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Inhaltsverzeichnis

1. Geschichte eines weisen Helden, der sich mit einer gelehrten Kaisertochter unterhält
2. Vom weißen und vom roten Kaiser
3. Juliana Kosseschana
4. Trandafíru
5. Der Erbsenkaiser
6. Die Wölfe des Zigeuners
7. Die Geiß mit den drei Geißlein
8. Der arme Junge
9. Adams Vertrag
10. Die Mutter Gottes als Helferin
11. Von der schönen Rora
12. Hör nicht, Siech nicht, Sei nicht schwer wie die Erde
13. Die Frau des Herrgotts
14. Heimkehr aus der Fremde
15. Das Bild der heiligen Maria
16. Drăgan Cenuşă
17. Mit Odolean – dem Sohn der Boldicuţa.
18. Der Held des Wassers
19. Was einem Burschen im Leben widerfahren ist
20. Frau Schlange
21. Von dem armen Mann und dem Bojaren
22. He-was-ich-weiß-nicht-was
23. Mit Cazarchina
24. Der Knabe und der Türke
25. Die junge Gemeinde
26. Der Bär, der Adler und der Fuchs
27. Vom Fuchs, vom Wolf und vom Pferd
28. Die Dreihändige
29. Der heilige Nikolaus als Weggeleiter
30. Paraschiva
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1. Geschichte eines weisen Helden, der sich mit einer gelehrten Kaisertochter unterhält

Es war ein Held aus gutem Geschlecht, der war sehr klug und gelehrt. Eines Tages dachte er bei sich: ›Was soll ich tun, denn ich bin arm und habe keinerlei Vermögen. Aber ich werde in ein fremdes Land ziehen und bei einem Bojaren Dienst nehmen, denn dank Gottes Gnade habe ich etwas gelernt, bloß fehlen mir Pferd und Kleidung. Aber was werde ich tun: ich werde meinen Vater verkaufen und mir ein Pferd erwerben; und ich werde meine Mutter verkaufen und den Erlös für Kleider hergeben.‹

Gesagt, getan. Er stieg aufs Pferd und machte sich auf den Weg. Und als er so daherritt, geschah es, daß er einen andern Burschen traf, dessen Pferd sehr von Kräften gekommen war. Sie boten einander guten Tag, und sofort fragte der kluge Held den andern: »Bruder, woher kommst du und wohin ziehst du? Denn du sollst mir Weggefährte sein.« – Der andere antwortete: »Gern wäre ich dein Gefährte, aber mein Pferd kann nicht mehr weiter, und ich habe noch einen weiten Weg bis zum Kaiser, um ihm einen Brief zu bringen.«

Der kluge Held dachte eine Weile nach und sprach bei sich: ›Ich werde von ihm diesen Brief nehmen, vielleicht kann ich damit etwas Gutes anfangen.‹ Und er sagte zu dem dummen Burschen: »Bruder Weggefährte, da dein Pferd nicht weiterkann, gib mir diesen Brief und ich werde ihn dem Kaiser bringen, denn mein Pferd ist stärker und besser.«

Der Bursche verneigte sich daraufhin vor dem klugen Burschen und gab ihm den Brief. Dann kehrte er heim. Der kluge Bursche aber zog von dannen und begann nachzudenken: ›Was mag wohl in dem Brief stehen, den ich dem Kaiser bringe?‹ Er löste das Siegel des Briefes und las, daß jedem, der diesen Brief dem Kaiser bringen würde, der Kopf abgeschlagen werde. Da zerriß der kluge Bursche den Brief und lobte Gott, daß ihm die Erleuchtung gekommen war, den Brief zu lesen. Als er in die Stadt kam, in der der Kaiser wohnte, sah er den kaiserlichen Palast rundum von Wasser umgeben. Und um den Palast sah er viele Köpfe gepfählter Männer.

Er mietete sich bei einer Wirtin ein, nicht weit vom kaiserlichen Hof. Es war eine Witwe, der vor nicht allzu langer Zeit der einzige Sohn gestorben war, den sie sehr geliebt hatte. Sobald sie den klugen Burschen sah, küßte sie ihn mit Mutterliebe und unter Tränen und nahm ihn an Sohnes Statt an. Und auch der Bursche nannte die Frau aus Liebe ›Mutter‹ und sprach zu ihr: »Mutter, ich möchte dich etwas fragen: du sollst mir sagen, aus welchem Grund sind rings um den kaiserlichen Hof so viele gepfählte Köpfe?« Das Mütterchen sagte: »Um es dir geradeheraus zu sagen, mein Sohn, diese Stadt gehört einem sehr bösen und jähzornigen Kaiser. Und dieser hat eine sehr kluge Tochter. Viele Söhne von Bojaren und Kaisern haben ihr Fragen gestellt und haben ihre Fragen beantwortet. Sie konnten sie aber an Weisheit nicht übertreffen. Diese alle mußten auf Befehl des Kaisers geköpft werden, und ihre Köpfe wurden gepfählt. Die Prinzessin ist so gelehrt und klug, daß nicht nur der Kaiser ihr folgt, sondern alle Menschen auf ihre Lehren hören. Sie ist so hübsch und tüchtig, daß sich im ganzen Lande keine findet, die ihr gleichkommt, und jeder Jüngling, der sie anblickt, verliert sofort seinen Verstand. Deshalb kann niemand sie an Klugheit übertreffen, und jeder setzt daher seinen Kopf aufs Spiel. Und wenn ihr einer auch große Reichtümer bietet, so sucht sie diese doch nicht; sie fragt und sucht nur nach Weisheit. Sie sagt: ›Wer will, daß ich seine Frau werde, muß aus allen Büchern meine Gelehrsamkeit herausfinden und mir auf das antworten, was ich ihn fragen werde. Wenn er mir aber nicht antworten kann und mich an Klugheit nicht übertrifft, dann werde ich befehlen, daß man ihm den Kopf abschlage.‹ «

Diese Worte sprach die Witwe und fragte dann den Burschen : »Woher bist du? Und wie heißt jene Gegend?« – Der Jüngling antwortete: »Mütterchen, ein andermal werde ich dir erzählen, woher ich stamme, denn jetzt habe ich keine Zeit. Ich denke daran, zur Kaisertochter zu gehen, um ihre Weisheit auf die Probe zu stellen. Und vielleicht werde ich sie übertreffen können. Ich werde mein Glück mit Gottes Hilfe und mit deinem Segen versuchen, Mütterchen.«

Darauf entgegnete das Mütterchen: »Ich bitte dich, mein Sohn, laß sie in Frieden und verzichte auf diese Sache, denn kein Held kam von ihr heil zurück.« – »Wer den Tod fürchtet, wird nie etwas Gutes vollbringen.« Die Witwe sprach: »Gott möge dir beistehen, mein Sohn.«

Der kluge Bursche ging zum Tor des kaiserlichen Palastes und rief den Wachen zu, sie möchten ihn zum Kaiser vorlassen. Und sie ließen ihn vor. Und als unser Held vor den Kaiser kam, sprach er: »Erlauchter Kaiser, erlaubt mir, daß ich zu Eurer Tochter eintrete, um mich mit ihr über Gelehrsamkeit zu unterhalten!« Der Kaiser sprach: »Brüderchen, verstehst du auch etwas davon? Paß auf, daß du nicht in die Hand derer fällst, die keine Gnade kennt! Siehst du die vielen Köpfe? Viele tapfere Helden sind gekommen! Paß auf, daß du nicht deinen Kopf verlierst, denn meine Tochter wird dich an Klugheit übertreffen.«

Der Bursche sprach: »Dem Menschen, der Glück hat, hilft auch Gott.« Und indem er sich vor dem Kaiser verneigte, ging er in den Palast, wo die Tochter des Kaisers wohnte. Als er in den Hof eintrat, grüßte er sie, und sie dankte ihm. Er setzte sich auf einen goldenen Stuhl und blickte auf die Kaisertochter, aber sofort senkte er den Blick und dachte: ›Wenn ich sie anschauen werde, ...‹1

Die Kaisertochter fragte: »Welcher Tote war zuerst auf der Erde?« Er antwortete: »Der Sohn Adams, Abel.« Und sie fragte: »Welche zwei kämpften bis zur Ankunft Christi?« Und er erwiderte: »Das Leben und der Tod.« Die Kaisertochter fragte weiter: »Wer wurde nicht geboren und ist gestorben?« – »Adam wurde nicht geboren und ist gestorben.« Und sie fragte wieder: »Wer hat die Wahrheit gesprochen und ist zugrunde gegangen? Und wer hat gelogen und wurde erlöst?« – »Judas sprach die Wahrheit und ging zugrunde; und Petrus hat gelogen und wurde erlöst.« – »Wann freute sich die ganze Welt?« – »Als Noah das Schiff verließ.« – »Wann ist der vierte Teil der Menschheit umgekommen?« – »Als Kain seinen Bruder Abel tötete.« – »Zur Zeit welchen Kaisers wurde Christus ans Kreuz geschlagen?« – »In der Zeit des Kaisers Tiberius und Augustus.« – »Wo vereinigten sich Frost und Feuer?« – »In Sodom und Gomorrha.« – »Wer ist aus dem Leib einer toten Mutter geboren und wieder in den Leib der Mutter zurückgekehrt?« – »Adam ward aus Lehm und wurde wieder zu Lehm.« – »Welches Tier war nicht mit Noah in der Arche?« – »Der Fisch.« – »Wer hat Gott zum erstenmal auf der Erde erwähnt?« – »Der leibhaftige Teufel.« – »Wer ist tot und tauft die Lebendigen?« – »Die tote Hand tauft lebendige Seelen.«

Die Kaisertochter befahl dem Burschen: »Kehre nun wieder in deine Herberge zurück, denn du wirst mein Mann werden. Aber komme morgen früh, und wir werden noch etwas plaudern. Wir werden uns über gute Dinge Fragen stellen, nur daß du mir ja auf alle antwortest!«

Der Bursche verneigte sich vor der Kaisertochter und kehrte heim. Die Kaisertochter aber wurde traurig, und sie begann nachzudenken über die Antworten des klugen Burschen. Sie aß nicht, sie trank nicht, die ganze Nacht hindurch schlief sie nicht, sondern dachte nach, wie sie ihn überwinden könnte.

Am nächsten Tag kam der kluge Bursche mit großer Freude und bot ihr einen guten Morgen und er wünschte ihr alles Gute. Dann setzte er sich in einen goldenen Stuhl und sprach zur Kaisertochter: »Frage mich, worauf du dich verstehst, und ich werde dir antworten, denn heute denke ich daran, dich mit meinem Wissen zu überwinden.« Die Tochter des Kaisers sagte darauf: »Heute wirst du nicht heil von hier fortgehen, denn du lachst über mich. Und wenn du mir nicht auf das antworten wirst, was ich dich fragen werde, soll es dich unweigerlich den Kopf kosten.«

Der kluge Bursche antwortete: »Gott, der mir in diesen zwei Tagen geholfen hat, der wird mir auch weiter helfen.« Dann fragte die Kaisertochter: »Was ist das für ein Markt, zu dem kein Weg hinführt, und die Menschen gehen doch dorthin?« Und nachdem er darüber nachgedacht hatte, antwortete der Bursche: »Das Schiff auf dem Meere. Da führen keine Wege hin und die Menschen kommen doch dorthin.« – »Wer ist derjenige, der seinen Vater in dessen Haus getötet hat?« – »Der König hat den Papst ...«2 – »Wie war der Name der zwei Diebe, zwischen denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde?« – »Der zur Rechten hieß Hersandanu und der zur Linken Dezmanu.« – »Zu welcher Festung auf der Erde führt kein Weg hin?« – »Die Arche des Noah auf dem Berg Ararat, dort führt kein Weg hin.« – »Worauf ruht die Erde?« – »Sie ruht auf dem Wasser, das Wasser auf dem Stein und der Stein auf dem Wissen Gottes.« – »Wer ist zweimal gestorben?« – »Lazarus, der Gerechte.«

Dann sagte der Bursche zu der Tochter des Kaisers: »Jetzt habe ich dir auf alle Fragen geantwortet, wie es sich gehört. Und jetzt möchte ich dich etwas fragen, und wenn du mir nicht antworten wirst, werde ich befehlen, daß man dir den Kopf abschlägt. Antwortest du mir aber, wirst du meine Frau.« Darauf entgegnete die Kaisertochter: »Dazu bin ich bereit. Entweder steht dein Befehl über mir, oder meiner über dir.«

Der kluge Bursche sprach zur Kaisertochter: »Wer ist jener mit der hübschen Gestalt, der aus dem Vater ein Pferd machte und aus der Mutter Kleider? Antworte mir auf die Frage!« Die Kaisertochter erwiderte: »Diese Frage, verehrter Held, zeigt deine Weisheit als ein leuchtendes Licht, und es gibt keinen andern auf der ganzen Welt, der so weise und gelehrt wäre wie du. Ich bitte dich, gönne mir Ruhe diese Nacht und ich werde dir antworten, und wenn nicht, dann geschehe es nach deinem Willen. Entweder schlägst du mir den Kopf ab, oder ich werde deine Frau.«

Der kluge Bursche dankte und ging zu seiner Herbergmutter. Die Kaisertochter aber stieg auf einen hohen Balkon und merkte sich das Haus, zu dem er ging. Sie war sehr traurig und dachte: ›O heilige Herrn! Ich wundere mich selbst, wie ich auf diese Frage des Burschen antworten werde.‹ Und sie dachte bei sich, sie werde zur Herberge des Burschen gehen. Da sprach sie bei sich selbst: ›Er wird mich nicht kennen, und ich werde fragen: Wenn er der Sohn eines Kaisers wäre, würde ich ihm folgen. Ist er aber aus einem einfachen Geschlecht, werde ich nicht folgen, auch wenn ich den Kopf verliere.‹

Sie zog schöne Kleider an und sprach: »Wer mich anschauen wird, dem wird es das Herz zerreißen und er wird den Verstand verlieren.« Sie nahm teure und starke Getränke mit und sagte: »Ich werde erzählen, daß ich die Tochter des Schmieds und nicht des Kaisers bin.« Denn damals lebte ein Schmied, der eine Tochter hatte, die so klug war wie sie.

Und die Kaisertochter ging zum Hause des Burschen, und als sie an das Tor kam, klopfte sie, daß man ihr öffne. Da kam die Witwe und fragte sie: »Warum bist du, Kaisertochter, zu meinem einfachen Hause gekommen?« Da antwortete ihr die Kaisertochter: »Ich bin nicht die Tochter des Kaisers; ich bin die Tochter des Schmieds, das heißt des Goldschmieds. Ich bitte dich, Mutter, erlaube mir, daß ich in dein Haus eintrete, denn mich hat mein Vater hierhergeschickt mit einem dringenden Geschäft zu deinem Gast.«

So trat die Kaisertochter in das Haus, kam zu dem Burschen, begrüßte ihn und sprach: »Sei gepriesen, erleuchteter Mond!« Denn sie dachte, der Held würde ihr sagen: ›Sei auch du gepriesen, leuchtende Sonne.‹ Aber der kluge Bursche antwortete: »Sei auch du geehrt, leuchtender Morgenstern! Weshalb bist du gekommen, und was ist dein Begehr, geehrte Dame?« – Sie antwortete: »Deine Gnade und Ehre haben mich zu dir geführt.« Der Bursche drauf: »Aus welchem Stamm bist du, geehrte Dame?« – »Ich bin die Tochter des Schmieds. Mein Vater ist Schmied und dient dem Kaiser. Und nun frage ich dich: Wo bist du her? Und was tust du hier in dieser Stadt? Wie ich sehe, loben dich alle Menschen und nennen dich einen großen Helden, denn sie sagen, du hast mit deinem Wissen die Tochter des Kaisers besiegt. Mein Vater hat mich geschickt, damit ich dich vor dieser Kaisertochter beschütze. Und da ich Mitleid mit dir habe, bin ich zu dir hergekommen.«

Als er ihre Schönheit sah, konnte er sich nicht erinnern, daß sie die Tochter des Kaisers sei, und er begann gleich zu trinken. Das Mädchen richtete es so ein, daß er immer weitertrank. Und sie saßen die ganze Nacht beieinander und ergötzten sich und küßten sich mit Wonne. Und der Bursche betrank sich, und da sprach die Kaisertochter zu ihm: »Wie die Leute sagen, hast du die Kaisertochter in einigen Fragen an Wissen übertroffen und ihr Fragen gestellt, auf die sie nicht antworten konnte.« Der Bursche erwiderte: »Was die Kaisertochter wußte, hat sie mich gefragt. Und ich habe ihr auf alles geantwortet. Und ich habe ihr eine Frage auf mich bezogen gestellt, daß ich meinen Vater verkauft habe, um mir ein Pferd zu kaufen und die Mutter für meine Kleider. Dann bin ich durchs Land gezogen und habe Dienst gesucht.« Da sagte die Kaisertochter: »Mein Geliebter, bis jetzt habe ich mit niemandem weder gegessen noch getrunken, nur zu dir bin ich gekommen, denn ich liebe dich.« – »Gott möge dir ein langes Leben geben!«

Und so sprachen sie, indem sie tranken, und die Tochter des Kaisers nahm stärkeren Wein und gab ihn dem Burschen. Und er wurde bald betrunken und schlief ein. Die Kaisertochter stand frühzeitig am Morgen auf und kehrte zu ihrem Hofe zurück. Nur mit Mühe konnte sich der Bursche vom Weinrausch befreien, und da kam ihm in den Sinn, daß das die Tochter des Kaisers und nicht des Schmieds gewesen war. Und er war sehr traurig, daß er ihr so viel anvertraut hatte. Und unter solchen trüben Gedanken fand er einen Goldring in seinem Bett, welcher der Kaisertochter gehörte, und zwar erkannte er ihn daran, daß er einen teuren Edelstein hatte und der Name der Kaisertochter daraufstand. Da freute er sich sehr, nahm den Ring und ging zur Kaisertochter, und er wünschte ihr einen guten Morgen.

Und als er sich auf einen goldenen Stuhl gesetzt hatte, sprach die Kaisertochter zu dem Burschen: »Jetzt werde ich dir auf die Frage von gestern antworten: Du bist es, der seinen Vater verkauft hat, um sich ein Pferd anzuschaffen, und seine Mutter um Kleider.«

Und sofort befahl sie nun ihrem Gesinde, den Burschen vor den Kaiser zu führen und ihm zu erzählen, daß sie ihn doch an Wissen übertroffen habe. Als sie ihn dann vor den Kaiser brachten, befahl dieser sofort, ihm den Kopf abzuschlagen. Doch der kluge Bursche sprach zum Kaiser: »Erlauchter und mächtigster Kaiser, ich will nur ein Wort sagen und dein Wille geschehe!« Der Kaiser rief: »Wage es und sprich, was du begehrst!« – »Allermächtigster Kaiser, ein Wort werde ich sagen, und wenn dies jemand deuten kann, soll man mir den Kopf abschlagen. Am gestrigen Tage flog ein Täubchen vom kaiserlichen Hofe auf und kam zu meiner Wirtin geflogen. Da ich hier fremd bin und diesen schönen Vogel sah, machte ich mit ihm, was ich wollte. Als das Täubchen meinen Händen entfloh, kehrte es zu Eurem kaiserlichen Hof zurück. Nur soviel, ich lobe den Herrgott, denn ich fand ein Federchen von diesem Vogel, das dieses Täubchen nachts verloren hatte, als es neben mir ruhte. Die ganze Wahrheit habe ich Euer Gnaden erzählt, allermächtigster Kaiser!« Der Kaiser antwortete darauf dem Burschen: »Sag mir, Kerl, was war der Anlaß für den Besuch dieses Täubchens? Welches Geheimnis steckt dahinter? Erkläre mir das, Bursche!« Der Bursche zeigte ihm den goldenen Ring und sprach: »Dies ist das verlorene Goldfederchen!«

Als der Kaiser den Ring sah, erkannte er ihn als den seiner Tochter. Und als die Kaisertochter kam, rief ihr Vater sogleich: »Dirne von einer Tochter! Was macht dieser Ring bei dem Burschen?« Die Kaisertochter antwortete: »Mein Vater! Das ist nicht mein Ring, denn meiner ist zu Hause. Aus Neid hat der Bursche mir diese Entehrung angehängt, denn ich habe ihn an Wissen übertroffen.«

Der Kaiser sprach: »Bring mir den Ring, den du zu Hause hast!« Der Bursche wurde freigelassen, bis sie den Ring bringen würde. Sie aber kehrte mit großer Schande in den Serail zurück. Sogleich rief sie den Goldschmied und bat ihn inständig, daß er ihr innerhalb einer Stunde einen Ring schmiede, wie der alte war, gleich schwer und ganz gleich. So machte ihr der Goldschmied den Ring, der gefiel ihr sehr gut, und sie bat ihn, er möge davon niemandem erzählen. Sie brachte den Ring zu ihrem Vater und sagte: »Dies ist mein Ring, Vater. Aber der des Burschen ist nicht der meine.«

Gerade weilten aber Fremde aus einem fernen Lande beim Kaiser. Und als sie die beiden Ringe verglichen, konnten sie keinen Unterschied feststellen, aber so viel erkannten sie doch, daß der Ring des Burschen älter und der des Mädchens neuer war. Im Gewicht aber waren beide gleich. Darauf sprach der Kaiser: »Umsonst, meine Tochter, verschwendest du leere Worte gegen diesen Burschen, denn du hast ihn nicht an Weisheit übertroffen. Er soll dich zur Frau haben, und dann werdet ihr beide in lauter Gelehrsamkeit leben, und nach meinem Tode sollt ihr dann mein Kaiserreich erben!«

Darauf entgegnete die Kaisertochter: »Deine Weisheit möge mich beherrschen! Dein Wort und dein Segen werden mich nicht verlassen, Vater!«

Und so vermählten sich die beiden und der Kaiser bereitete ihnen mit großer Freude die Hochzeit. Sie lebten lange Zeit glücklich, nach dem Tode des Kaisers aber wurde unser Bursche Kaiser.

Und so behielt der Mann die Oberhand über seine Frau, und nicht die Frau über den heldenhaften Mann.

2. Vom weißen und vom roten Kaiser

Petru, der einzige Sohn eines sehr strengen Mannes, träumte einmal, er werde dereinst vornehmer werden als sein Vater, ja bis zum Kaiser aufsteigen. Als ihn am andern Morgen sein Vater fragte, warum er so ausgelassen sei, wollte er es nicht sagen, denn er kannte den Vater wohl und wußte, daß er über so hochfahrende Hoffnungen unwillig sein, ihn vielleicht sogar bestrafen werde. Das half ihm aber nichts, denn der Alte wurde nun über die Weigerung so aufgebracht, daß er seinen Sohn mit einer tüchtigen Tracht Schläge bedrohte, wenn er nicht mit der Sprache herausrücke. So blieb dem armen Petru keine Wahl, als das väterliche Haus mit dem Rücken anzusehen und in die weite Welt zu gehen. Damit er nicht erwischt werde, lief er einem nahen Walde zu, durch den sich an einem kleinen Fluß eine Landstraße hinzog. Als der Flüchtling sich nun weit genug vom Hause seines Vaters entfernt glaubte, setzte er sich bei einem Gebüsch nieder und fing an zu weinen, denn es rückte schon der Abend heran, und der arme Junge wußte noch nicht, wo er für die Nacht ein Obdach finden solle.

Eben als die letzten Strahlen der Sonne die Zweige der Bäume vergoldeten, erhob sich von der einen Seite der Straße her eine Staubwolke, und ehe sich der betrübte Petru recht umschauen konnte, war schon ein Trupp Reiter an ihm vorübergesprengt, dem ein prächtiger, mit acht milchweißen Rossen bespannter Wagen folgte. In diesem saß ein sehr vornehm aussehender Mann, dessen feine Gewänder ebenfalls weiß wie Schnee waren, und an der Krone, die er auf dem Haupte trug, sah Petru, daß er ein Kaiser sein müsse. Wie der vornehme Mann den weinenden Jungen sah, ließ er halten und fragte, was ihm fehle. Sowohl die heitre, freimütige Weise, wie Petru Bescheid gab, als auch die Neugierde, nun selber den geheimnisvollen Traum zu erfahren, bewogen den Kaiser, dem Jungen anzubieten, mit ihm auf sein Schloß zu kommen und, wenn er ein treuer Diener sein wolle, bei ihm zu bleiben. »Ich bin der weiße Kaiser«, so schloß er seine Rede, »und kann dich groß machen, wenn du mir folgst!« Was konnte sich Petru mehr und Besseres wünschen? Er war glücklicher denn je, küßte den Saum von des Kaisers Mantel, durfte darauf in den Wagen steigen und mit in das herrliche Schloß fahren. Als man dort angekommen war, erhielt Petru die Erlaubnis, es zu durchwandern und mit allen seinen Herrlichkeiten genau zu betrachten. Von allem aber, was er sah, gefiel ihm nichts besser als des Kaisers schöne Tochter, von deren blonden Locken er bald kein Auge mehr abwenden konnte. Bald gewöhnte sich auch die Prinzessin an Petrus Anblick, sie sah ihn so gern, daß er es wohl bemerken konnte, und natürlich war er darüber gar nicht böse.

Eines Tages nun begab es sich, daß der Kaiser nach der Tafel mit einem seiner Gelehrten in ein tiefsinniges Gespräch über Träume geriet. Da fiel von ungefähr sein Blick auf Petru; er erinnerte sich, was ihm dieser beim Anfang ihrer Bekanntschaft von einem denkwürdigen Traum erzählt hatte, und wie er um dessen willen von Haus entlaufen sei. Der Kaiser verlangte nun, der Jüngling solle sein Traumgesicht erzählen, aber Petru dachte: ›Diesen Traum kannst du dem Kaiser noch weniger erzählen als deinem Vater, denn der ließe dich sogleich hängen, weil er dächte, du trachtest nach seiner Krone.‹ Er sprach daher zum Kaiser: »O großmächtigster Herr, verlange nicht zu wissen, was ich meinem eigenen Vater habe verschweigen müssen!« Wie früher Petrus Vater, so wurde nun der weiße Kaiser unwillig über die Weigerung und verlangte nochmals dringend, Petru solle seinen Traum erzählen. Aber Petru bat wieder: »Sei gnädig, Herr, und erlaß mir die Erzählung.« Als der Kaiser darauf zum drittenmal und wieder umsonst sein Begehren ausgesprochen hatte, wurde er ganz bleich vor Zorn und rief seinen Dienern: »Nehmt diesen eigensinnigen Trotzkopf und sperrt ihn in die Ruinen der weißen Burg! Dort mag er in Hunger und Elend verschmachten!« Als die Prinzessin dies hörte, sank sie vor Schrecken in Ohnmacht; da hob der Kaiser die Tafel schnell auf, seine Tochter aber hieß er auf ihr Zimmer bringen. Petru, dem ohnehin schon alle Diener im Schlosse gram waren, weil ihm der weiße Kaiser stets besondere Gnade widerfahren ließ, wurde nun schnell ergriffen und nach den Ruinen der weißen Burg gebracht, wo er Hunger und Elend und einem langsamen Sterben preisgegeben werden sollte.

So wollte es der Kaiser, der ihn bald vergessen hatte, aber Gott wollte es nicht so. Denn die schöne Prinzessin vergaß Petru nicht so schnell wie ihr Vater, sondern als es Abend war und der volle Mond seinen Silberschein über die Fluren ergoß, schlich sie zu dem Orte hin, wo ihr armer Geliebter gefangensaß. Sie brachte ihm zu essen und zu trinken und blieb einige Stunden bei ihm, so daß Petru über das Elend seiner Gefangenschaft schnell getröstet war. Sie hatten sich gar viel zu erzählen, so daß die Zeit schneller verging, als ihnen lieb war, daher versprach die Prinzessin beim Abschied, sie wolle morgen um dieselbe Stunde wieder kommen.

Mehrere Male hatte sie so ihren geliebten Gefangenen durch ihre Besuche erfreut, da kam sie eines Abends mit rotgeweinten Augen und war sehr niedergeschlagen. Als Petru sie nach der Ursache ihrer Traurigkeit fragte, sprach sie: »Ach, Petru, der rote Kaiser hat heute meinem Vater einen Stock zugeschickt, welcher oben und unten gleich dick ist, und hat ihm durch seine Gesandten sagen lassen, wenn er nicht binnen drei Tagen errate, welcher Teil des Stockes der obere und welches der untere sei, so werde er ihn und sein Volk mit Krieg überfallen, unser Land verheeren und uns alle töten. Darüber ist mein armer Vater in Verzweiflung, denn wie kann er erraten, was an dem Stock oben und was unten ist, da er an beiden Enden dieselbe Dicke hat! Heute sitzt er schon den ganzen Tag mit seinen Räten zusammen, aber keiner von allen hat ihm die Aufgabe zur Zufriedenheit lösen können.« Als sie das gesagt hatte, fing sie wieder an zu weinen, Petru aber fragte: »Und ist denn weiter keine Aufgabe zu lösen, als die mit dem Stock?« Worauf ihn die Prinzessin groß ansah, denn sie hielt diese Frage für Spott. Als ihr Geliebter sie nochmals fragte, sagte sie: »Nein, ist es denn nicht genug, du Hartherziger, an der einzigen, die niemand zu lösen versteht, nicht einer von meines Vaters alten, weisen Ratgebern!« – »Wenn es dies ist und sonst nichts«, erwiderte Petru auf den Vorwurf, den ihm die Prinzessin machte, »so tröste dich und gehe schnell nach Hause, damit du in das Haus deines Vaters wieder Freude bringst. Lege dich für heute schlafen, und morgen, wenn du aufstehst, so sprich also zu deinem Vater: ›Vater, liebster Vater, mir hat heute etwas sehr Wichtiges geträumt.‹ Er wird alsdann fragen, was? Dann rede weiter: ›Mir hat geträumt, wenn man den geheimnisvollen Stock, den der rote Kaiser an deinen Hof sandte, in die Höhe werfe, so zeige sich im Herabfallen das als das untere Ende, welches zuerst den Boden wieder berührt.‹«

Freudig und voll Vertrauen auf die Klugheit dieses Rates, umarmte die Prinzessin ihren geliebten Petru und eilte nach Hause. Am andern Morgen tat sie, wie ihr geraten war, und der Kaiser, der viel auf tiefsinnige Träume hielt, ließ es sogleich, angesichts der Gesandten des roten Kaisers, mit dem Stocke so machen, wie seine Tochter geträumt haben wollte. So wurde ganz natürlich die schwierige Aufgabe, an welche sämtliche Räte und Gelehrte des kaiserlichen Hofes ihre Weisheit verschwendet hatten, auf eine einfache, leichte Weise gelöst. Alsbald reisten auch die fremden Gesandten ab, um ihrem Kaiser Bericht abzustatten.

Nicht lange dauerte es, so schickte der rote Kaiser dem weißen wieder eine Gesandtschaft; sie überbrachte drei Pferde von ganz gleicher Farbe, Gestalt und Stärke. Eines derselben war ein Fohlen, und der weiße Kaiser sollte wieder binnen drei Tagen, ohne einem oder dem andern ins Maul zu sehen, erraten, welches von den dreien das Fohlen sei. Könne er dies nicht, so würde der rote Kaiser sofort mit großer Heeresmacht in sein Reich einfallen und alles zerstören und alle ums Leben bringen.

Der weiße Kaiser erschrak heftig über diese Botschaft, rief sogleich wieder alle seine Gelehrten und Räte zusammen, und trug ihnen auf, das Fohlen von den beiden andern Pferden zu unterscheiden, damit es die fremden Gesandten ihrem Herrn berichten könnten. Die Gelehrten und Räte sahen sich an, keiner aber wußte genügende Auskunft, so daß der weiße Kaiser in große Angst verfiel und sich vor Betrübnis nicht zu helfen wußte. Abends ging die Prinzessin wieder zu den Ruinen der weißen Burg, wo ihr Geliebter darben mußte, und erzählte ihm von der Not, in der sich ihr Vater abermals durch die Drohung des kriegslustigen roten Kaisers befinde. Als Petru alles wohl vernommen hatte, streichelte er der Prinzessin die Wangen, die wieder von Tränen feucht waren, und sagte: »Teure Prinzessin, wenn du morgen aufstehst, so gehe wieder zu deinem Vater und sage ihm, du habest geträumt, es sei den drei Pferden mitten auf dem Platze vor dem kaiserlichen Palast, vor dem ganzen Hof und vor den Gesandten des roten Kaisers Heu und eine Schüssel mit süßer Milch vorgesetzt worden. Ich selbst sei bei der Schüssel mit Milch gestanden, und als man die drei Pferde losgelassen, so seien zwei nach dem Heu, das dritte aber nach der Milch gelaufen, und dies sei das Fohlen gewesen. Wenn das dein Vater hört, so wird er schnell nach deinem Traum die Frage lösen, und den fremden Gesandten die Antwort an den verhaßten roten Kaiser auftragen.« Die Prinzessin verabschiedete sich von ihrem klugen Geliebten nicht minder freudig als das erstemal und tat am folgenden Tage so, wie er ihr geraten hatte. Der Kaiser war natürlich über diesen Traum seiner Tochter wieder hochentzückt und ließ, wie sie ihm riet, auf den freien Platz vor dem Palaste, in Anwesenheit des ganzen Hofstaates und der Gesandten, Heu und eine Schüssel mit süßer Milch bringen. Nachdem dies geschehen war, gab er das Zeichen; die Pferde wurden herbeigeführt und freigelassen, worauf dann zwei, der Neigung ihres reiferen Alters folgend, sich zu dem Heu wandten, das dritte dagegen auf die Milch zuging. Darauf sprach der Kaiser zu den Gesandten vom Hofe des roten Kaisers: »Geht hin, nehmt das Pferd, welches die Milch getrunken hat, und sagt eurem Herrn, dies sei das Fohlen.« Die Gesandten nahmen die Tiere, beurlaubten sich und gingen fort, wobei sie die Klugheit des weißen Kaisers und seiner Räte nicht genug bewundern konnten. Die Prinzessin aber konnte die Nacht kaum erwarten, wo sie zu ihrem geliebten Petru eilen und ihm um den Hals fallen konnte vor Freude, daß er der weiseste Mann am Hofe ihres Vaters sei.

Der rote Kaiser wütete vor Zorn, daß der weiße Kaiser auch seine zweite Frage beantwortet hatte. Er war nämlich der Meinung gewesen, das vermöge niemand, und hatte sich im Herzen gefreut, daß es ihm nun nicht mehr an einem Vorwand fehle, den weißen Kaiser zu bekriegen und sein Reich zu erobern. »Geht hin«, sprach er zu seinen Gesandten, »und redet also zum weißen Kaiser: ›Der Herr des roten Reiches läßt dir sagen, du möchtest ihm binnen drei Wochen zu wissen tun: erstens, um welche Stunde er am Ostersonntag aus dem Bett steigen, zweitens, um welche Stunde er dann in die Kirche gehen, und drittens, wann er bei seiner Tafel den ersten Becher zum Mund führen werde. Wenn du, weißer Kaiser‹, so sollt ihr weiter zu ihm sagen, ›dies alles weißt, so magst du am Ostersonntag in der Burg des roten Kaisers erscheinen, oder einen Gesandten schicken, um ihm den Pokal, aus dem er trinken will, aus der Hand zu schlagen.‹« Diese Dinge, dachte der rote Kaiser bei sich, werde der weiße sicher nicht erraten, drum setzte er noch frohlockend hinzu: »Nun geht, meine Gesandten, und kündigt meinem Feind an, daß ich ihm unverzüglich den Krieg erklären werde, wenn er nicht beantworten kann, was ich ihn durch euch frage.«

Als die Gesandten zum dritten Mal am Hofe des weißen Kaisers erschienen und ihn mit ihren Aufträgen bekannt machten, wurden wieder alle Gelehrten und Räte zusammenberufen, um unter dem Vorsitze des Kaisers zu beraten, was zu tun sei. Aber auch diesmal wußte keiner eine rechte Auskunft, weshalb aufs neue die größte Bestürzung am ganzen Hof herrschte. Die Prinzessin allein ließ den Mut nicht sinken, weil sie fest auf die Klugheit ihres gefangenen Petru baute. Ungesehen ging sie wieder, als es Nacht war, zu den Ruinen der weißen Burg. Nachdem sie ihrem Freund alles mitgeteilt hatte, besann er sich eine Weile und sprach dann: »Liebste Prinzessin, sage morgen deinem hohen Vater, du habest wieder einen Traum gehabt, und durch ihn erfahren, daß hier nur der arme Petru in den Ruinen der weißen Burg Auskunft geben könne.« – »Was fällt dir ein, Liebster«, entgegnete hierauf die Prinzessin, »mein Vater könnte ja dadurch entdecken, daß ich dich besucht und am Leben erhalten habe, das kann nicht sein!« »Geh nur und tu so, wie ich dir sage, liebste Prinzessin«, sprach Petru, »denn dein hoher Vater wird es, samt seinen Räten und Gelehrten, für ein göttliches Wunder halten, daß ich noch am Leben bin, und daher meinem Rat um so mehr Glauben beimessen.« Dies leuchtete der Prinzessin ein, und sie ging getröstet, voll Vertrauen auf Petru, nach Hause.

Am andern Tage sprach sie zu ihrem Vater: »Mein Herr und Kaiser, diese Nacht hat mir geträumt, der arme Petru, der wohl schon längst in den Ruinen der weißen Burg verschmachtet und vermodert ist, wenn ihn nicht ein göttliches Wunder am Leben erhalten hat, könnte uns und das Reich von der Bedrängnis erretten, mit welcher uns der böse rote Kaiser bedroht.« Darauf erwiderte der weiße Kaiser: »Meine Tochter, du hast uns mit deinen Träumen, welche gewiß von Gott kommen, schon zweimal aus großen Nöten errettet, und ich will daher auch diesen deinen heutigen Traum nicht verachten. Darum sollen sogleich einige Männer nach den Ruinen der weißen Burg gehen und nachsehen, ob vielleicht jener Petru durch ein göttliches Wunder am Leben erhalten ist.« So geschah es, und bald kehrten die Boten mit der unglaublichen Nachricht zurück, daß Petru, frisch und gesund, noch am Leben sei. Als dies in der Stadt bekannt wurde, strömte alles Volk hinaus zu den Ruinen der weißen Burg, um sich selbst von diesem Wunder zu überzeugen und den längst vergessenen Petru wiederzusehen. »Wunder über Wunder!« tönte es überall, »Petru ist von Gott erhalten, um uns aus tödlicher Not zu befreien.« Unter lautem Jubel wurde der Held vor den Kaiser gebracht, der ihn erstaunt und innerlich hocherfreut also anredete: »Armer Petru, Gott der Allmächtige hat dich vor dem schmachvollen Tode beschützt, den ich dir zugedacht hatte. An dir hat Gott ein Wunder gewirkt, und ich setze daher das Vertrauen auf dich, daß du mein Reich vorm Verderben retten kannst, wenn du ernstlich willst. Gelingt es dir, uns zu retten, so will ich dich zu den höchsten Ehren bringen und dir meine Tochter selbst zur Gemahlin geben. Sprich, wessen du bedarfst, um mir und meinem Reich aus der großen Bedrängnis zu helfen.«

Petru sann eine Weile nach, dann beugte er sich demütig vor dem Kaiser, küßte ihm die Hände und begann hierauf: »Großmächtigster Kaiser, ich lege meine Seele zu deinen Füßen und danke dir sowohl für die Gnaden, die du mir früher erzeigt hast, als auch für die unverhoffte Befreiung aus meiner Haft und für den köstlichen Preis, den du mir versprichst für den Fall, daß es mir gelingt, dich und dein Reich vor dem Zorn des roten Kaisers zu beschützen. Zuerst bitte ich nur, daß in der Nähe des Schlosses, das der rote Kaiser bewohnt, eine hohe Warte gebaut werde; alsdann laß mir ein gutes Fernrohr verfertigen, und wenn ich dies habe, so soll alles übrige meine Sorge sein.«

Was Petru wünschte, geschah. An der äußersten Grenze des weißen Reiches wurde ein hoher fester Turm erbaut, von dessen Zinnen aus er mittels seines Fernrohrs in das Schloß des roten Kaisers sehen konnte. Der festgesetzte Ostersonntag brach an, und Petru stand schon, als der erste Morgen graute, auf dem Turm, sein Fernrohr in der Hand, zu seiner Seite einige der Räte des weißen Kaisers. In demselben Augenblick, wo sich die Morgensonne durch die purpurnen Wolken am Horizonte heraufdrängte, stieg auch der rote Kaiser aus seinem Bett. Petru nahm dies durch sein Fernrohr sogleich wahr und ließ die Stunde wie die Minute durch die Räte aufzeichnen. Als er den roten Kaiser näher betrachtete, erschrak er über dessen fürchterliches Aussehen, denn der soll der grausamste Wüterich seiner Zeit gewesen sein. Sofort sagte er zu einem von den Räten, die bei ihm standen: »Gehe hin zu unserm Herrn, dem weißen Kaiser, und sage ihm, er möge eine Schar der auserlesensten Krieger unter der Führung eines vertrauenswürdigen Hauptmannes bereithalten, damit sie mich, wenn ich heute mittag nach dem Schloß des roten Kaisers aufbreche, begleiten und sich nahe bei der Stadt in ein Versteck legen.« Dies tat Petru aus Vorsicht, denn er mißtraute den blutgierigen Launen des roten Kaisers. Der weiße Kaiser gab auch, als er Petrus Botschaft erhielt, sogleich Befehl, es sollten sich fünfhundert Krieger mit einem tüchtigen Hauptmann fertigmachen. Während dies geschah, ging der rote Kaiser mit seinem ganzen Hofstaate zur Kirche, und wieder ließ Petru auf seiner Warte Stunde und Minute genau verzeichnen; zum Kaiser sandte er aber einen andern Boten und ließ ihn um das schnellste Pferd aus dem kaiserlichen Stall bitten, das ihm auch alsbald geschickt wurde.

Als der Gottesdienst, dem der rote Kaiser beiwohnte, zu Ende war, begab sich dieser mit seinem glänzenden Hofstaat wieder in den Palast, wo alles aufs prächtigste zu einem großen Feste bereitet war. Nachdem er sich zur Tafel gesetzt hatte, bestieg Petru das für ihn bereitgehaltene Pferd und flog mit verhängtem Zügel dem Palaste zu; dort trat er eben in den Speisesaal, als der Kaiser seinem Edelknaben den Befehl erteilt hatte, ihm seinen Festpokal mit Wein zu füllen. Dies geschah, und als ihn der Herrscher des roten Reiches an die Lippen führen wollte, rief Petru mit gewaltiger Stimme: »Hoch, hoch! Der rote Kaiser will trinken!« Damit riß er einem der Bewaffneten die Lanze aus der Hand und stieß dem roten Kaiser den Pokal vom Munde. Dies alles war das Werk eines Augenblicks.

Wütend über diesen Frevel fuhr der rote Kaiser auf und befahl seinen Kriegern, den frechen Gast, dessen weiße Kleidung seinen Grimm nur noch vermehrte, zu ergreifen und niederzuhauen. Aber Petru geriet hierdurch nicht in Verwirrung, sondern sah den roten Kaiser dreist an. Dieser besann sich jetzt, daß es sich um die Lösung der drei Aufgaben handelte, die er dem weißen Kaiser gestellt hatte, und fragte den Petru, wo er erfahren habe, daß er jetzt den Becher zum Munde führe. Petru antwortete hierauf gelassen: »Großmächtigster Herr, mein Gebieter, der weiße Kaiser, hat eine Warte bauen lassen, von welcher aus ich heute in deinen Palast geschaut und die Zeiten aufgezeichnet habe, sowohl wann du aufgestanden, als auch wann du zur Kirche gegangen bist; von dort habe ich auch wahrgenommen ...« – »Halt ein!« rief hierauf der erzürnte Kaiser, »für die Lösung der dritten Frage sollst du hängen, frecher Bursche. Am Galgen wirst du, überkluger Taugenichts, so hoch sein wie auf deiner Warte!« Damit befahl er seinen Dienern, sie sollten sich Petrus bemächtigen und ihn zum Galgen führen. Es geschah, und spottend sagte der Kaiser zu seinem Gefolge: »Seht her, das weiße Osterlamm, das uns der weiße Kaiser zugesandt hat.« Hierüber entstand schallendes Gelächter.

Der Zug war bald bei dem Richtplatz angekommen, und dem armen Petru schlug das Herz beim Anblick des roten Galgens bänger, denn er dachte, wie es wäre, wenn der Überfall der im Verstecke liegenden Bewaffneten des weißen Kaisers zu spät käme. Schon sollte er die Leiter hinaufsteigen, da weckte ihn der Schrei des roten Kaisers, der, von einem Pfeile durchbohrt, vom Pferde gesunken war, aus seinen Todesgedanken. Kaum sah er seinen Feind am Boden liegen, so schwirrten von allen Seiten Pfeile, und unter dem Ruf: »Hoch lebe der weiße Kaiser«, brachen die weißen Krieger aus ihrem Versteck über die roten her. In der Verwirrung des Kampfes war Petru bald zu einem Schwerte gekommen, drängte sich zu dem roten Kaiser, der noch lebend am Boden lag, und mit den Worten: »Nimm hin den Lohn für deine Blutgier und deinen Verrat«, spaltete er ihm den Kopf. Dann rief er die weißen Krieger zusammen, hieß einige von ihnen dem weißen Kaiser die Nachricht bringen, daß der rote Kaiser tot sei, und führte sie dann gegen die rote Stadt.

Der Überfall gelang, und nicht lange hernach begrüßte Petru den weißen Kaiser im Palaste des roten, als Beherrscher des roten sowie des weißen Reiches. Der weiße Kaiser nahm aber die Würde des roten Kaisers nicht an, sondern hieß Petru niederknien und setzte ihm die Krone des roten Kaisers aufs Haupt, indem er ihn als Beherrscher des roten Reiches ausrief und ihm seine Tochter zur Frau gab.

Einige Zeit später starb der weiße Kaiser, nachdem er seinem Sohne Petru noch auf dem Sterbebett auch Krone und Zepter des weißen Reiches übergeben und ihn zum Herrscher desselben ernannt hatte. So beherrschte nun Petru die beiden Reiche, seine Weisheit und Tapferkeit leitete sie trefflich, und er selbst lebte mit seiner geliebten Gattin, der Tochter des weißen Kaisers, noch lange Jahre im höchsten Glück.