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Nr. 3078

 

Pluto

 

Die galaktische Tastung – Terraner brechen zu einer fernen Welt auf

 

Christian Montillon

Susan Schwartz

 

 

 

PERRY RHODAN KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Zwischen allen Welten

Prolog: Gänger des Netzes

1. Yenren

2. 19,9 Sekunden

3. Yenren

4. Labyrinth

5. Yenren

6. Das Werk eines Künstlers

7. Yenren

8. Opernchaos

9. Yenren

10. Tastung

Epilog: Ein Rätsel

Stellaris 76

Vorwort

»Der Ara« von Olaf Brill

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten, konnte er diese durchreisen und erreichte ein Zwillingsuniversum, das mit seinem heimischen das sogenannte Dyoversum bildet. In jener Hälfte des Dyoversums findet er tatsächlich Terra wieder – und viele Sonnen und Planeten, die er kennt. Aber nur wenige haben Zivilisationen hervorgebracht, unter anderem die Topsider.

Perry Rhodan gelingt es, einen drohenden Krieg zwischen Menschen und Topsidern zu verhindern. Aber wie soll er Terra nach Hause führen? Und ... werden die Menschen ihm dabei tatsächlich folgen? Einen Teil der Antworten erhofft er sich auf PLUTO ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner setzt sich der Tastung aus.

Sichu Dorksteiger – Die Ator setzt sich wissenschaftlich mit der Tastung auseinander.

Nene Emelumado – Die großartige Sängerin ist Fan und hat Fans.

Obyn – Die ehemalige Jinirali zweifelt am Althergebrachten.

Khyarat – Der ehemalige Erste folgt seiner Jinirali überall hin.

Zwischen allen Welten

 

Das ist ein merkwürdiges Land. Es ist ihm unbekannt, und es ist ihm vertraut. Was tut er hier? Wie ist er hier hingekommen?

Er war in Not.

Er war schon einmal hier, schon mehrere Male. Er ist es nie gern gewesen. Das ist der Anderraum, kommt ihm in den Sinn.

Ein Name erscheint vor seinem Geist: Atlan. Sein eigener Name ist ihm entfallen. Überhaupt – hatte er nicht zwei Namen?

Das Land vor ihm macht ihm jeden Schritt schwer. Es fällt ihm schwer, den Kopf zu heben. Wo ist der Himmel? Da ist kein Himmel. Oder doch?

Aber der Himmel hat sein Gesicht abgewendet. Und er zeigt – ganz sonderbar! – zwei Gesichter.

Für einen Moment ist ihm, als ob er den Schatten einer Welt sähe, irgendwo. Aber da es zwei Himmel sind, zwei Nicht-Himmel, ist auch diese Welt doppelt.

Die Erde, fällt ihm ein. Da ist doch die Erde! Terra. Terra – mal so, mal so.

Ist das seine Heimat?

Ja. Und nein. Seine eigene Welt ist zerstört.

Die Erde hat ihn aufgenommen wie einen verlorenen Reisenden.

Er macht Schritt für Schritt. Wohin?

Er denkt nach. Dann fällt es ihm ein:

Zurück.

Er muss zurück.

Zurück zur Erde.

Aber zu welcher der beiden Erden?

Perry Rhodan, kommt ihm in den Sinn. Bully. Icho Tolot. Das sind freundliche Namen. Fehlen nur noch die Gesichter dazu. Aber die, das weiß er, sind irgendwo in ihm.

Endlich fällt ihm ein weiterer Name ein, sein Name. Zum ersten Mal spürt er eine gewisse Erleichterung.

Er heißt Plofre.

Er heißt Gucky.

 

*

Prüfungen erwarte bis zuletzt.

(Anonyme Sammlung

altterranischer Weisheiten,

Kapitel 49: »Johann Wolfgang von Goethe«)

 

Prolog

Gänger des Netzes

 

So leicht es war, Lieder zu singen, so sehr strengte es Nene Emelumado an, auch nur eine einzige Zeile selbst zu dichten.

Sie starrte das Papier an, das vor ihr auf dem Tisch lag. Es war immer noch weiß und völlig leer, und das seit mehr als einer Stunde. So viel zu dem grandiosen Tipp des künstlerischen Leiters Milton Chu, zur ursprünglichen Form zurückzukehren und mit einem Stift in der Hand zu schreiben.

Du wirst sehen, es setzt die Inspiration frei, und du kannst deine Gedanken ganz leicht in Worte gießen, hatte er gesagt.

Lächerlich!

Sie nahm das Papier, zerknüllte es, zielte, warf und verfehlte den Mülleimer. Der Stift landete einen Atemzug später ebenfalls auf dem Boden und hinterließ einen Fleck auf dem glänzenden Echtholzboden ihrer Raumschiffssuite in der GIACOMO PUCCINI.

»Wie soll man auch arbeiten, in diesen Zeiten!«, sagte sie in den leeren Raum hinein.

»Erstaunlich, wie melodiös deine Stimme klingt«, antwortete das blecherne Timbre der Raumpositronik. »Du bist eben geboren, um zu singen, nicht um zu dichten.«

»Pah!«, machte Nene Emelumado. »Deine Schmeicheleien klingen, als würde Milton mir höchstpersönlich Honig um den Mund schmieren.«

»Er hat mich ja auch programmiert, diese Worte an der passenden Stelle fallen zu lassen«, sagte die Positronik. »Oder erwartest du von mir echte Kreativität und Anteilnahme an deinen Befindlichkeiten? Ich mag dich, Nene, aber ich bin eine Maschine.«

Nene Emelumado atmete tief und geräuschvoll durch und schnippte mit den Fingern. »Stummschalten!«, befahl sie. Das bedeutete die totale Desaktivierung jeglicher Aufnahme-, Beobachtungs- und Kommunikationsfunktionen in ihrer Suite.

»Wie du wünschst. Du weißt, wie du mich wieder rufen kannst, wenn du ...«

»Stummschalten!«

Die Positronik schwieg; es kam Nene Emelumado pikiert vor, aber wahrscheinlich bildete sie sich das ein.

Sie beschloss, das zu tun, was sie konnte und ihr Freude bereitete – zu singen. Sie musste üben, und dabei drehte es sich weniger darum, ihre Gesangstechnik zu perfektionieren – bei allen Kometenschweifen der Milchstraße, wie sollte sie denn noch besser werden? Nein, die tägliche Probestunde diente vielmehr der Entspannung und der inneren Sammlung.

Nene ging mit schnellen Schritten einmal zur Tür, anschließend zum Fenster mit der perfekt simulierten Sicht auf das Himalaja-Gebirge. Am Fuß eines dieser majestätischen, schneebedeckten Abhänge war sie aufgewachsen, unter der Obhut ihres älteren Bruders, in einer Hütte, die kleiner gewesen war als diese Suite. Ihr Bruder lebte dort immer noch. Sie hatte ihn herausholen wollen, ihm eine Villa kaufen, aber er hatte sie nur verwundert angesehen und gefragt, was er mit ihrem Geld solle, wo er doch in der Gebirgseinsamkeit alles habe, was er brauche.

»Sie sind die Wächter von DORIFER«, sang sie. »Erbitterte Gegner der Ewigen Krieger!« Die erste Zeile ihrer persönlichen Lieblingsoper Die Gänger des Netzes. Die Töne schwebten durch den Raum, leicht, beschwingt und phantasievoll. Es war eine verrückte Zeit gewesen, damals, als die Oper entstanden war – noch im Ursprungsuniversum, jener anderen Hälfte des Dyoversums, aus der Terra und Luna samt allen Bewohnern vor einem halben Jahrtausend in die neue Heimat versetzt worden waren.

Nene sang das Einstiegslied, in dem Perry Rhodans Tochter Eirene von ihrer Schlaflosigkeit berichtet und davon, dass sie erwachsen wird. Es fühlte sich gut an, der alten Geschichte Leben einzuhauchen. Friedlich und erfüllend.

So schmeichlerisch Milton Chus Worte sein mochten, die er der Zimmerpositronik eingeimpft hatte, so sehr entsprachen sie der Wahrheit: Nene war geboren, um zu singen, und genau das tat sie nun.

Die Welt um sie versank in Bedeutungslosigkeit.

 

*

 

Später, gut gelaunt, aktivierte Nene die Positronik wieder und orderte Kekse. Sie liebte Kekse.

»Welche Sorte?«, fragte die blecherne Stimme.

»Überrasch mich!«

Halb erwartete sie Widerspruch, doch der erfolgte nicht. Stattdessen schwebte eine Minute später völlig lautlos ein Servorobot heran und hielt ihr eine elegant geschwungene Kristallglasschale hin. Sie war gefüllt mit Keksen, alle von derselben Sorte, in sich gedrehte, kross aussehende, überzuckerte Stäbchen.

»Keine Auswahl?«, fragte Nene.

»Ich sollte dich überraschen.«

»Das hast du.«

»Probier sie! Sie sind köstlich.«

»Woher willst du das wissen? So ganz ohne Geschmackssinn.«

»Ich bediene Terraner seit 382 Jahren. Vertrau meinen Erfahrungswerten.«

Sie nahm einen Keks und biss hinein. Die Süße explodierte auf der Zunge, aber es lag noch eine andere Nuance darin, die sie nicht beschreiben konnte. Sie schloss die Augen, schmeckte nach.

»Und?«, fragte die Positronik.

»Phantastisch.«

»Einer der Hauptbestandteile ist Bier.«

»Wie bitte?« Sie mochte keinen Alkohol, und wenn, dann ein winziges Schlückchen Rotwein. Alkohol griff ihre Stimmbänder an, davon war sie überzeugt, und ihre Stimme diente als Wohlstandsversicherung. Als Mittel für eine sorglose Zukunft, in der Hunderttausende sie bewunderten.

»Ich wusste, dass dich das überraschen wird«, sagte die Positronik. »Du erhältst übrigens soeben Besuch. Soll ich dich verleugnen?«

»Kommt drauf an.«

»Es ist Engine-One.«

»Lieber Kollegenbesuch ist mir stets willkommen. Lass ihn ein!«

Leise surrend fuhr die Kabinentür auf. Ein wenig lauter surrend kam ihr Gast näher. »Es ist eine Freude, dich zu sehen«, sagte der Posbi, der auf 35 Rädern in den Raum rollte – Nene kannte die Zahl seit Jahren, weil Engine-One sie immer wieder betonte.

Der eigentliche Körper der kybernetischen Lebensform bestand aus einer geometrisch perfekten vierseitigen Pyramide mit abgeflachter Spitze, auf der in einer durchsichtigen Halbkugel das Plasma ruhte. Wenn der Posbi sang, leuchtete es in einem bunten Farbspektakel auf; das hohe C brach sich als Lichtstrahl an der Glaskugel zu einem Regenbogen.

Nene war ein wenig neidisch auf dieses zweifellos gut programmierte Spektakel, wenngleich sie in Interviews stets betonte, dass es beim Gesang auf die inneren Werte und die Schlichtheit der reinen Stimme ankam. »Was führt dich zu mir?«, fragte sie.

»Es gibt einen kleinen Streit, ob unser Auftritt genehmigt werden soll.« Engine-Ones Stimme erklang volltönend aus allen Seiten der Pyramide zugleich. »Man ist sich im Gestänge des Pluto nicht ganz einig.«

Nene schaute hinaus ins Himalaja-Gebirge. »Hm«, machte sie. Wer sie kannte, wusste, dass sie damit um Zeit bat, um in Ruhe nachdenken zu können. Und Engine-One kannte sie gut.

Sie versuchte zu überlegen, doch ihre Gedanken schweiften ab. Konnte der Posbi Ungeduld verspüren? Langeweile? Oder schaltete er einfach ab – was aber nur für seine mechanischen Bestandteile möglich war, nicht für das Plasma, das seine Persönlichkeit ausmachte.

Wobei es an Bord der GIACOMO PUCCINI einen spitzfindigen Streit darüber gab, ob Engine-One überhaupt eine Persönlichkeit hatte; Nene fand bereits die Fragestellung absurd. Sie brauchte keine wissenschaftlichen Abhandlungen, um die Wahrheit zu spüren: Wer sang wie Engine-One, hatte ein Bewusstsein, eine Seele. Ohne jeden Zweifel. Wie konnte man das einem derart herausragenden Künstler absprechen?

»Lass mich raten«, sagte sie. »Pino Farr streitet mit Rebekka Klee.«

»Wer sonst?«, fragte Engine-One und fügte die sprichwörtliche Zeile in der melodramatischen Titelmelodie von M 87 revisited hinzu: »Es sind immer dieselben, die für Unfrieden sorgen – es sind immer dieselben, die rauben und morden!«

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Illustration: Dirk Schulz

Nene lachte. Für einen Posbi war er wirklich witzig.

Pino Farr war der Direktor des im Gestänge des Pluto ansässigen Instituts zur Erforschung des Dyoversums – ein Vollblutwissenschaftler durch und durch. Rebekka Klee hingegen bekleidete seit einigen Jahren das Amt der Administratorin des gesamten Gestänges ... ihr Weg in die Politik hatte über die Künstlerszene geführt, und sie war NATHANS kreative Beraterin gewesen, als dieser seine bislang einzige Oper komponiert hatte – Die Algorithmen der Identität. Eine Oper, die NATHAN übrigens Nene gewidmet hatte, womit sich der Kreis schloss.

Rebekka hatte die GIACOMO PUCCINI ins Gestänge eingeladen; sie versuchte seit sage und schreibe zwei Jahren, einen Termin zu erhalten, um nicht nur die Algorithmen, sondern auch Rhodan im Wegasystem und das eine oder andere originale Werk von Giacomo Puccini im Gestänge aufführen zu lassen. Ein kultureller Höhepunkt, zweifelsohne.

Dass Pino Farr widersprach und den Auftritt zu verhindern versuchte, lag nicht etwa an der Qualität der Künstler an Bord – die war über jeden Zweifel erhoben. Sondern am Termin.

In zwei Tagen war der 29. Januar 2047 Neuer Galaktischer Zeitrechnung ... ein Tag, an dem entweder nichts geschehen oder sich die Galaktische Tastung zum dritten Mal seit der Ankunft der Terraner in dieser Hälfte des Dyoversums ereignen würde.

Man wusste es nicht, wie man im Zusammenhang mit dem Phänomen, das irgendwelche klugen Leute vor 177 Jahren auf den Namen Galaktische Tastung getauft hatten, ohnehin kaum etwas wusste.

Woher auch?

Nene brauchte keine wissenschaftlichen Abhandlungen, um zu begreifen, dass der menschlichen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt waren. Und wenn es ein Phänomen wie die Tastung tatsächlich gab, überstieg es das Begreifen.

Warum sollte man sich also darum kümmern, zumal es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gefahr in sich trug?

Weshalb deswegen einen Auftritt absagen, in dem die Kunst Herzen berührte und Sinne erhob?

Aber zum Glück musste sie sich um derlei Hintergründe nicht kümmern. Das mussten andere ausfechten. Ihr Teil lag darin, zu singen. Oder eine Protestnote zu verkünden, sollte die Aufführung nicht zustande kommen. Was wiederum eine Solidaritätswelle ihrer Fans nach sich ziehen würde – schlechte Presse für das Institut, was Pino Farr wohl erst gar nicht riskieren würde. Schließlich war er kein Narr.

»Was glaubst du, Engine-One?«, fragte Nene. »Wird die Tastung stattfinden?«

»Als Künstler hoffe ich es«, sagte der Posbi. »Ein epochales Ereignis, das mich inspirieren würde. Der positronische Teil in mir vermag keine Aussage zu treffen. Es liegen zu wenige Daten vor. Die erste Tastung erlebten wir nach der Versetzung im Jahr 1693 NGZ – die zweite 177 Jahre später. Genauer gesagt, 177 Jahre, drei Tage, zwei Stunden, sechsundvierzig Minuten und zwölf Sekunden später. Es könnten zufällige Zeitpunkte gewesen sein. Sollte eine Periodizität vorliegen, wird die Tastung übermorgen wieder stattfinden. Willst du die genaue Uhrzeit wissen?«

»Nicht nötig«, sagte Nene. »Die Aussage des Künstlers in dir genügt mir übrigens völlig. Ich sehe es ebenso. Und ich kann keinen Grund erkennen, warum wir nicht vorher unsere Opern aufführen sollten.«

»Weil das Unruhe ins Gestänge und durch die höhere Besucherzahl auch ins Institut zur Erforschung des Dyoversums bringen würde«, sagte Engine-One. »So lautet jedenfalls die Argumentation von Pino Farr.«

»Die mich nicht überzeugt.«

»Den Künstler in mir ebenso wenig«, konstatierte der Posbi. »Die Kunst sollte leben! Feiern! Es gibt allen Grund dazu – wer hätte gedacht, dass Terraner und Topsider zusammenfinden und eine Allianz gründen könnten?«

»Die Orion-Allianz«, sagte Nene nachdenklich. »Ein Erfolg, den wir wohl Perry Rhodan zu verdanken haben.«

»Nicht nur ihm, wenngleich er maßgeblich beteiligt war«, präzisierte Engine-One. »Ohne große Vernunft aufseiten vieler Topsider, allen voran der Gelegemutter, wäre die Ochiu nicht möglich gewesen.«

»Die Ochiu?«

»So bezeichnen die Echsen die Orion-Allianz. Es bedeutet in ihrer Sprache Zuversicht, Hoffnung, Zukunftsvertrauen. Ein gutes Omen, wenn du meine Meinung wissen willst.«

Diese sprachliche Spitzfindigkeit war Nene neu, denn sie interessierte sich nicht sonderlich für die Topsider. Mehr noch, sie fand die Echsen unheimlich. Umso erleichterter war sie über den Friedensschluss.

»Ich gehöre übrigens zu den wenigen Individuen, die beide Tastungen erlebt haben«, sagte Engine-One, »und wohl auch die dritte erleben werden, sollte sie stattfinden. Daher erlaube ich mir das Urteil, dass die Tastung keine Gefahr birgt, aber erhebend ist. 1693 NGZ empfand ich den ersten kreativen Impuls, und beim zweiten entschloss ich mich zu singen.«

»Woher kommt die Tastung?«, fragte Nene.

»Niemand weiß es. Aber mir stellt sich eine ganz andere Frage.«

»Wie lautet sie?«

»Wer tastet nach uns? Und warum?«

1.

Yenren

Die unsichtbare Wand

 

Wähle dir einen Reisebegleiter und dann erst den Weg.

Spruch der Yenranko

 

Ich träume vom Tag der Einheit. Ist das verwerflich? Kein Sandkorn gleicht dem anderen, und so wie sie unzählbar sind, so sind unsere Gedanken frei, und es ist alles möglich. Was wir tun ...

»Obyn! Jinirali, schläfst du?«

»Ich schlafe nicht, Khyarat, ich meditiere.«

»Für mich hörte sich das wie schlafen an.«

»Ich lasse meine Augen ruhen, und meine Gedanken schweifen. Das ist nicht schlafen, wiederhole ich.«

»O Lichthand, erhöre mich! Sie ist zur Philosophin geworden. Ich falle in Schande!«

Obyn erkannte, dass ihr Hilfesteller keine Ruhe geben würde. Er war unendlich treu, doch unverbrüchlicher Traditionalist. Sie öffnete die Schlusslider, die kein Licht mehr durchließen, dann schloss sie die durchsichtige Wischhaut, die vor dem Sand schützte und die Augen feucht hielt, und richtete sich solchermaßen blinzelnd auf.

»Den Sand kümmert deine Schande nicht, sie sickert in ihn ein und vergeht bedeutungslos«, erwiderte sie.

»Aber warum sind wir überhaupt auf dem Sand und nicht darunter?«

»Du hättest mich nicht begleiten müssen.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Obyn stemmte sich hoch. Es war nicht mehr so leicht wie früher, die Muskeln anzuspannen und die Knorpel in eine andere Richtung als der augenblicklichen Lage zu bewegen. Nichts war mehr so leicht, bis auf Khyarats Genörgel, das fiel ihm zunehmend leichter.

»Du kennst die Antwort. Ich möchte die Oasen besuchen, bevor ich sterbe.«

»Aber sterben, das tun wir doch nicht, Jinirali. Du bist höchstdekoriert, eine lebende Legende, die größte Kriegerin, die je gelebt hat!«

»Und du der berühmteste Hilfesteller. Du könntest die Jugend unterhalten und sie lehren, was es bedeutet, diese schwere Aufgabe wahrzunehmen. Warum folgst du einer dummen alten Frau, die zur Philosophin degeneriert?«

»Ich gebe die Hoffnung niemals auf, dass dich die Lichthand erleuchten möge.« Er winkte ihr. »Und jetzt komm, bevor ich das Essen wegwerfe, weil es deinetwegen verschmort.«

 

*

 

Obyn erhob sich für den kurzen Weg gar nicht erst, sie robbte auf den mit dicker Hornhaut besetzten Kniegelenken näher an das Feuer heran und musste zugeben, die Wärme tat gut. Yomira war untergegangen und spendete noch ein wenig Licht ohne Wärme, der Himmel verblasste zu Grauweiß und schattierte weiter bis zu Dunkelgrau. Ganz finster wurde es nie, immer herrschte am Horizont ein dünner Streifen mattes Zwielicht des riesigen bläulich weißen Lebensspenders.

Schnell wurde es kühler, und Obyn wickelte die vielen Stoffbahnen ihrer Gewänder fester um sich. Die Wärme konnte nicht gespeichert werden, der Sand erkaltete sofort. Der warme Goldton verblasste zu Mattbeige.

Sie lagerten in einer Senke, geschützt von den Dünen ringsum. Khyarat führte getrocknete Moose und Pilzflechten im Gepäck, die er mit einem gasbetriebenen Feuerzünder entfacht hatte. Darauf hatte er Steinholz geschichtet, und als das genug angebrannt war, die Wärmesteine daraufgelegt. Ein wohliges Gefühl breitete sich aus, das Obyn die ganze Nacht davor bewahren würde, in Kältestarre zu fallen.

Für Notfälle hatten sie einen Gaskocher dabei, aber dessen Einsatz war nur begrenzt möglich, und Obyn hatte nicht gesagt, wie lange sie unterwegs sein wollte. Khyarat war stets auf Sicherheit bedacht.

In einer Glutschicht wurde ein Teigfladen ausgebacken, und in einem Kessel über der Feuerstelle brodelte ein Eintopf. Khyarat schöpfte daraus nacheinander in zwei Schalen und reichte eine an Obyn weiter, zusammen mit einem prächtig verzierten Holzlöffel. Einsiedler aßen mit den Händen, in den Gefilden wurden zumeist Tonbestecke verwendet. Metallschmelzen wurden dafür nicht eingesetzt.

Ein Holzlöffel war eine Ehrengabe und sehr kostbar. Obyn war das nicht so wichtig, aber als sie in der Schale rührte, stellte sie freudig überrascht fest: »Da ist ja Fleisch drin!«

Das war ihr mehr wert als jeder Besitz.

»Du weißt es nicht mehr, oder? Als wir heute Mittag angehalten haben, um Wasser zu schöpfen, entdeckte ich einen Darameti in der Düne.«

Obyn erinnerte sich, aber sie hatte nicht darauf geachtet, dass ihr Begleiter den Darameti mitgenommen hatte. Khyarats Augen waren schärfer als ihre, er bemerkte selbst in seinem Alter jede noch so kleine Bewegung im ewigen Sand. Ihm war aufgefallen, dass fast am Fuß der Düne neben dem Wasserschacht eine fingernagelgroße Veränderung zu erkennen war, eine dunklere Stelle. Das bedeutete, ein Tier grub sich durch den Sand und transportierte Körner aus den tieferen Schichten nach oben. Obyn hatte überhaupt nicht darauf geachtet, erst als Khyarat es ihr gezeigt machte.

Der Hilfesteller hatte sich flink darauf zubewegt, kurz gezögert – und dann blitzschnell zugepackt. Triumphierend hatte er die Hand aus dem Sand zurückgezogen und eine sich windende grüne Echse hochgehalten, deren langer Schwanz wild peitschte. Seine beiden Außendaumen schlossen sich um den Hals des Darameti und drückten zu. Sofort erschlaffte das Tier – und nun bildete es eine wohlschmeckende Ergänzung zum abendlichen Einerlei. Der Eintopf bestand normalerweise aus eingekochten und sauer eingelegten Pflanzenfasern, Blättern, Knollen, ein paar Zuckerfrüchten, und nur sehr selten einmal Fleisch. So wie in dieser Nacht.

»Du sorgst so gut für mich, und ich kann es dir nicht vergelten«, sagte Obyn gerührt.

»Ich profitiere davon genauso wie du, Jinirali.«

Die Heimatwelt Yenren bestand an der Oberfläche nur aus mächtigen, zumeist lebensfeindlichen Wüsten, doch in den Tiefen existierten riesige Wasserreservoire, die über ein Netz aus Adern miteinander verbunden waren, aus denen die Flora, die Fauna und die Yenranko schöpften. Manche Adern verliefen so knapp unter dem Sand, dass Pflanzenwurzeln hineinstoßen konnten, die den Grundstein der großen, üppigen Oasen bildeten. Wenn man dort ein bisschen im Sand wühlte, stieß man auf Feuchtigkeit, nicht selten sprudelte sogar Wasser hervor.

»Es schmeckt ausgezeichnet«, lobte die Veteranin, die es nicht sonderlich mochte, Jinirali genannt zu werden, da sie schon lange nicht mehr im aktiven Militärdienst war. Gewiss, der Rang stand ihr zu, aber sie wollte nichts mehr von Krieg und Kampf wissen. Sie war in ihrem Alter nicht mehr stolz auf ihre Leistungen, die ihr Ruhm und Bewunderung und hohe Ehren wie den Holzlöffel eingebracht hatten.

Vielmehr wünschte sie sich, von allen vier Wüsten den Sand zu tauschen und zu einem farbenfrohen Gemenge zu mischen. Der Sand jeder der vier Wüsten unterschied sich deutlich in den Farben, und ihn zu vermengen, statt starre Grenzen zu schaffen, war Obyns Alterstraum. Endlich Frieden zu schaffen und gemeinsam technische Erleichterungen weiterzuentwickeln. Gemeinsam Ressourcen schöpfen und Anbau betreiben, damit niemand mehr darben oder einem anderen den Besitz neiden musste.

Darüber durfte sie auf keinen Fall öffentlich sprechen, denn man würde ihr gar nicht erst zu Ende zuhören, sondern ihr augenblicklich vorwerfen, sie wolle den eigenen Sand wegwerfen und das Volk von Yacol verraten, das zu verteidigen sie vor langer Zeit geschworen hatte. Die Strafe für Verräter lautete auf lebenslange Verbannung, man wurde ohne Kleidung und ohne Hilfsmittel zum Einbruch der Nacht an der Oberfläche in der Wüste ausgesetzt. Viele überlebten nicht einmal die erste Nacht.

Es würde selbst Khyarat das Herz brechen, würde Obyn ihm im Vertrauen ihre wahren Gedanken offenbaren. Er würde annehmen, dass sie Sand unter den Lidern hatte und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, wenn nicht senil geworden war. Und er würde sie anklagen und die Höchststrafe fordern, ohne Rücksicht auf ihr Alter und ihre Verdienste. Aus Traditionsbewusstsein und Enttäuschung.

Sie kannten einander lange, waren vertrauter miteinander als mit ihren jeweiligen Verwandten, ja selbst den Nachkommen. Sie waren die besten Freunde. Doch es gab Grenzen. Obyn stand stets im Rang über Khyarat, und er diente ihr. Das war die eine Marke. Die andere betraf ketzerische Gedanken, die besser im Sand verborgen blieben.

Obyn konnte nicht einmal in diesen Tagen, da sie spürte, wie die Wärme von ihr wich, offenbaren, was sie schon ihr halbes Leben lang beschäftigte. Ihr Traum würde nichts weiter als ein Hirngespinst bleiben. Das bedauerte sie am meisten.

 

*