PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN

HEILEN

MIT DER KRAFT DER NATUR

unter Mitarbeit von Dr. Petra Thorbrietz

herausgegeben von Friedrich-Karl Sandmann

Insel Verlag

Plädoyer für eine neue Medizin

Vorwort

Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches hat die Welt zwei fundamentale Krisen erlebt: die Klimakrise, die 2019 kaum mehr von jemand geleugnet wurde, und die Corona-Krise, die mit einer vorher für unvorstellbar gehaltenen Dynamik die Welt erschütterte. Beide globalen Krisen haben in direkter Weise mit dem Gegenstand dieses Buches zu tun und machen deutlich, dass die Sichtweise der Naturheilkunde von existenzieller Bedeutung für den Menschen und den Planeten ist. Die Ängste vor der Erkrankung, vor den wirtschaftlichen Folgen und vor allem die Grenzen der Belastbarkeit der modernen medizinischen Versorgung, die eine Nation nach der anderen zum Lockdown zwang, ließen die Menschen weltweit spüren, wie wichtig, ja entscheidend die Gesundheit ist. Vielerorts hat sich die Politik schnell und klar entschieden, der Gesundheit den Vorrang vor allen anderen Belangen der Gesellschaft einzuräumen.

Obwohl ich aus der wissenschaftlichen Literatur wusste, dass eine Pandemie jederzeit auftreten kann, hätte auch ich, als ich noch Anfang Januar 2020 mit der norditalienischen Familie meiner Frau in Südtirol Urlaub machte, es nicht im Entferntesten für möglich gehalten, dass die Pandemie kurz darauf eine solche Dynamik entfesseln könnte. Weder wirksame Medikamente noch ein Impfstoff standen zur Verfügung. So konzentrierten sich zu Recht alle Maßnahmen auf die klassischen seuchenhygienischen Maßnahmen: Abstand, Hygiene, Maske. Weltweit wurden alle Möglichkeiten der Intensivmedizin mobilisiert, öffentliche Gesundheitsstrukturen verstärkt und umorganisiert, und unzählige Forschergruppen begannen mit atemberaubender finanzieller Unterstützung die Suche nach antiviralen Medikamenten – vor allem nach einem wirksamen Impfstoff. Bei all diesen notwendigen und wichtigen Aktivitäten sollten grundsätzliche Überlegungen nicht vergessen werden: Warum werden diese Pandemien aktuell häufiger, und warum sind sie so gefährlich?

Die Beantwortung beider Fragen schlägt eine Brücke zur Naturheilkunde. Schon seit mehreren Jahren weisen seriöse wissenschaftliche Arbeiten darauf hin, dass Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Naturzerstörung und Abnahme der Biodiversität – zusammen mit Massentierhaltung und Erderwärmung – den Virusübertritt auf den Menschen immer wahrscheinlicher machen. Viren, die früher in der Natur, in Wildtieren, ihren Wirt fanden, werden zum Übertritt auf den Menschen gedrängt, zum sogenannten Spillover. Auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen durch einen ungesunden Lebensstil, der nicht mehr ihrem biologischen und genetischen Programm entspricht, abwehrgeschwächt. Immunfunktion, Atemwege und Herz-Kreislauf-System sind durch chronische Lebensstil- und umweltbedingte Erkrankungen anfälliger für schwere Infektionen. Und hier schließt sich der Kreis: Ungesunde Ernährung mit zu viel tierischen Produkten und industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln sind genauso schlecht für den CO2-Fußabdruck wie für unsere immunologischen Abwehrkräfte, unser Herz und unseren Stoffwechsel. Die Produktion ungesunder Nahrung mittels Massentierhaltung und Monokulturen führt außerdem zu Waldrodungen, Abnahme der Biodiversität und weiterer Klimaerwärmung. All das bahnt den Weg für unbekannte Viren und die Möglichkeit von Pandemien, die von Mobilität und Urbanisation profitieren. Die Rückzugsräume der Natur nehmen ab. Nicht ohne Grund leiden die Menschen unter Stress, Allergien, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Atemwegserkrankungen – was alles das Immunsystem überfordert. Und nicht zuletzt zeigt die hohe Sterblichkeit durch COVID-19 in der vorwiegend älteren Bevölkerung und bei Patienten mit Übergewicht, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen, dass das entscheidende Kriterium immer die individuelle Abwehrkraft ist – für den Schutz vor Erkrankungen und deren Therapie. Es gibt jedoch Möglichkeiten, diesen Negativkreislauf zu unterbrechen. Wir sind nicht ohnmächtig!

Dass diese Zusammenhänge auch in der allgemeinen Öffentlichkeit immer deutlicher werden, ist einer der Gründe, warum ich mich dafür entschieden habe, dieses Buch, das auch auf großes internationales Interesse gestoßen ist und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, auf den neuesten Stand zu bringen, um drei Kapitel zu erweitern und neu aufzulegen. Wann wäre ein besserer Zeitpunkt, Argumente für die moderne Naturheilkunde zu nennen, als jetzt?

Zudem liefert die medizinische und biologische Forschung immer mehr Erkenntnisse, die in die Richtung einer komplexen, ganzheitlich orientierten Medizin weisen, einer Heilkunst, die nicht nur den Organismus behandelt, sondern auch sein Umfeld mit einbezieht. Die sich nicht nur um Krankheiten kümmert, sondern vor allem auch um die Grundlage der Gesundheit. Die Menschen nicht nur als Patienten sieht, sondern als eigenverantwortliche Partner im Umgang mit unseren lebenswichtigen Ressourcen.

Und hier eben zeigt sich, dass die Ansätze der Naturheilkunde so aktuell sind wie nie zuvor. Vertieft wurde deshalb in diesem Buch das Kapitel über die enormen Heilwirkungen, die man beim Eintauchen in die Natur und den Wald – dem Waldbaden – erfahren kann. Der Aufenthalt im Grünen lindert sofort spürbar Stress, entspannt das Herz-Kreislauf-System, reinigt die Atemwege und stärkt die Immunabwehr. Zur Prävention und Therapie von viralen Atemwegsinfekten und Corona-Infektionen sowie Allergien und Asthma wurden neue Behandlungspläne eingefügt. Und auch bei wichtigen naturheilkundlichen Therapiemethoden wie dem Intervallfasten und Heilfasten, der Ernährungstherapie und Bewegungstherapie gibt es zahlreiche neue Forschungsarbeiten und wichtige sich daraus ableitende Erkenntnisse, die ich weitergeben möchte.

Es wird deutlich, dass die Pandemie die bestehenden Probleme des Gesundheitssystems zugespitzt bzw. seine Schwächen zum Vorschein gebracht hat. Zum Beispiel dass Naturheilkunde in der Prävention wie auch im Umgang mit chronischen Erkrankungen im Medizinsystem sträflich vernachlässigt wurde. Der renommierte amerikanische Kardiologe und ehemalige Präsident der amerikanischen Hochschule für Kardiologie, Kim A. Williams, hat stattdessen die Strategie der modernen Medizin im Umgang mit den chronischen Erkrankungen so beschrieben: »Wenn ein Waschbecken bei voll aufgedrehtem Wasserhahn überläuft, gibt es zwei Möglichkeiten, Schlimmeres zu verhindern: Man kann mit Mopp und Eimer beginnen aufzuwischen – Symptome lindern. Oder man dreht den Wasserhahn zu: Das ist Ursachenbekämpfung.« Bei Bluthochdruck verordnen wir blutdrucksenkende Medikamente, die wirkungsvoll den Blutdruck senken, aber die eigentliche Ursache, Fehlernährung, Bewegungsmangel und Stress, tangieren wir nicht. Für Diabetes mellitus Typ 2 wurden in den vergangenen Jahren einige wirkungsvolle und teure Medikamente entwickelt – aber die Ursache der Erkrankung, Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel, werden genauso wenig beeinflusst, wie die Nebenwirkungen der Medikamente gelindert werden. Eine »Volkskrankheit« sind auch erhöhte Cholesterinwerte, die wir hervorragend mit Statinen absenken, wieder ohne die eigentliche Ursache in den Blick zu nehmen. Ähnlich sieht es bei Rückenschmerzen, Arthrose oder Depressionen aus. Um im Bild des Waschbeckens zu bleiben: Wir sind superschnelle Aufwischexperten geworden. Spezialisten wurden geschult, neue saugfähige Materialien und sogar Aufwischroboter entwickelt. Das Wirksamste aber wäre, den Wasserhahn zuzudrehen.

Die Ursache unseres Tunnelblicks ist, dass unser ganzes Krankenhaus- und Medizinsystem auf die akute Versorgung ausgerichtet ist. Hier leistet es Hervorragendes und Segensreiches, aber dieses System lässt sich nicht sinnvoll auf die Behandlung chronischer Erkrankungen und komplexer biologischer Zusammenhänge übertragen. Auch die Klimakrise und die Corona-Pandemie haben diese eingeengte Perspektive und Fehlsteuerung erneut sichtbar gemacht. Wir haben eine hervorragende Intensivmedizin. Besser wäre es, das Immunsystem so weit zu stärken, dass ein Krankenhausaufenthalt gar nicht erst nötig würde.

Mit der Neuauflage dieses Buches möchte ich also erneut, mit weiteren Argumenten und aktuellen Forschungsergebnissen, deutlich machen: Wir brauchen eine neue Medizin, die Hightech und Naturheilkunde verbindet. Die Errungenschaften der technischen und pharmakologischen Medizin sollten da, wo sie notwendig sind, gezielt zum Einsatz kommen. Die Naturheilkunde jedoch ist eine Lebensstil-Medizin, die nicht nur im Einklang mit der Natur steht, sondern auch die Grundlagen unserer Gesundheit schützt – im ganz normalen Alltag. Die Wertschätzung unserer Ressourcen, der individuellen wie der planetaren, könnte viel Leid und Geld sparen. Es wird jetzt viel von der notwendigen Klimawende und von der Agrarwende gesprochen. Es wird aber auch höchste Zeit für die Medizinwende, die Integration der Naturheilkunde in die moderne Biomedizin. Jetzt.

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Prof. Dr. med. Andreas Michalsen