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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Sicherheit – ein umkämpfter Begriff am Golf
Iran und Trump
Saudi-Arabien als Großmacht
Die Jemenpolitik Saudi-Arabiens
Iran und der Golfkooperationsrat
Vom Versagen des Golfkooperationsrates
US-Politik in der Golfregion
Die Golfstaaten und die russische Strategie des »ehrlichen Vermittlers« im Nahen Osten
Die Seidenstraßeninitiative und ihre Auswirkungen auf die Golfstaaten
Der Drohnenmord an General Soleimani und die aktuelle Irak-Politik der USA
Israels Rolle im aktuellen Golfkonflikt
Die Bedeutung des Syrienkonfliktes für die Golfregion
Irans Atomprogramm im Brennpunkt der Weltpolitik
Rente als Hindernis für den Kapitalismus308
Islam als Ideologie der arabischen Expansion. Die Rolle der Golfstaaten
AutorInnenbiografien
Der Promedia Verlag im Internet

Vorwort

Wir begeben uns mit diesem Buch auf äußerst schwieriges Terrain. Sowohl die internationalen als auch die regionalen Entwicklungen sind in Bewegung. Es existieren zwar klare langfristige Ziele und Interessen der wichtigsten Akteure, dennoch sind immer wieder überraschende Kursänderungen und neue Konstellationen möglich. Die politische Situation erweist sich jedenfalls als weitaus schwieriger prognostizierbar als noch vor wenigen Jahren. Die Golfregion ist ein besonderer Fall. Hier gibt sich die Welt ein Stelldichein und potenziert die ohnedies bereits in Überfülle vorhandenen lokalen und regionalen Konflikte um ein Vielfaches.

Mit diesem Buch soll die aktuelle Situation in den Golfstaaten analysiert und gleichzeitig ihre historischen Grundlagen in Erinnerung gerufen werden. Damit wird auch der Versuch unternommen, manchen in den Mainstream-Medien kursierenden Halbwahrheiten und bewussten Falschmeldungen entgegenzutreten. Matin Baraki hat gemeinsam mit mir international bekannte AutorInnen aus unterschiedlichen Regionen und Fachgebieten eingeladen, die politische Lage zu sondieren und über mögliche Entwicklungen zu informieren. Wir standen dabei von Anbeginn an vor vielfältigen Fragen. Es begann mit der banalen Entscheidung, wie die Region zu benennen ist. Die meisten in Europa verwendeten Landkarten bezeichnen sie als Persischen Golf. Diese Bezeichnung findet sich z.B. bei Wikipedia.1 Aber auch dort steht zugleich ein Hinweis auf ein Problem, das sowohl weit zurückgreifende historische Wurzeln, aber auch hochaktuelle machtpolitische Bedeutung hat. Betrachtet man die Anrainerstaaten des »Persischen Golfes« so sind dies fast ausschließlich arabische Länder, deren Bevölkerung noch dazu im Unterschied zu den schiitischen Persern in überwiegender Mehrheit der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam angehört. Und diese bevorzugen es, die Region als »Arabischen Golf« zu bezeichnen.2 Damit sind wir mitten in der Gegenwart angelangt, in der diese historische Region zweifellos zu einem der Krisenherde erster Ordnung zählt. Zu allem Überdruss lagert hier ein Großteil der weltweiten Energiereserven3, was seit über einem Jahrhundert kleptokratische Interessen der Weltmächte weckt.

Neben den Staaten der unmittelbaren Region, also den sechs Staaten des Golfkooperationsrates (GCC) und den Nachbarn Iran und Irak wollten wir auch einen Blick in die weitere Umgebung werfen, zumindest soweit diese einen direkten Einfluss auf die Situation im Golf hat, weshalb auch Israel und Syrien behandelt werden. Ohne ausführliche Analysen der mehr oder minder direkten Einflussnahmen der weltweit agierenden Großmächte USA, China und Russland wären natürlich viele Entwicklungen nicht verständlich. Eine Beschreibung der Rolle der UNO im Kontext mit den zunächst erfolgreichen und danach von der Trump‘schen Administration wieder aufgekündigten Atom-Verhandlungen mit dem Iran ist ebenso essenziell wie auch Analysen der gesellschaftspolitischen Strukturen der völlig von den Öleinnahmen abhängigen Rentierstaaten. Beiträge über die Rolle des Islam sowie politikwissenschaftliche Betrachtungen der unterschiedlichen sicherheitspolitischen Konzeptionen einzelner regionaler Akteure runden einen Band ab, der ohne Zweifel manche Lücken aufweist, aber wichtige Einblicke in eine seit vielen Jahren und Jahrzehnten heiß umkämpfte Region gewährt.

Es ist uns gelungen, eine attraktive Gruppe internationaler AutorInnen zu gewinnen. Diese ist fachlich kompetent, auch hinsichtlich Nationalität und Muttersprache gut durchmischt. Und – was mir persönlich ebenfalls wichtig war – wir haben auch eine Ausgewogenheit zwischen wissenschaftlich hochqualifizierten ExpertenInnen und journalistisch tätigen GeneralistInnen zustande gebracht.

Die größten Feinde sind sich ähnlicher als sie es selbst wahrnehmen

Obwohl viele Skeptiker der Meinung sind, dass eigentlich schon so gut wie alles gesagt und geschrieben ist, findet man doch immer wieder überraschende Zusammenhänge. So kam auch für mich, der ich über jahrzehntelange praktische Erfahrung im Nahen Osten verfüge, die Einsicht überraschend, dass sich intim verfeindete Akteure in der Region in vielen sozioökonomischen, gesellschaftspolitischen und mitunter sogar kulturellen Aspekten weitaus ähnlicher sind als gemeinhin angenommen und auch von den Betroffenen selbst zugegeben. In formal völlig unterschiedlich verfassten Staaten sind Fragen der Sicherheit, der Herrschaftsausübung von klar definierten elitären Männerbünden, der Kontrolle über Medien und Zivilgesellschaft durchaus vergleichbar organisiert. Ob nun erbliche Potentaten oder »gewählte« Führer (Präsidenten) an der Spitze stehen, sie haben absolute Macht und üben diese zumeist auch rücksichtslos aus. Die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit ist für sie alle das entscheidende Kriterium.4 Und die ungelösten grundlegenden Probleme der einzelnen Staaten sind weitgehend identisch: Extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, Diskriminierung der Frauen und als direkte Folge eine weitgehende Distanz großer Teile der Bevölkerung zu ihren herrschenden Eliten, was vor allem in den arabischen Staaten in den verschiedenen Rebellionen des vergangenen Jahrzehntes zum Ausdruck gekommen ist.

Verbündete haben größere Differenzen, als ihnen lieb ist

Sosehr ich meine voranstehende Analyse weitgehend für zutreffend halte, so gibt es doch auch einige Ausnahmen. So offenbart der GCC-interne Konflikt, der sich nach weitverbreiteter Ansicht zu einem längerfristigen Dauerzustand entwickeln wird, einige nicht zu leugnende fundamentale Differenzen. Vereinfacht formuliert, könnte man diesen auch als einen Konflikt zwischen soft-power und hard-power interpretieren. Manche der Golfstaaten legen eine aggressive, auch vor direkten militärischen Interventionen nicht zurückschreckende Strategie an den Tag (siehe Saudi-Arabien im Jemen, VAE in Libyen sowie Iran in Syrien), während andere sich eher auf den Einsatz von soft-power-Methoden konzentrieren. Zu den letzteren Staaten gehören vor allem Oman und Kuwait, mit Einschränkungen auch Katar.5

Aus meiner Sicht geht es vor allem um zwei essenzielle Auffassungsunterschiede. Zum einen vertreten Oman, Katar und Kuwait – von manchen Abweichungen abgesehen – ein Prinzip der diplomatischen, nicht-militärischen Lösung von Konflikten. Hier hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vor allem der Oman als Vermittler bei den verschiedensten Konflikten große Verdienste erworben, aber auch Kuwait engagierte sich immer wieder als vermittelnder Gesprächspartner, z.B. bei GCC-internen Differenzen. Die zweite Differenz ist in ihrer grundsätzlichen und langfristigen Bedeutung bei weitem gravierender, es sind unterschiedliche Interpretationen des politischen Islam. Hier geht es vor allem darum, welche Spielarten des politischen Islam man akzeptiert und auch zu unterstützen bereit ist. Der ganz offen ausgetragene Konflikt zwischen Saudi-Arabien, VAE und Ägypten auf der einen und Katar und Türkei auf der anderen Seite über die Einschätzung der Moslembrüder ist zentraler Bestandteil dieses Konfliktes. Dass sich mit Ägypten und der Türkei auch zwei nicht aus der unmittelbaren Golfregion stammende Staaten direkt beteiligen, ist ein deutliches Anzeichen für die große Bedeutung dieses Disputs. Konkret unterstützt dabei die eine Seite Parteien und Organisationen, welche der gesamtarabischen Bewegung der Moslembrüder zugerechnet werden, während die andere Partei (hier vor allem Saudi-Arabien, VAE und Ägypten) diese als Terrororganisationen beurteilen und verfolgen. Dass es hier auch um Machtfragen geht, ist evident. Denn gerade jene Staaten, die die Moslembrüder verfolgen, haben offensichtlich keinerlei Hemmungen, weitaus radikalere islamistische Organisationen zu unterstützen, wenn es ihren jeweiligen Machtinteressen entspricht. Hier ist also ein hohes Ausmaß an Taktik und regional unterschiedlichen Machtinteressen im Spiel. Von der bei bestimmten hohen Anlässen proklamierten »panarabischen Bruderschaft« kann also bereits lange keine Rede mehr sein.

Externe Einflüsse sind zumeist destruktiv und interessensgesteuert

Dafür sind letztlich auch die massiven externen Einflüsse verantwortlich. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Golfregion seit vielen Jahrzehnten zum Tummelplatz aller globalen Mächte geworden ist. Der Ölreichtum aber auch die strategisch exponierte Lage sind ausschlaggebend dafür. De facto dominieren seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches vor genau 100 Jahren westliche Mächte die Region, zunächst für wenige Jahrzehnte Großbritannien, spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges die USA. Auch in den Zeiten des Kalten Krieges konnte kein Konkurrent den USA das Wasser reichen. Auch jetzt ist es weitgehend noch so, selbst wenn China (Stichwort Seidenstraße) die Allmacht des Trump‘schen Imperiums – nicht zuletzt aber auch wegen der widersprüchlichen und sprunghaften Politik der USA – infrage stellt. Russland wiederum hat zuletzt die US-amerikanischen Fehler durch geschicktes Agieren das eine oder andere Mal zum eigenen Vorteil genutzt. Dennoch garantiert die extreme US-amerikanische militärische Übermacht in der Region, dass die Interessen des Imperiums und seiner Alliierten noch für einige Zeit dominieren werden.

Von den US-Alliierten spielt vor allem einer seit Jahren eine besondere Rolle, nämlich Israel. Israel, von vielen im Nahen Osten als Kolonialstaat wahrgenommen, setzt seit seiner Gründung im Jahr 1948 gegenüber seinen Nachbarn auf das klassische Prinzip des Teile und Herrsche. Und nach der Islamischen Revolution 1979 ist der Iran, bis dahin ein enger Verbündeter der USA und Israels, sehr rasch in die Rolle des Hauptfeindes geraten. Dass daran die verbal-radikale Agitation der iranischen Führung durchaus mitschuldig ist, soll nicht unerwähnt bleiben. In Hinblick auf Aggressivität und Brutalität ist Israel aber zweifellos einer der Hauptakteure in der gesamten Region, wie die Mordserie an iranischen Atomphysikern im Laufe der letzten Jahre, aber auch die Zerstörung des irakischen Atomreaktors Osirak im Juni 1981 beweisen. Das klare Ziel Israels bleibt es, die einzige Atommacht im engeren Nahen Osten zu bleiben und damit eine deutliche strategische Übermacht über alle potenziellen Gegner zu haben.6 Bezüglich des Iran hat Israel nur ein Ziel: Regimewechsel und Vernichtung der Islamischen Republik. Dass sich diesem Ziel die USA und inzwischen auch eine Reihe von arabischen Staaten angeschlossen haben, ist eine unbestreitbare Tatsache. Ob dies allerdings für die gesamte Golfregion ein wünschenswertes Szenario ist, sei dahingestellt.

Der Iran ist seinerseits aggressiv und Ursache vieler Konflikte in der Region, auch die innere Situation muss hinsichtlich Menschenrechten und Demokratiedefiziten kritisiert werden. Ihn aber mehr oder minder als den primären Störenfried in der Region hinzustellen, ist bei weitem übertrieben. Die von den USA, Israel und manchen westlichen Kreisen betriebene Kampagne gegen den Iran ist auch darauf zurückzuführen, dass die Islamische Republik eines der Haupthindernisse einer offenen US-amerikanisch-israelischen Dominanz im gesamten Nahen Osten darstellt. Dazu steht nicht in Widerspruch, dass de facto eine Interessensidentität zwischen radikalen Kreisen in den USA und Israel sowie solchen im Iran besteht. Wie auch die Kampagne anlässlich der jüngsten iranischen Parlamentswahlen 2020 gezeigt hat, liegt es durchaus im Interesse neoliberaler und neoimperialistischer Kreise im Westen, in Teheran radikale Fundamentalisten an der Macht zu haben, denn diese geben weitaus brauchbarere Feindbilder ab als liberale Reformer.7 Dadurch kann man gut von den eigenen Fehlern und Verbrechen ablenken und die aggressive, fremdgesteuerte und dem ureigenen Nutzen verpflichtete Politik verschleiern und fortsetzen; und diese sogar in zynischer Weise als liberal und demokratisch hinstellen.

Sowohl in der Region als auch weltweit existieren allerdings auch Kräfte, die die hegemoniale westliche Politik ablehnen und nach Alternativen suchen. Diese können nur im Abbau von Feindbildern und im Aufbau einer langfristig wirkenden Politik des Dialogs und Ausgleichs liegen. Die Befürworter einer solchen Politik sind jedoch schwach und unkoordiniert. Eine derartigen Werten und Methoden wie Multilateralismus, Diplomatie und friedlicher Konfliktlösung verpflichtete Politik ist schwer durchzusetzen, denn sie müsste auch die Macht der Rüstungs- und Ölindustrie brechen. Sie ist aber die einzige Möglichkeit, die im Menschen- und Völkerrecht verankerten Ziele zu verwirklichen und damit auch den Golfstaaten eine friedliche Zukunft zu sichern. Im 75. Gründungsjahr der Vereinten Nationen darf man das nicht völlig aus den Augen verlieren.

Das vorliegenden Buch soll also nicht nur den Blick auf die höchst bedrohliche Situation in der Golfregion schärfen, sondern auch die – wenngleich derzeit noch äußerst schwachen – Möglichkeiten eines Politikwechsels (anstelle eines Regimewechsels) in Erinnerung rufen.

Abschließend möchte ich mich beim Promedia Verlag bedanken, der trotz mancher Wenn und Aber meinen Vorschlag für dieses Buch akzeptiert hat. Die Zusammenarbeit mit Hannes Hofbauer und Stefan Kraft war wie immer eine ausgezeichnete. Vor allem die penible und hoch professionelle Tätigkeit von Hannes Hofbauer als Lektor, auch wenn sie manchmal Zeit und Nerven kostet, möchte ich nicht missen. Besonderer Dank gilt auch meinem Mitherausgeber Matin Baraki, der nicht nur einen wichtigen Beitrag beigesteuert hat, sondern auch bei der Suche von kompetenten AutorInnen sehr behilflich war. Mein Dank gilt ferner den beiden Übersetzern, Hubert Thielike, der auch bei der Suche des Autors des von ihm übersetzten Beitrages behilflich war8, sowie Ingrid von Heiseler.

Wie bereits erwähnt, ist es uns gelungen, ein buntes Team an Autorinnen und Autoren zusammenzubringen. Für die thematischen Lücken möchte ich bei dieser Gelegenheit nochmals um Nachsicht und Verständnis ersuchen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir einen guten Überblick über die komplexe und zugleich höchst bedrohliche Situation in der Golfregion bieten und dies durchaus kritischer angelegt haben als viele andere Publikationen.

Fritz Edlinger
Wien, am 24. Februar 2020

1 Der Persische Golf, im Deutschen nur selten Arabischer Golf genannt, ist ein Binnenmeer zwischen dem Iranischen Plateau und der Arabischen Halbinsel. Der Persische Golf ist etwa 1.000 km lang und 200 bis 300 km breit, die Fläche beträgt 235.000 qkm.

2 Dazu ein kurzer Zahlenvergleich: Die sechs Staaten des Golfkooperationsrates (Saudi-Arabien, Bahrain, Katar, Kuwait, Oman und VAE) haben zusammen rund 57 Millionen Einwohner, wenn man noch Irak und Jemen, die im weiteren Sinne durchaus auch als Golfstaaten betrachtet werden können, berücksichtigt, so kommt man auf ca. 122 Millionen; die Einwohnerzahl des Iran beträgt zusätzlich 82 Millionen.

3 Nach allgemeinen Schätzungen lagern in den Golfstaaten rund 60% der weltweiten Ölreserven mit Saudi-Arabien als Nummer 1 und Iran als Nummer 2.

4 Siehe dazu vor allem die Beiträge der Autoren Andreas Krieg und Ali Fatholla-Nejad.

5 Die Einschränkungen beziehen sich vor allem auf das Agieren Katars in Libyen und Syrien, wo man vor direkter Unterstützung von kämpfenden Gruppen nicht zurückschreckt. Dafür engagiert sich Katar z.B. sehr konstruktiv in Palästina und steht auch den militärischen Aktionen der Saudis und Emiratis im Jemen distanziert gegenüber. Auch unterstützt Katar nicht die äußerst aggressive Politik Saudi-Arabiens gegenüber dem Iran.

6 Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die Existenz von atomaren Waffen durch Israel bis heute offiziell nicht eingestanden ist. Im Unterschied zum Iran gewährt Israel der in Wien ansässigen Internationalen Atombehörde (IAEA) keinerlei Zutritt zu den Anlagen, es ist auch nicht dem 1970 geschaffenen internationalen Atomwaffensperrvertag beigetreten und entzieht sich demnach jeglicher internationalen Kontrolle.

7 Die Debatte über Inhalte, Strategien und Chancen der Reformer im Iran darf dabei nicht unter den Tisch fallen. Sicherlich ist die Kritik an manchen sogenannten Reformern durchaus legitim, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass zumindest ein Teil der iranischen Opposition im Exil Ziele verfolgt, die Demokratie und Menschenrechte bestenfalls als Vorwand nehmen, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Auf der anderen Seite existiert eine starke, weit verbreitete Opposition gegen das religiöse Establishment und seine Institutionen, was auch die äußerst geringe Beteiligung bei den Wahlen im Februar 2020 dokumentiert hat.

8 Pjotr Kortunow: Die Golfstaaten und die russische Strategie des »ehrlichen Vermittlers« im Nahen Osten.

Andreas Krieg


Sicherheit – ein umkämpfter Begriff am Golf

Einleitung

Die Krise am Golf, die die Staaten des Golfkooperationsrats (GCC) seit einigen Jahren spaltet, hat seinen Ursprung in dem geostrategischen Wandel, der mit dem sogenannten »Arabischen Frühling« einherging. Während die alten Regionalmächte Nordafrikas und der Levante unter dem Druck der Revolutionen zerbrachen, verschob sich das Machtmonopol an den Arabischen Golf – in die Hände weitestgehend unerfahrener Monarchen, die mit ihrer neuen Rolle der Verantwortung zunächst überfordert waren. Durch Petro-Dollars finanziell weitaus stabiler aufgestellt und, mit der Ausnahme Bahrains, auch immuner gegen die Welle der Revolte, die nach 2011 über die Region schwappte, hatten die Golfmonarchien mehr Handlungs- und Gestaltungsspielraum in dem postrevolutionären Kontext, um zu experimentieren.

Spätestens nach dem Fall des Gaddafi-Regimes zeigte sich, dass die Staaten des Golfs komplett unterschiedliche Politiken verfolgten, mit anderen Werten, Interessen und ideologischen Narrativen. Vor allem die kleineren aber auch ambitionierteren Golfstaaten, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), standen sich plötzlich auf unterschiedlichen Seiten eines regionalen Stellvertreterkrieges gegenüber. Die Konsequenzen für den Golfkooperationsrat als regionaler Sicherheitskomplex waren verheerend. Was 1981 unter der Schirmherrschaft Saudi-Arabiens als Bollwerk gegen die befürchtete Ausbreitung der islamischen Revolution im Iran begann, ist heute nur noch der Schatten eines Versuchs, die sechs Golfmonarchien unter einem gemeinsamen Sicherheitskonzept zu vereinen.

Heute sind die sechs Staaten des Golfkooperationsrats9, die geschichtlich, sprachlich, religiös, ethnisch und familiär nicht enger miteinander verknüpft sein könnten, durch einen ontologischen Keil gespalten. Die Fragen, wie man Sicherheit und Stabilität regional definieren und erreichen kann, werden von ideologischen Narrativen getrieben. Die Versicherheitlichung von Sachverhalten10 findet nicht mehr auf regionaler GCC-Ebene statt, sondern wird individuell auf nationaler Ebene vorangetrieben. Das Resultat davon ist der effektive Zerfall des GCC als ein Sicherheitskomplex und die Entwicklung eines nationalen oder bilateralen Sicherheitsverständnisses.

Wie dieser Beitrag zeigen wird, hat die Versicherheitlichung des politischen Islam und der Idee von liberaler Zivilgesellschaft ganz besonders zu einem Bruch zwischen Saudi-Arabien und den VAE auf einer Seite und Katar auf der anderen Seite geführt. Riad, Abu Dhabi und Doha, als die drei wichtigsten Protagonisten auf der arabischen Seite des Golfs, haben nach dem Arabischen Frühling die Aufstände gegen autoritäre Regierungen völlig unterschiedlich bewertet. Während Katar den soziopolitischen Wandel als eine Chance sieht, haben vor allem die Emirate und Saudi-Arabien den Schrei der Massen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und soziopolitischer Freiheit als eine Bedrohung gesehen. Obwohl das Narrativ des »iranischen Schreckensgespenstes« noch immer viel Resonanz im saudischen Königreich erhält, beschäftigen sich die Sicherheitsagenden der anderen Staaten mehr mit der Rolle von nichtstaatlichen Akteuren in einer Region im Umbruch.

Das Konzept von Sicherheit am Golf

Die Theorie der Versicherheitlichung scheint besonders gut geeignet, um zu verstehen, wie hinter verschlossenen Türen, in kleinen, sehr zentralisierten Kreisen um einen Monarchen am Golf seit jeher Sicherheitslagen und Bedrohungen definiert wurden. Im Sinne der konstruktivistischen Idee ist Sicherheit kein absolutes, sondern ein relatives Konzept, das gesellschaftlich im Rahmen eines Sicherheitsdiskurses konstruiert wird. Die Protagonisten dieses Diskurses bestimmen, wie Sicherheit definiert wird, wer oder was eine Bedrohung darstellt, und wen oder was man wie schützen sollte. Das Konzept von Sicherheit ist hierbei an den Kontext gebunden, in dem dieser Diskurs stattfindet, der wiederum von ontologischen, weltanschaulichen und persönlichen Faktoren der Protagonisten beeinflusst wird. Der »globale Krieg gegen den Terror« nach dem 11. September 2001 ist ein gutes Beispiel dieser Versicherheitlichung, wobei insbesondere durch die amerikanische Bush-Regierung die Welt in Freunde und Feinde unterteilt und der gesamte Sicherheitsapparat der USA für die Bekämpfung dieser einen immateriellen und ungreifbaren Bedrohung gleichgeschaltet wurde.

In den autokratischen Monarchien des Golfs ist dieser Sicherheitsdiskurs traditionell einer kleinen Elite vorbehalten, die zumindest im analogen Zeitalter ohne »soziale Medien« nie auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen musste. Der König, der Emir oder der Sultan und seine direkten Berater treffen Entscheidungen oft ohne die jeweiligen Ministerien heranzuziehen, die oft nur mit der Umsetzung betraut werden. Obgleich der Kreis derer, die zu diesem Diskurs beitragen, auch in liberalen Demokratien meist sehr übersichtlich ist, so gewährleistet zumindest in der Theorie der demokratische Prozess einen Grad von Kontrolle. Ohne demokratische Kontrolle und Verantwortung findet die Versicherheitlichung am Golf oft in den Köpfen einiger weniger statt, die Konzepte von nationaler Sicherheit und Regimesicherheit miteinander gleichsetzen. Das Überleben des Regimes wird zu einem Faktor nationaler Sicherheit hochstilisiert. Die Grenzen zwischen internen und externen Bedrohungen verschmelzen.11

Das Verständnis von Sicherheit als die Abwesenheit von Bedrohung gegen das Fortbestehen der Stammesmonarchien war und ist immer noch weit verbreitet. Obwohl es bereits seit der Unabhängigkeit der kleineren Emirate in den 1960er und 1970er Jahren große Unterschiede in der Bewertung der Bedrohungslage gibt, so besteht dennoch einen Konsens, dass das Überleben des Regimes oberste Priorität hat – ein Konsens, den nur die regionale Supermacht Saudi-Arabien nicht akzeptieren wollte. Für das saudische Königreich waren die Sicherheitsbedürfnisse der kleineren Monarchien immer nur solange wichtig, wie sie mit den eigenen Sicherheitsinteressen vereinbar waren. Der Anspruch auf Souveränität und Selbstbestimmung in Doha, Manama und Abu Dhabi war für Riad schwer zu akzeptieren, das die jungen Stadtstaaten immer nur als Vasallenstaaten wahrgenommen hatte. Saudische Äußerungen, dass ein Angriff auf eine der Herrscherfamilien am Golf einem Angriff auf die eigene Herrscherfamilie gleichkäme,12 waren oft bloß Rechtfertigungen für saudische Einmischungen in »innere Angelegenheiten« in Bahrain 1994 und 2011 oder in Katar 1996.

Es waren auch die Saudis, die in den 1970er Jahren die Initiative ergriffen, um eine kollektive Sicherheitsstruktur am Golf aufzubauen, damals noch einschließlich des vorrevolutionären Iran und Saddams Irak. Die iranische Revolution 1979 sollte dem Prozess der Sicherheitsintegration am Golf neue Dynamik verleihen.

Der Golfkooperationsrat als Sicherheitskomplex

Das Jahr 1979 war in jeglicher Hinsicht ein Schock für die Monarchien am Golf. Nachdem die Rückkehr von Ayatollah Khomeini im Februar das Ende der Pahlavi-Monarchie im Iran einleitete, wurde Saudi-Arabien im November von der gewaltsamen Besetzung der Großen Moschee von Mekka durch militante Islamisten überrascht. Und im Dezember marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, um die Kommunisten zu unterstützen. Für die sechs Golfmonarchien schien sich die Großwetterlage in der Region fundamental zu ändern, ganz besonders mit der Errichtung eines islamischen Gottesstaates in Teheran, der den Führungsanspruch Saudi-Arabiens in der islamischen Welt infrage stellen sollte. Als dann im September 1980 Saddams Irak versuchte, die Wirren der Revolution im Iran auszunutzen, um seine Vormachtstellung auszubauen, war das für die Monarchen am Golf genug Impetus, den Weg für eine intergouvernementale Organisation zu ebnen, trotz rivalisierender Visionen für eine kollektive Sicherheitsstruktur. Jahre ergebnisloser Verhandlungen, die von konkurrierenden nationalen Sicherheitsagenden untergraben wurden, waren im Angesicht des neuen Sicherheitskontexts plötzlich vergessen.

Als die Vertreter der sechs Golfstaaten im Februar 1981 in Kuwait zusammenkamen, um die Einzelheiten der neuen Organisation zu verhandeln, gab es drei verschiedene Vorschläge aus Saudi-Arabien, Kuwait und dem Oman, die hastig in ein gemeinsames Konzept umgewandelt werden mussten – die übermächtige Verhandlungsmacht des »großen Bruders« Saudi-Arabien sollte dabei das Zünglein an der Waage sein. Dass der dann im Mai 1981 geformte Golfkooperationsrat seinen Sitz in Riad haben sollte, war kein Zufall. Obgleich militärische Kooperation und kollektive Sicherheit in den Statuten des GCC festgehalten wurden, verpassten es die Gründungsväter, diese Konzepte weiter zu definieren. Eine klare Gesamtstrategie, die richtungsweisend eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgeben könnte, fehlte.13 Auf ein gemeinsames Konzept von Sicherheit konnte man sich nicht einigen. Der Golfkooperationsrat legte sich weder auf eine politische Union fest, noch legte er den Grundstein für eine strategische Militärallianz.

Stattdessen erscheint der GCC bis heute als ein Provisorium, das als unmittelbare Kurzschlussreaktion auf die turbulenten Ereignisse in der Region zwischen 1979 und 1980 zu bewerten ist. Dabei war Riads Angst vor einem konfrontativen und expandierenden Iran unter der ideologischen Führung der Ayatollahs besonders ausschlaggebend – eine Angst, die damals weder in Kuwait oder Bahrain, noch in Katar, den Emiraten oder dem Oman gleichermaßen geteilt wurde. Von Anfang an zeigten sich die kleineren und jüngeren Monarchien am Golf misstrauisch gegenüber Saudi-Arabien, welches zwar als religiöses Oberhaupt der islamischen Welt akzeptiert wurde, das sich aber in der Vergangenheit mehrfach über die Souveränität seiner Nachbarn hinweggesetzt hatte. Das Königreich hatte im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, Gebietsansprüche geltend zu machen, gegen Kuwait in den 1920er Jahren, gegen Katar in den 1930er Jahren und gegen Oman und Abu Dhabi in den 1950er Jahren.14 Spannungen zwischen Riad und Abu Dhabi über den Grenzverlauf im Süden der Emirate dauerten noch bis in 2010er Jahre an.15 Aufstände gegen die pro-saudische Khalifa-Dynastie in Bahrain wurden von Riad immer wieder niedergeschlagen; zuletzt 2011 während des Arabischen Frühlings. Und der Anspruch des jungen Emirs Hamad bin Khalifa, Katars Zukunft unabhängig vom »großen Bruder« in Riad zu gestalten, wurde von Saudi-Arabien mit einem Putschversuch 1996 geahndet. Es war daher nicht verwunderlich, dass die Gründungsväter die Souveränität der Mitgliedstaaten als höchstes Gut festhielten: dem Generalsekretariat in Riad wurden keine supranationalen Vollmachten verliehen und alle substanziellen Entscheidungen sollten von intergouvernementalen Gremien getroffen werden, entweder durch den Obersten Rat der einzelnen Staatsoberhäupter oder den Ministerrat. Folglich spricht der GCC jedem Mitgliedsstaat ein Vetorecht zu, was einer Nichtbeteiligungsklausel de facto gleichkommt. Entscheidungen im gegenseitigen Einverständnis werden vor allem dann extrem erschwert, wenn Bedrohungslagen in den einzelnen Hauptstädten unterschiedlich eingeschätzt werden.

Die Versicherheitlichung des Iran, die maßgeblich von Riad vorangetrieben wurde, war noch in den 1980er Jahren ein weitestgehend gemeinsamer Nenner in einem regionalen Sicherheitskomplex, das von Saudi-Arabiens militärischer Übermacht dominiert wurde. Die jüngeren Kleinstaaten am Golf hatten den finanziellen und militärischen Kapazitäten des saudischen Königreichs zumindest in den 1980er Jahren wenig entgegenzusetzen. Viele der Stadtstaaten, wie Katar und Bahrain, setzten in den Anfangsjahren des GCC noch auf »Bandwagoning«, das heißt den Anschluss an Saudi-Arabien als regionale Schutzmacht und die damit einhergehende Synchronisierung von außen- und sicherheitspolitischen Zielen. Riads Sicherheitsnarrative, die die Islamische Republik Iran als das essenzielle Feindbild am Golf betrachteten, wurden in Katar und Bahrain lange Zeit unkritisch übernommen.

Dubai, Kuwait und Oman hingegen vertraten von Anfang an eine neutralere Position gegenüber Teheran, was darin begründet lag, dass man mit dem Iran gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Beziehungen pflegte, die eine direkte Konfrontation mit der Islamischen Republik unmöglich machten. Deshalb stieß die saudische Versicherheitlichung des Iran im Oman und Kuwait immer wieder auf Skepsis. In einem wachsend konfrontativen Kontext am Golf waren Oman und Kuwait stets bemüht, ihre Neutralität aufrechtzuerhalten, um ihre guten Beziehungen mit dem Iran nicht zu gefährden – ein Balanceakt, der in Riad ganz besonders in den letzten Jahren immer wieder negativ aufstieß.16

Die Besetzung Kuwaits durch Saddam Husseins Irak im Jahr 1990 stellte erstmals die Rolle Saudi-Arabiens als Schutzmacht des Golfkooperationsrats in Frage. Die Saudis erschienen selbst hilflos im Angesicht des militärisch überlegenen Saddam-Regimes. Die Entscheidung Riads, zehntausende US-Soldaten ins Land zu holen, um nicht nur Kuwait zu befreien, sondern das Überleben der Al Sauds zu sichern, signalisierte den übrigen Golfmonarchien, dass man im Ernstfall nicht auf den »großen Bruder« zählen konnte. Die eigentliche Schutzmacht des GCC saß in Washington.17

Im Anschluss an die Befreiung Kuwaits 1991 begannen viele der kleineren Golfmonarchien sich neu zu formieren. Allen voran Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate setzen nunmehr nicht auf Riad, sondern auf Washington. Gleichzeitig sahen die jüngeren Kronprinzen in Doha, Abu Dhabi und Dubai die Zukunft ihrer Staaten nicht im Schatten Saudi-Arabiens, sondern in einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik, in der der Iran als potenzieller Partner und nicht zwangsläufig als Feind definiert wurde. Hamad bin Khalifa al Thani (HbK), der Kronprinz von Katar, und Mohammad bin Zayed al Nahyan (MbZ), einer der Söhne des Herrschers von Abu Dhabi und den VAE, verfolgten einen gewissen Pragmatismus im Umgang mit Teheran.

Besonders al Thani setzte alles daran, Katar vom Einfluss Saudi-Arabiens zu emanzipieren und traf in Teheran auf ein pragmatisches Regime, das an einer Zusammenarbeit mit dem kleinen Nachbarn auf der anderen Seite des Golfs interessiert war. Die Erschließung des South-Pars-Gasfeldes – das größte bisher entdeckte Gasfeld, welches fast zu gleichen Teilen auf katarischem und iranischem Meeresboden liegt – spielte im Ausbau bilateraler Beziehungen zwischen Katar und der Islamischen Republik eine entscheidende Rolle.18 Der Entschluss des katarischen Kronprinzen Anfang der 1990er Jahre, auf Gas als Exportrohstoff zu setzen, brachte für Katar nicht nur wirtschaftlich den Umbruch, sondern eröffnete auch außenpolitisch neue Horizonte. Mit dem Erlös aus dem Gasexport war das kleine Emirat plötzlich finanziell unabhängig und hatte gleichzeitig mehr Gestaltungsfreiraum, »Realpolitik« zu betreiben, die nicht zwangsläufig an die rückständigen und konservativen Doktrinen Saudi-Arabiens gekoppelt war. Kooperation mit dem großen Partner auf der anderen Seite des Golfs war für Katar nun unausweichlich. Die sichere, gemeinsame Förderung des Erdgases ist seit der Machtübernahme des Kronprinzen 1995 Schwerpunkt katarischer Sicherheitspolitik und Grundlage des kometenhaften Aufstiegs Katars in den letzten 20 Jahren. Ein Konfrontationskurs mit dem Iran, wie immer wieder von Riad gefahren, ist und bleibt daher für Doha strategisch inakzeptabel.

Das Sicherheitskonzept nach dem Arabischen Frühling

Während es bis 2011 trotz großer Krisen und Meinungsverschiedenheiten die sechs Golfmonarchien immer schafften, sich auf einen, wenn auch schwachen gemeinsamen Nenner in Sicherheitsfragen zu einigen, so setzte der Arabische Frühling der Illusion ein Ende, dass der GCC außen- und sicherheitspolitisch konsensfähig wäre. Als in Tunesien Ende 2010 die ersten Massenproteste mehr politische Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit einforderten, wurde die Konfrontation zwischen Öffentlichkeit und autoritärem Machtapparat in den Golfstaaten komplett unterschiedlich bewertet. Die unterschiedlichen Positionen zweier Männer und zweier Staaten am Golf sollten sowohl den Golf als auch die gesamte Region spalten: Hamad bin Khalifa al Thani, mittlerweile Katars Emir, und Mohammad bin Zayed Al Nahyan, der Kronprinz von Abu Dhabi. Beide interpretierten den soziopolitischen Zeitenwandel, der über die Region hineinbrach, auf Basis von Narrativen, die nicht miteinander vereinbar waren.

Al Thani, der seit Anfang der 1990er Jahre die Regierungsgeschäfte seines Vaters aus dem Hintergrund leitete und dann seit 1995 selbst regierte, sah die Entwicklungen in der Region 2010 und 2011 aus dem Blickwinkel einer gewissen Gelassenheit und Souveränität. Für ein Land wie Katar, das seit 1995 sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich und politisch öffnete, war der Ruf nach mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, der von der arabischen Straße hallte, keine Bedrohung. Die relativ kleine Bevölkerung von gerade einmal 300.000 Katarern ist äußerst homogen – sprachlich, religiös sowie sozioökonomisch – und erfreut sich an dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Für seine Bürger garantiert der katarische Rentierstaat hohe Renditen und relativ großzügige Freiheitsrechte. Folglich war Katar mehr oder weniger immun gegen die Narrative der Demonstranten des Arabischen Frühlings. Mehr noch, ohne eigenständige Oppositionsgruppen im Land und einer relativ apolitischen Bevölkerung hatte Katar die Möglichkeit, zu experimentieren.19

Selbst ein Revolutionär gegen Kolonialismus und Autoritarismus, sah Al Thani in dem Umbruch in Nordafrika und der Levante eine Chance, die Region von solchen autoritären Regimen zu befreien, die seiner Meinung nach durch Vetternwirtschaft und Repression ihren Ländern Fortschritt und Entwicklung verwehrten. Bereits 1996 hatte er mit der Gründung des Medienkonzerns Al Jazeera unter dem Motto »Stimme für die Stimmlosen« ein Zeichen in der Region gesetzt, das nicht nur die Medienlandschaft revolutionieren sollte, sondern Nährboden für die Entwicklung einer arabischen Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit bereitete – ein mächtiges Instrument, das Katar schon früh während des Arabischen Frühlings den Revolutionären zur Seite stellte.20 Zwar ist es übertrieben zu behaupten, dass der Arabische Frühling erst durch Al Jazeera möglich gemacht worden wäre, aber der Satellitenkanal hat dennoch geholfen, die Forderungen der Revolutionen regional zu bündeln. Oppositionelle und Revolutionäre aller Farben und Gesinnungen erschienen plötzlich auf dem Sender, um die bestehenden Missstände in ihren Ländern anzuprangern – all dies ohne lokale Regimezensur.

Aber al Thani ging noch weiter. Wie auch die anderen Nachbarstaaten beherbergte Katar eine Vielzahl von Oppositionellen und Dissidenten, die in Doha eine neue Heimat gefunden hatten und von denen viele aus dem islamistischen Spektrum kamen. Ganz besonders Anhänger der Muslimbrüderschaft, die im Rest der Region als Oppositionsgruppe geächtet war, hatten von Doha aus ihre Verbindungen nach Hause aufrechterhalten. Für den Emir bot die Muslimbruderschaft ein mächtiges Netzwerk, das als einzige Organisation über eine Infrastruktur im Untergrund in Tunesien, Ägypten oder Syrien verfügte, die man nun aktivieren konnte, sollten die Diktaturen fallen. Während Katar in Tunesien und Ägypten nach dem Fall der Regime sich für einen politischen Pluralismus stark machte, bekamen islamistische Parteien finanzielle Unterstützung. In Libyen und Syrien engagierte sich Katar militärisch – in Libyen im Rahmen der NATO-Operation und in Syrien in Absprache mit den USA.

Für al Thani waren die autoritären Systeme der Region zu einem Hindernis geworden, die Gesellschaften geschafft hatten, die von sozialer Ungerechtigkeit, wirtschaftlichen Missständen und Missmanagement, Repression und sozialer Ausgrenzung geprägt waren. Seine Strategie, sich dieser Systeme zu entledigen, basierte auf der naiven Idee, dass die islamischen Revolutionäre nach dem Fall der Regime pluralistische, soziopolitische Systeme aufbauen würden, die Arabisten, Islamisten und Liberale zusammenbringen könnten. Das Chaos, das seitdem die Region zeichnet, mag für Katar nur eine Phase der post-revolutionären Selbstfindung sein, hat aber in den Nachbarstaaten, allen voran den VAE, zu einer massiven Sicherheitsparanoia geführt.21

Anders als al Thani lässt sich bin Zayed in Abu Dhabi nicht als Revolutionär, sondern eher als Konterrevolutionär charakterisieren, dem mehr am Erhalt des regionalen Status quo liegt, als an einem geostrategischen Wandel. Als Mann des Militärs hat bin Zayed seit den 1990er Jahren die VAE zu einem »kleinen Sparta« umgebaut – einem Polizeistaat, in dem der Sicherheitssektor alle wichtigen Portfolios des Landes dominiert.22 Absoluter Gehorsam und zentrale staatliche Kontrolle von allen Bereichen der Öffentlichkeit zeichnen die Emirate aus. Der Raum für Zivilgesellschaft und bürgerliche Initiative ist verschwindend gering. Gegenüber politischen Oppositionellen, Dissidenten und Aktivisten zeigt die Zentralregierung in Abu Dhabi null Toleranz.

Vor diesem Hintergrund erzeugten die Entwicklungen während des Arabischen Frühlings in Abu Dhabi Regimeparanoia. Der Gedanke, dass nichtstaatliche Akteure, vor allem unter dem Banner des politischen Islam, mit rein zivilgesellschaftlichem Aktivismus Regime stürzen könnten, übertraf bin Zayeds kühnste Albträume. Für ihn war der Arabische Frühling keine Chance für Fortschritt, sondern vielmehr eine Bedrohung für die Stabilität in der Region, auf die nach der Revolution nur Chaos und Anarchie folgen konnten. Dem anti-autoritären Narrativ von soziopolitischem Pluralismus der Katarer setzten die Emiratis ein Narrativ der autoritären Stabilität entgegen.23 Auf Basis der Versicherheitlichung des politischen Islam und liberaler Zivilgesellschaft im weiteren Sinne konstruierte bin Zayed die Angst vor dem »Terrorismus«, der nicht nur gewaltbereite, dschihadistische Organisationen umfasste, sondern jegliche Form des politischen Islam. Da Zivilgesellschaft in der arabischen Welt traditionell islamistisch geprägt war, umfasste der emiratische Katalog von »Terrororganisationen« eine Vielzahl von Organisationen, die im Westen und dem Rest der Welt zivilgesellschaftlich geschützt sind. Gemäß diesem Narrativ beginnt der »Terrorismus« bereits mit unkontrollierter Dissidenz, die ideologisch untermauert zu gewaltbereiter Opposition führt und die sich gegen die Staatsgewalt stellen könnte. Vor allem die Muslimbruderschaft wurde von den VAE hier oft als »Einstiegsdroge« für den gewaltbereiten, dschihadistischen Terrorismus dargestellt.24

Die Angst des Regimes in Abu Dhabi vor jeglicher Form von Dissidenz lässt sich sowohl ideologisch als auch faktisch erklären. Als ein föderaler Staat von sieben unterschiedlichen Emiraten weisen die VAE nicht die gleiche Homogenität auf wie der Nachbar in Katar. Neben ideologischen Gefällen zwischen dem politisch dominanten Abu Dhabi und der globalen Drehscheibe Dubai gibt es zwischen den beiden großen Emiraten im Süden und den kleineren Emiraten im Norden auch starke wirtschaftliche Gefälle. Das Einkommen des Landes, das mittlerweile zum größten Teil von Abu Dhabi erwirtschaftet wird, ist ungleich verteilt, wobei Abu Dhabi und Dubai die kleineren Emirate im Pro-Kopf Einkommen deutlich abhängen. Daher gab es besonders in den kleineren Emiraten des Nordens öfters potenzielle Angriffsflächen für zivilgesellschaftlichen Aktivismus und politischen Islam. Die größte islamistische Oppositionsbewegung in den VAE war Al Islah, ein lokaler Ableger der Muslimbruderschaft, die nicht nur seit den 1970er Jahren in den Emiraten geduldet war, sondern sogar aktiv sowohl von Dubais Herrscherfamilie Al Maktoum und Ras Al Khaimas und Sharjahs Herrscherfamilie Al Qassimi unterstützt wurde.25 Bis in die späten 2000er Jahre hinein hatten Anhänger von Al Islah Schlüsselpositionen im Bildungs- und Justizministerium wie auch in anderen Verwaltungsbehörden inne.

Demzufolge war die Angst vor der Unterwanderung des Staates durch politischen Islam, der in Abu Dhabi als eine externe, nicht zu kontrollierende Macht angesehen wird, nicht ganz unbegründet. Die obsessive Versicherheitlichung führte erst 2007 und dann 2011 und 2013 zu einer breit angelegten Säuberungsaktion, wobei Anhänger von Al Islah erst ihres Amtes enthoben und später vor Gericht gestellt wurden. In einem der letzten großen Verfahren 2013 wurden 94 politische Aktivisten verurteilt, die das Regime in den VAE – angeblich – stürzen wollten.26

Die Reaktion Abu Dhabis auf den Arabischen Frühling fiel deswegen erwartungsgemäß scharf aus. Die Versicherheitlichung des Islamismus mobilisierte in Abu Dhabi enorme Kapazitäten, um die Ausbreitung von pluralistischen Systemen in der Region zu verhindern. Das Narrativ der autoritären Stabilität wurde das Motto der von bin Zayed angeführten Konterrevolution, die seit 2013 versucht, die Errungenschaften des Arabischen Frühlings zunichte zu machen. Die Eindämmung des post-revolutionären Chaos durch die Errichtung von neuen autokratischen Strukturen in Ägypten, Libyen, Jemen und letztlich im Sudan, war der Versuch Abu Dhabis, der katarischen Strategie der Ermächtigung der Massen entgegenzuwirken. Al Fattah as-Sisi in Ägypten, Chalifa Haftar in Libyen, bis zu seinem Tod Ali Abdullah Saleh im Jemen und die Militärjunta im Sudan wurden von Abu Dhabi strategisch aufgebaut, um die Revolutionäre und ihre Agenda zurückzudrängen27.

Als Katar sich 2014 endgültig aus den Abenteuern des Arabischen Frühlings zurückzog, hinterließ Doha eine Lücke, die die VAE zu füllen wussten – seit 2015 auch mit der Unterstützung Saudi-Arabiens, dessen neuer Kronprinz Mohammad bin Salman die emiratischen Narrative seines politischen Ziehvaters bin Zayed ungefiltert übernahm. Die Allianz Riads und Abu Dhabis, die seit der gemeinsamen Invasion des Jemen 2015 immer mehr Form annimmt, hat sich gegen das katarische Narrativ positioniert.28 Die Spaltung des Golfkooperationsrats seit 2017 ist nur eines der Symptome der unterschiedlichen ideologischen Auslegung von Sicherheit am Golf. Die Isolierung Katars wird damit begründet, dass sich Doha nicht der konterrevolutionären Allianz anschließen will. Katars ideelles Narrativ vom Pluralismus in der arabischen Welt ist von Saudi-Arabien und den VAE zu einer Gefahr hochstilisiert worden – einer Gefahr, die jedoch weder von Kuwait noch vom Oman als solche wahrgenommen wird.

Fazit

Die Golfkrise, die seit 2017 den Golfkooperationsrat spaltet, ist demnach weder ein bloßes Egospiel zwischen Herrscherfamilien und Prinzen, noch geht es hier einfach um Macht- und Wirtschaftsinteressen. Die Krise wird zwar oft als die »Katarkrise« dargestellt, ist aber ein Symptom einer viel tiefer sitzenden ontologischen Kluft über die Begriffsbestimmung von Konzepten wie »Sicherheit«, »Bedrohung« und »Gefahr«. Die ideologisierten Narrative vor allem der drei großen Protagonisten des Golfkooperationsrats, Saudi-Arabien, die VAE und Katar, haben dazu geführt, dass nationale strategische Ansätze zu Außen- und Sicherheitspolitik komplett diametral definiert werden, mit Riad und Abu Dhabi auf einer und Doha auf der anderen Seite.

Folglich hat der GCC als kollektive Sicherheitsstruktur ausgedient. Ohne eine realistische Chance auf einen Sicherheitskonsens bricht die wichtigste Säule regionaler Integration weg. Pragmatischer Multilateralismus wich einem ideologisierten Bilateralismus, der speziell von dem saudisch-emiratischen Koordinationsrat verkörpert wird. Der GCC wird wahrscheinlich als Fassade bestehen bleiben, auch um Washington eine Illusion von Kooperation vorzugaukeln, die in der Vergangenheit die Grundlage amerikanischer Aufrüstung der Golfmonarchien gewesen ist. In der Realität haben alle sechs Staaten, vielleicht mit der Ausnahme Bahrains, bereits vor Jahren begonnen, ihre Außen- und Sicherheitspolitik zu diversifizieren. Mit der Verlagerung von Amerikas Interessen in Richtung Pazifik scheint auch die Zukunft der Golfstaaten langfristig in Asien und nicht im Westen zu liegen.

9 Vereinigte Arabische Emirate (VAE), Saudi-Arabien, Katar, Oman, Kuwait, Bahrain.

10 Buzan, B.; Wæver, Ole; de Wilde, Japp. (1998). Security: A New Framework for Analysis. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers. (p. 25).

11 Ulrichsen, K. (2019). Perceptions and Divisions in Security and Defense Structures in Arab Gulf States. In Divided Gulf – The Anatomy of a Crisis, Andreas Krieg (ed.). London: Palgrave. (p.22).

12 Fakhro, M. (1997). The Uprising in Bahrain: An Assessment. In Gary Sick and Lawrence Potter (eds.). The Persian Gulf at the Millennium: Essays in Politics, Economy, Security, and Religion. London: Macmillan.

13 Abdulla, A. (1999). The Gulf Cooperation Council: Nature, Origin, and Process. In Michael Hudson (ed.). Middle East Dilemma: The Politics and Economics of Arab Integration. New York: Columbia University Press (pp. 153-154).

14 Morton, M.Q. (2013). Buraimi: The Struggle for Power, Influence and Oil in Arabia. London: I.B. Tauris.

15 Ulrichsen, K. (2019). Perceptions and Divisions in Security and Defense Structures in Arab Gulf States. In Divided Gulf – The Anatomy of a Crisis, Andreas Krieg (ed.). London: Palgrave. (p.25).

16 Cafiero, G. and Karasik, T. (2017). Kuwait, Oman and the Qatar Crisis. The Middle East Institute, 22 June 2017.

17 Ahady, A.U.H. (1994). Security in the Persian Gulf After Desert Storm. International Journal, 49:2; (1993). The GCC: Alliance Politics. Whitehall Papers, 20:1 (pp. 35–50).

18 Al Jazeera News. (2015). Qatar-Iran Ties: Sharing the World’s Largest Gas Field. Al Jazeera News, 15 June 2017.

19 Krieg, A. (2019). The Weaponization of Narratives amid the Gulf Crisis. In Divided Gulf – The Anatomy of a Crisis, Andreas Krieg (ed.). London: Palgrave. (p.98).

20 Krieg, A. (2017). Socio-political Order and Security in the Arab World. London: Palgrave. (p.107).

21 Krieg, A. (2019). The Weaponization of Narratives amid the Gulf Crisis. In Divided Gulf – The Anatomy of a Crisis, Andreas Krieg (ed.). London: Palgrave. (p.101).

22 Roberts, D. (2017). Qatar and the UAE: Exploring Divergent Approaches to the Arab Spring. Middle East Journal, 71:3 (p. 557).

23 Gause, G. (2011). Why Middle East Studies Missed the Arab Spring—The Myth of Authoritarian Stability. Foreign Affairs, 90:4 (p. 81).

24 Trager, E. (2017). The Muslim Brotherhood Is the Root of the Qatar Crisis. The Atlantic, 2 July 2017

25 Bayoumy, Y. (2013). UAE Islamist Group Had No Desire to Topple Government: Families. Reuters, 2 July 2013.

26 Salem, O. (2013). 94 Emiratis Charged with Compromising UAE Security. The National 28 January 2013.

27 Luck, T. (2019). Why the Arab battle for democracy now runs through Sudan. The Christian Science Monitor, 23 April 2019.

28 Krieg, A. (2019). Divided Over Narratives: The new fault line in the Arab World. Middle East Institute, 24 July 2019.