offensichtlich hat der berühmte Galen, jahrhundertelang eine medizinische Autorität und unbestritten ein ausgezeichneter Arzt, seine Berufskameraden sehr gut gekannt. Von ihm stammt der sehr modern klingende Satz: „Die Natur ist der allerbeste Arzt, denn drei Viertel aller Krankheiten vermag sie zu heilenund nie spricht sie Böses von ihren Kollegen.“

DIE ERSTE OBDUKTION IN WIEN

Auf Betreiben Herzog Rudolfs IV. von Habsburg (1339–1365) erfolgte die Gründung der Wiener Universität mit Stiftungsbrief vom 12. März 1365. Dieser „Rudolf der Stifter“ starb jedoch vier Monate später, und die Universität war unvollständig, da Papst Urban V. aus politischen Gründen eine theologische Fakultät nicht gestattete. Die wurde erst 1384 eingerichtet, und im Jahre darauf konnte der erste Rektor gewählt werden.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die regelmäßige Arbeit an der medizinischen Fakultät nicht vor 1399 begann.

Am 12. Februar 1404 wurde jedenfalls in der Badestube des Heiligen-Geist-Spitales vor den Stadtmauern Wiens die erste öffentliche Sektion einer menschlichen Leiche durchgeführt. Geleitet hat dieses feierliche Ereignis der Dekan der medizinischen Fakultät, Galeazzo de Santa Sophia. Von den eingehobenen Zuschauergebühren wurde das erste Siegel der medizinischen Fakultät angeschafft. Bier, Wein und Konfekt wurden angeboten, „Doctores, Scholares, Apothecarii et Chirurgii“ waren vom Eintrittsgeld befreit, alle übrigen mußten für das Spektakel zahlen.

Das Heiligen-Geist-Spital, vornehmlich für Pilger bestimmt, lag im Süden Wiens vor dem Kärntner Tor und jenseits des Wienflusses, etwa in der Gegend der heutigen Technischen Universität. Anläßlich der ersten Türkenbelagerung 1529 wurde das Krankenhaus aus strategischen Gründen geschleift und nicht mehr aufgebaut. 1452 fand die erste Sektion einer Frauenleiche statt. Diesmal schloß man aber aus Gründen der Sittlichkeit die Öffentlichkeit aus.

Der Buchhändler Alantsee aus der jetzigen Sonnenfelsgasse war der erste Wiener, der in seinem Testament verlangte, daß nach seinem Tod der Körper geöffnet würde.

Das Ergebnis wurde so protokolliert: „… daß man ihm nach seinem Begehren und der Freundschaft willen die Brust geöffnet im Jahre 1522 und befunden, daß das Herz mehr denn halbert verfault und eitrig gewesen …“

WAS IST PATHOLOGIE?

Jeder braucht sie, keiner will sie.

Im täglichen Sprachgebrauch werden meistens Pathologie und pathologische Anatomie synonym gebraucht. Das war früher einmal richtig, ist jedoch gegenwärtig nicht mehr so einfach.

Pathologie ist Krankheitslehre und Krankheitsforschung.

Pathologische Anatomie ist die Lehre von den krankhaften Veränderungen an den Zellen und Geweben des Körpers.

Pathologie umfaßt daher – im weiteren Sinn – die gesamte Medizin. Das ist gut, hat sich bewährt und sollte auch so bleiben.

Der Pathologe steht im Seziersaal,

sitzt hinter dem Mikroskop,

betreibt bakteriologische und serologische Diagnostik,

ist Gesprächspartner des Klinikers

… und macht Fehler wie jeder andere Mensch.

Die treffendsten Bezeichnungen stammen von Pathologen selbst, so nannte sich Wilhelm Doerr: „Arzt mit besonderem Auftrag“, während Robert Rössle unseren Berufsstand so charakterisierte: „Pathologen sind neugierig bewegt, wenn auch einseitig vertieft.“

Beide haben irgendwie recht. Der besondere Auftrag besteht in unserer diagnostischen und gutachterlichen Tätigkeit; ohne neugierig zu sein, ist in der Wissenschaft überhaupt nichts möglich, und einseitig vertieft ist jeder Spezialist. Letzteres macht so lange nichts, als er noch den Blick für das Ganze behalten hat.

Für das nichtmedizinische Publikum, und das ist die überwiegende Mehrheit, hat der Pathologe etwas Unheimliches an sich. Die Leute wissen ja nicht so genau, was sich hinter den Türen des Seziersaales tatsächlich abspielt, und daher wird unsere Tätigkeit am menschlichen Leichnam meist mit gemischten Gefühlen betrachtet.

„Die Pathologen und die Psychiater sind die schwarzen

Schafe der Medizinerwelt. Die einen beschäftigen sich mit

dem Tod, die anderen mit dem Wahnsinn. Und so weit hergeholt

ist die Verwandtschaft PathologiePsychiatrie nicht.“

Aus den USA kam eine noch härtere Charakterisierung

der Pathologen von einer Medizinstudentin: „How can

anyone in his right mind do this sort of thing!“

Pathologische Anatomie zur Feststellung einer Todesursache wurde schon von Maria Theresias Hof- und Leibarzt Gerard van Swieten (1700–1772) und dessen Schülern getrieben. 1796 wurde ein unbesoldeter staatlicher Amtsposten geschaffen und kaiserlich genehmigt. Der junge Arzt Aloys Rudolf Vetter (geb. 1765) durfte die im Allgemeinen Krankenhaus zu Wien Verstorbenen sezieren. Ein Amt wurde installiert, keine Wissenschaft gegründet. Die Pathologie ist beamtet worden, aber das ist bekanntlich in unserem Land entscheidend.

Aus seinen anatomischen Anfangszeiten erzählte Joseph Hyrtl (1810–1894), der bedeutendste österreichische Anatom des vergangenen Jahrhunderts: „Ich hatte eine Kindesleiche nach Hause getragen, um meine ersten Einspritzungsversuche zu machen. Ich setzte sie, da meine Kammer nicht heizbar war, in einem Küchentopf in den Ofen, wo meine Mutter das Mittagmahl kochte. Als Zeit zum Anrichten war, ergriff sie das unrechte Geschirr, aus welchem ihr ein hartgesottenes Menschengesicht entgegenstarrte. Ein Schrei, eine Ohnmacht folgte. Topf und Kind lagen auf dem Boden. Ich raffte es auf, um es unter meinem Mantel (es war Winterszeit) eiligst und bestürzt zurückzutragen. Auf der Schlagbrücke [Brücke über den heutigen Donaukanal in Wien] angelangt, tat ich auf dem Glatteis einen schweren Fall. Ein Polizeimann half mir auf und entdeckte, als der Wind den Mantel lüftete, meine heimliche Bürde. Festgenommen, auf das Kommissariat geschleppt und einstweilen in festen Gewahrsam gesteckt. Gegen Abend Verhör, Verteidigung als wahrscheinlich angenommen, aber Unschuld an Kindesmord nicht hinlänglich bewiesen. Ich berief mich auf den Anatomiediener Kaspar, bei dem ich das Corpus delicti um zwei Gulden gekauft hatte. Unter Bedeckung zweier Vertrauter wurde ich zu ihm geführt, Kaspar war total betrunken. Hierauf ging es zu Professor Mayer, dem Vorstand des Institutes, welcher sofort an dem roten Band der Nabelschnur erkannte, daß das Kind aus dem Findelhaus stammte. Er hielt mir eine kurze Verteidigungsrede und eine lange Strafpredigt, lud mich und die beiden Kriminalbeamten zum Nachtmahl ein, und so wurde aus dem vielbewegten Tag noch ein fröhlicher Abend.“

„Mein Vater ist ein Leichenschneider!“