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Nr. 3060

 

Die Thesan und der Lordadmiral

 

Handelskarawane nach M 15 – eine unglaubliche Allianz entwickelt sich

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Zarut

2. NIKE QUINTO

3. Zarut

4. NIKE QUINTO

5. Zarut

6. Zarut

7. Zarut

8. Zarut

9. Zarut

10. Zarut

11. RATBER TOSTAN

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

In der Milchstraße spielen die Cairaner eine maßgebliche Rolle; die Liga Freier Galaktiker und die Arkoniden sind nur noch von untergeordneter Bedeutung. Der unsterbliche Arkonide Atlan hat beschlossen, an dieser Situation etwas zu ändern. Vor allem versucht er dem Geheimnis des hermetisch abgeschlossenen Arkonsystems auf den Grund zu gehen, das nur noch als die »Bleisphäre« bekannt ist.

Die USO unter Lordadmiral Monkey versucht unterdessen, sich ins Vertrauen der Cairaner zu schleichen, um auf diese Weise deren Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. Dabei kommt es alsbald zu einer interessanten Konstellation. Partner sind DIE THESAN UND DER LORDADMIRAL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Monkey – Der Lordadmiral macht Maske.

Zemina Paath – Die Thesan sucht nach ihrem verlorenen Gedächtnis.

Shenbal Jassaradse und Mailu Tanjadaril – Die beiden Agenten geraten in Bedrängnis.

Orpard Surrutaio – Der Cairaner sucht einen Ausweg und sieht den Sternenhimmel.

Nevesai Aiaraldi – Die Legatin befiehlt den Einsatz einer mörderischen Eingreiftruppe.

»Die Täuschung ist unser größter Schutz. Die Lüge ein Zweck. Wir nutzen Verborgenheit, um zu verschleiern, was verschleiert werden muss; fingieren ganze Galaxien, wenn es Not tut.

Unsere Präsenz dient der Vorbereitung. Frieden ist ein hehres Ziel, doch Herrschaft ... dich suchen wir nicht. Wir sind die Diener des Trajekts. Wir ordnen uns dem großen Weiß unter, dem Reinen und Ganzen, dem Formlosen, und halten jenen einen Spiegel hin, die ihn brauchen.

Mögen wir noch lange verborgen bleiben, bis die Zeit gekommen ist, und wirken, wie wir wirken müssen.«

Aus den Aufzeichnungen der Legatin

 

 

1.

Zarut

 

»Ich beneide sie.« Shenbal Jassaradse blickte aus dem Panoramafester, das von außen verspiegelt war. Auch der Boden war entlang der Wand in einer Breite von zwei Metern durchsichtig und von außen mit Kacheln verspiegelt. Dadurch ließ sich ungehindert beobachten, was unten geschah, ohne selbst bemerkt zu werden.

Shenbal konnte einen Großteil der zweihundert Meter großen, schlüsselförmigen Kloknu-Arena einsehen. Dort traf ein ganzer Haufen Nuru erste Vorbereitungen für das große Spiel in drei Tagen, umgeben von riesigen Holos, die interessante Details des Geschehens zeigten.

Barrieren wuchsen in die Höhe, kleinere Labyrinthe entstanden. Eine Gruppe hob einen Wasserlauf aus, per Hand, wie es Tradition war. Die Spaten waren golden eingefärbt. Viele Nuru klapperten bei der Arbeit mit den Schnäbeln: Sie sangen unter den aufgespannten Schädelschirmen. Auch das war eine ihrer Traditionen. Musik hatte seit jeher einen großen Stellenwert.

Nuru setzen auf ihre Hörorgane, hatten nahezu einen Kult um sie, auch wenn sie kaum sichtbar waren. Wesen, die große Hörorgane hatten, faszinierten sie.

»Die Nuru?« Mailu Tanjadaril wischte mit einer Gespürhand durch die Hologalerie auf dem Tisch, die verschiedene Getränke zeigte. Beim Abbild eines Gerjets hielt sie mit den Fingern inne, bis das Bild leicht aufflackerte und die Bestellung abgeschlossen war.

»Die auch.« Shenbal nippte an seinem fast leeren Drajon, einem herbsauren Wurzeltrank. Er hätte gerne etwas Stärkeres getrunken, doch an diesem Tag durfte er sich die Aufmerksamkeit durch nichts trüben lassen. »Aber ich meine vor allem die Unwissenden.«

Er deutete mit einer behandschuhten Innenhand unauffällig zu einer Sitzgrube am anderen Ende der Bar, in der ein Cairaner mit seinen beiden Frauen und vier Kindern saß. Die Sitzgrube lag in einer Ausbuchtung und ragte wie ein Nest über der Arena auf. Der Boden konnte bei Bedarf transparent gestellt werden, im Moment jedoch war er halbverspiegelt, was bedeutete, dass Lebewesen aus der Spiegelsimulation gefiltert wurden.

Das Balshar Radjas war eine besondere Bar in Anur, der Hauptstadt des Planeten Zarut, in der sich hochrangige Cairaner wie er und Mailu Tanjadaril trafen – Mitglieder des legatischen Bunds und damit des Panarchivs. Dabei kam es immer wieder vor, dass sich auch gewöhnliche Cairaner an diesen Ort verirrten, die geduldet wurden, obwohl sie eigentlich keine Zutrittsberechtigung hatten. Sie dienten lediglich als Tarnung. Das Balshar Radjas war die einzige cairanische Bar am Rand der Arena, in der luftigen Höhe von zwanzig Metern, und war Bestandteil der cairanischen Ehrentribüne. Neben ihr erstreckten sich ähnliche Einrichtungen für Nuru und einige andere Völker. Die Stadt Anur war ein Schmelztiegel, der für fast jeden etwas bot.

Ein schwebender Roboter brachte Mailu das rot schäumende Getränk. Winzige grüne Blüten trieben darin. Sie nahm es, hob es mit einer Arbeitshand, trank jedoch nicht.

»Ja. Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Mailu sinnend. »Sie ahnen nichts von der Gefahr, in der wir schweben. In diesen Tagen mehr denn je. Es ist schlecht, was mit Kaiku los ist. Sehr schlecht. Ich fürchte, die Phersunen können uns beinahe mit ihrem Lephend berühren.«

Der zweite Drajon kam unaufgefordert, weil die Positronik Shenbals Gepflogenheiten kannte. Er betrachtete die unscheinbare, blasse Flüssigkeit, als sähe er sie zum ersten Mal. Das Glas war bis zur Eingussrille gefüllt.

Eine Weile schwiegen sie beide, während in der Tiefe unter ihnen drei Nuru eine vier Meter hohe Kletterwand nach oben zogen. Sicher waren viele der Sprossen, die vermeintlich stabil wirkten, spröde und gaben unter den Füßen nach. Bei einem Kloknu-Spiel kam es immer wieder zu Verletzungen, dennoch rissen sich die Nuru darum, an einem solchen Spiel teilzunehmen. Wer das einmal geschafft hatte, erzählte noch seinen Enkeln davon. Die je zwanzig Spieler einer Mannschaft waren berühmt, galten als Helden.

»Ich brauche dich.« Shenbal spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Es war lange her, dass er solche Angst gehabt hatte. Wenn er daran dachte, was vor ihm lag, wurde ihm übel. Dabei war die Aufgabe ehrenhaft und vermutlich weitaus weniger gefährlich, als er befürchtete. Jedenfalls für ihn.

»Du willst, dass ich deine Außenhände unterstütze? Außerhalb meines derzeitigen, durchaus sehr anstrengenden Auftrags?«

»Ja. Das erste Treffen ist morgen. Ich würde mich weit wohlerfühlen, wenn du dabei wärst.«

Mailu senkte das Glas. »Was springt für mich ...?«

Lautes Geklacker und Getröte unterbrach sie. Eine Gruppe von fünf Nuru drängte sich in die Bar. Drei von ihnen hatten Tröthörner dabei, in die sie mehr oder weniger rhythmisch stießen. Zwei Ebenen unter ihnen hatte eine der beliebten Vorpartys stattgefunden, bei der ein ehemaliger Spieler die aktuelle Konstruktion der Hindernisse vorgestellt hatte.

Die fünf Nuru hatten es sich dort offensichtlich wirklich gut gehen lassen. Sie schwankten und spreizten die Schädelknochen im Rausch. Der hellrosafarbene Körperflaum im Gesicht war aufgerichtet. Sie trugen traditionelle Borken-Flickenkleider, die sie vor der unbarmherzigen Hitze ihrer Welt schützten.

»Nuru, Nuru!«, stieß einer der Kloknu-Fans hervor. Er stolperte auf die Sitzgrube zu, in der die cairanische Familie saß.

Schneller als jeder Gedanke sprang Mailu auf und versperrte dem kleineren, aber deutlich breiteren Nuru den Weg. »Fort! In diese Ebene habt ihr keinen Zutritt.«

»Ja!«, grölte ein Nuru weiter hinten in der Gruppe. »Weil wir keine Cairaner sind!« Er schwenkte sein Tröthorn wie eine Waffe.

Mailu blieb gelassen stehen. Noch war der Nuru nicht nah genug heran, um sie mit dem Tröthorn zu treffen, dafür hätte er es werfen müssen. Beruhigend hob sie die Gespürhände. »Auch nicht alle Cairaner dürfen hier herein. Es gibt ähnliche Bars und Restaurants der Nuru, in der Cairaner nicht erwünscht sind. Du erinnerst dich?«

Der Nuru starrte sie aus rotgelben Augen an. Er schien tatsächlich zu überlegen. Vielleicht irritierte ihn die Ruhe, die Mailu ausstrahlte.

»Nuru an die Macht!«, tönte es hinter ihm. »Kloknu ist ewig!«

Mailu trat einen Schritt vor. Sie ignorierte dabei vermeintlich die Nuru hinter dem Rädelsführer, doch Shenbal wusste, dass sie die Situation komplett unter Kontrolle hatte. Wenn Mailu es gewollt hätte, lägen bereits sämtliche Nuru am Boden.

Tatsächlich wich der Anführer zurück, doch nun drängte eine weibliche Nuru vor. In ihren Augen glitzerte es kalt. Shenbal erkannte an den breiten Schultern und den dicken Arm- und Beinmuskeln, dass es sich um eine Halbnuru handelte, zu deren Vorfahren zweifellos auch Skomaten zählten, extrem Umweltangepasste, die an eine deutlich höhere Schwerkraft gewohnt waren und über eine ganz erstaunliche Konstitution verfügten.

Die Halbnuru wog wahrscheinlich gut und gerne das Dreifache von Mailu. Sie wollte sich auf die Familie in der Sitzgrube stürzen, die eng aneinandergerückt war. Beide Frauen hatten sich vor dem Mann und den Kindern erhoben. Auch mit ihnen wollte Shenbal sich nicht anlegen. Wenn es um die Familie ging, konnten sie weit über das Ziel hinausschießen.

Mailu machte einen Schritt zur Seite, um der Wucht des bewegten Körpers zu entgehen, griff nach der Knorpelschädelplatte der Halbnuru, die halb ausgefahren war, und ließ die Arme sinken. Die Geste wirkte einfach, nahezu kraftlos, doch sie hatte einen verheerenden Effekt: Die Angreiferin stürzte dem stets verlässlichen Gesetz der Schwerkraft folgend mit einem überraschten Schnabelklacken zu Boden, was den Raum erzittern ließ. Geschirr klapperte. Ein zur Seite gelegter Trinkstutzen rutschte vom Tisch auf den Boden.

Mailu ging in Knie, drehte die Halbnuru einmal im Kreis, rollte sie dann auf den Bauch und packte sie erneut am biegsamen Schädelschirm. »Raus jetzt! Oder es wird unangenehm!«

»Schon gut!« Die Nuru traten den Rückweg an. Mailu ließ die vorwitzige Tröterin los, damit sie ihren Freunden nacheilen konnte. Danach setzte sie sich zurück in die Grube, als wäre nichts geschehen.

»Und?«, fragte Shenbal, der sich darin bestätigt fühlte, warum er Mailu für das anstehende, ganz besondere Treffen als Ergänzung seiner Arbeitshände haben wollte. »Wirst du mir helfen? Ich kann dir im Gegenzug Karten für das Große Spiel besorgen. Fünf Stück, wenn du willst.«

»Sieben.«

»Einverstanden.«

2.

NIKE QUINTO

 

Wir waren weit fort von den Koordinaten, an denen das Solsystem gelegen hatte. Gut 30.000 Lichtjahre trennten uns von dem Ort, der einst die Wiege der Menschheit gewesen war. Dabei bewegten wir uns in einem Bereich, der etwa so weit unterhalb der Northside lag wie M 13 darüber, allerdings in nördlicher Richtung verschoben, fast exakt entgegengesetzt zum Kugelsternhaufen Cerkol oder M 92, der wie M 13 oberhalb der Hauptebene stand.

Unser Schiff war in das Sternbild Pegasus eingetaucht, navigierte tief in M 15, in Nuruvrao, wie man jenes Gebiet seit einigen Jahrhunderten in der Milchstraße nannte. Einst hatte man den Kugelsternhaufen für einen nebelhaften Stern gehalten, doch er war weit mehr als das. Über 100.000 Sonnen verteilten sich um uns.

Direkt vor mir im Weltall lag ein Schwarzes Loch; ein Objekt dessen Masse auf ein extrem kleines Volumen reduziert war. Die Singularität mochte anderen wie ein Stück tiefster Dunkelheit erscheinen, wie ausgestanztes Sein. Für mich war sie lediglich ein weiteres Phänomen in der Unendlichkeit. Dank des Zellaktivators, der mich quasi unsterblich machte, hatte ich schon eine Menge Schwarzer Löcher gesehen.

Ich brauchte scheinbar bloß den Arm auszustrecken, um es mit der Hand zu berühren. Aber selbstredend waren wir ein gutes Stück entfernt, fast zwei Astronomische Einheiten. Demnach befanden wir uns außerhalb jenes Radius, von dem an es für die NIKE QUINTO gefährlich werden konnte. Zemina Paath hatte darum gebeten, dass wir uns gemeinsam dieses Phänomen anschauten, bevor wir uns wieder dem Tross anschlossen.

Im Holo zeigte sich das 4000 Sonnenmassen schwere Schwarze Loch wie die Pupille eines Auges, um die sich eine spiralförmige, feurige Iris wand, die sich nach einer Seite öffnete.

Warum hatte Paath mich an diesen Ort gebeten? Ich verstand den Grund der Bitte nicht. Vielleicht war es eine Gefühlsduselei, die lediglich meine Zeit verschwendete, doch da wir aufeinander angewiesen waren, hatte ich ihrem Wunsch nachgegeben. Möglicherweise hatte dieses Hinausstarren ins Alls einen Zweck, der mir unbekannt war. Die Thesan barg viele Rätsel.

Sie stand in ihrem roten Anzug mit den blauen Linien und Mustern wie ein Fanal vor der Schwärze. Der fast zwei Meter große, grazile Körper war leicht nach vorne gelehnt, als suchte sie einen besonders stabilen Stand.

»Du willst wissen, warum wir hier stehen«, stellte Paath fest.

»Das wäre hilfreich.«

»Es gibt da etwas in mir, das auf die kosmische Umgebung anspricht. Genau das ist der Grund, warum ich diese Expedition mitmache. Ich erinnere mich auf eine gewisse-ungewisse Weise an den Kugelsternhaufen Nuruvrao und die Dunkle Schwere in seiner Mitte.«

Mit der Dunklen Schwere meinte sie wahrscheinlich das Schwarze Loch, das sie derart faszinierte. »Auf eine gewisse-ungewisse Weise ...«, echote ich. »Dir ist klar, dass das zutiefst unlogisch klingt? Du solltest dich entscheiden: Ist die Weise nun gewiss oder ungewiss?«

»Ungewiss-gewiss.« Sie lächelte wie eine Terranerin, wobei sie die schmalen Brauen über den fast blendend blauen Augen anhob. Die Geste wirkte bemüht.

Falls es ein Scherz sein sollte, verstand ich ihn nicht. »An was erinnerst du dich?«

Statt zu antworten, legte sie den Mittelfinger der Dreifingerhand an den Mund. Ein metallener Hut darauf drückte sacht die Oberlippe ein. »Still! Wenn du laut redest, kannst du es nicht hören.«

»Was soll ich nicht hören können?« Ich gab mir keine Mühe, leiser zu sprechen, und fragte mich, was mit Paath los war. Sie kam mir ... emotional ... vor. Das war ein Umstand, den ich bedauerte. Mit Ratio kam ich besser zurecht als mit Emotio, bei anderen ebenso wie bei mir selbst.

Ob Paaths Veränderung an der Nähe zum Schwarzen Loch lag? Regte sich etwas in den Erinnerungen der Thesan?

Sie deutete auf das feurige, sich auflösende Auge. »Es ist wunderschön. Faszinierend. Und erschreckend.«

»Zum Erschrecken gibt es keinen Grund. Wir sind weit genug entfernt.«

»Spürst du es denn nicht? Den Ereignishorizont, dem nichts mehr entkommt ... Ich fühle, auch ich kann nicht entkommen. Ich folge meinem Weg, will zurückhaben, was mir gestohlen wurde ...«

»Deine Erinnerungen.« Ich stellte es nüchtern fest und hakte gleichzeitig nach: »Wer hat sie dir gestohlen? Waren es die Cairaner?«

Es war ein Versuch wie viele vorher. Anstoßen, provozieren ... Ich wusste, dass es eine bedeutsame Information war: Wer hatte ihr Erinnerungen und vielleicht sogar ein Gehirnfragment entfernt?

»Ja. Nein. Vielleicht. – Ich bin auch in einer Art Ereignishorizont gefangen. Kann dem nicht entkommen. In dieser Hinsicht sind die Dunkle Schwere und ich eins.«

Ich schwieg. Es war mir fremd, mich oder meine Gemütslage mit dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu vergleichen. Interessanter dagegen war das, worüber Paath und ich zu sprechen vermieden.

Paath war ein Risikofaktor.

Was, wenn sie sich erinnerte und sich herausstellte, dass sie auf der Seite der Cairaner stand, oder eine ganz und gar andere Agenda verfolgte, die sich gegen die Liga und vielleicht sogar gegen die gesamte Milchstraße richtete?

Die schlanke, grazile Thesan in dem rötlich schimmernden Anzug, unter dem sich blaue Linien wie Organe abzeichneten, verfügte über erhebliche Machtmittel: Sie hatte den Paau, eine Art Fiktivtransmitter, den nun Perry Rhodan nutzte, und sie war in einem ungewöhnlichen Raumschiff auf die RAS TSCHUBAI gekommen, dem Nashadaan.

Das Technologieniveau ihrer Ausrüstung kannte niemand von uns. Weder die Halskrause noch der Anzug hatten sich analysieren lassen. An ihn heranzukommen war schlicht unmöglich. Sie wechselte ihn nie und wollte nicht ohne ihn sein, als ob er Teil ihres Körpers wäre oder das Geschenk einer höheren Macht.

Paath blickte hinaus in die gesprenkelte Schwärze, vor der die flammenumwobene Dunkelheit lag. »Es gibt einen Mythos der Tentra-Blues. Einen Mythos mit mehreren Varianten. Sie alle drehen sich um Chiilyüpuy, die Dunkle Schwere. Einst, so heißt es, kämpften die Kinder von Tlyünos und Nosmun gegeneinander. Die Kreaturen, wie die Blues sie nennen. Drei dieser Kinder verschlug es nach M 15. Es waren die gefleckte Kreatur der Trugbilder, die violette Kreatur der Täuschung und die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme.

Ihr Kampf war erbittert, keine wollte zurückstecken, und es kämpfte jede gegen jede. Da sie sich zu vernichten drohten, schlossen die gefleckte Kreatur der Trugbilder und die violette Kreatur der Täuschung ein Bündnis. Sie erschufen einen Raum, der ein Nicht-Raum war, und in sich hineinziehen sollte, was da kam. So wollten sie die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme zum Erlöschen bringen.

Die gefleckte Kreatur der Trugbilder schuf ein Abbild ihrer selbst, um die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme ins Nichts zu locken.

Der Plan ging auf. Die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme stürzte ins Nichts, doch als sie darin war, hörte sie einen Ton. Er schwang aus der Schwärze – die Stille sang. Der Ton war bezaubernd. Er brachte die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme zum Leuchten, bis reines Licht aus ihr brach und sie den Rückweg ins Sein fand.

Sie entging Chiilyüpuy, der Dunklen Schwere. Sie war es, die die Tentra-Blues in den Zeiten der Not dorthin rief, um ihnen zu sagen: Hier könnt ihr siedeln, in der Nähe der Dunklen Schwere, denn wenn ihr sie achtet, wird sie für euch singen.

Und als der Weltenbrand tobte, kamen die Tentra-Blues. Trotz der Pulsare fanden sie Lebensraum.

In einer anderen Variante war es Tlyünos selbst, der seine Geschöpfe dazu aufrief, sich zu messen. Sie prallten aufeinander, und es entstand Chiilyüpuy.

Doch am besten gefällt mir die dritte Version. In dieser kämpfen die Kreaturen gegeneinander, und es war die magentafarbene Kreatur der ewigen Flamme, die das Schwarze Loch erschuf, um die anderen beiden zu verwirren. Sie löschte ihr Licht und schleuderte ihre Gegner in die Dunkelheit, woraufhin sie verwirrt waren und nicht mehr wussten, in welcher Galaxis sie sich aufhielten. Sie flohen und fanden diesen Ort nie wieder, weswegen er in Sicherheit war.

Es gibt viele weitere Geschichten, die sich um die Dunkle Schwere ranken. Ich habe davon gehört, es in Holos gesehen. Die Frage ist: Weshalb kann ich nicht genug davon bekommen? Warum faszinieren diese Geschichten mich?«

»Und? Weißt du es inzwischen?«

Ich empfand es als anstrengend, Paath derart lange zuzuhören. Hätte sie mir mathematische Formeln aufgesagt, wäre es spannender gewesen. Im Hintergrund suchte ich mit dem Optikum nach einer Möglichkeit, eines der Unterprogramme meiner SERUN-Spezialausrüstung zu optimieren, damit ich nicht völlig die Geduld verlor und meine Zeit mit Mythen vergeudete.

Paaths Monolog zielte in keinerlei relevante Richtung. Er dümpelte dahin wie ein Ausfluggleiter auf Lepso, besetzt von einem Haufen spaßwütiger Touristen, die nicht wussten, wohin sie sich zuerst wenden sollten.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie, falls es überhaupt eine Antwort war.

»Das ist wenig hilfreich. Um nicht zu sagen: Es bringt überhaupt nichts. Als Lordadmiral der USO habe ich viele Verpflichtungen. Ich kann meine Stunden sinnvoller verbringen als mit dem Sprechen über Ungewissheiten.«

Paath zuckte leicht zusammen. Ich fragte mich, ob ich sie mit meinen Worten getroffen hatte, schob den Gedanken jedoch gleich wieder beiseite. Er war unwichtig.

Ob es half, Paath unter Druck zu setzen? Vielleicht war es gar nicht gut, wenn sie Zeit hatte, lange zu überlegen, ehe sie sprach. Sie hatte viel vergessen, ihr Gedächtnis verloren. Wenn sie antworten musste, ohne nachdenken zu können, kamen diese Antworten womöglich aus einem Teil ihres Gehirns, auf den sie bewusst keinen Zugriff hatte.

»Da ist etwas ...«, murmelte Paath unversehens.

»Was?«, hakte ich sofort nach.

Dabei fixierte ich sie, ohne den Kopf oder den Körper zu bewegen. Die meisten Wesen machte es unruhig, wenn ich in völliger Ruhe dastand. Sie hielten den Anblick nicht lange aus, deuteten es teils sogar als Dominanzverhalten. In Wahrheit gab es schlicht keinen Anlass, sich zu bewegen.

Sie blinzelte mit den bemalten Lidern, doch sie antwortete. »Hier ... Hier hat es begonnen.«

Ein kryptischer Satz. »Begonnen? Inwiefern?«

Ihre blauen Augen waren geweitet. »Ich weiß nicht, aber es nahm genau hier seinen Anfang.«

»Konkreter!«, forderte ich. »Was ist dieses Es?«

Dieses Mal zuckte sie nicht zusammen oder klimperte mit den Lidern. Sie stand einfach da, als hätte sie mich nicht gehört, so reglos wie ihr Paau immer dagestanden hatte – als wäre sie ein Roboter und gar kein Leben in ihr. Im Gegensatz zu mir und meiner Art, still zu stehen, war sie dabei nicht außen, bei ihrer Umwelt, sondern innen bei sich. Sie hatte die Zentrale aus ihrem Bewusstsein ausgeblendet, was sich ein USO-Agent nicht leisten würde. Man konnte nie wissen, was die Umgebung brachte. Wenn man beim Träumen überrascht wurde, war das vielleicht der letzte Traum.

Ich entschied, Paath Zeit für ihre Innenschau zu geben, und prüfte die Verbindung zur RATBER TOSTAN. Dank des Linearen Fadens konnten wir uns über ein spezielles Transpondersignal im Notfall mit der TOSTAN in Verbindung setzen, auch wenn wir getarnt flogen und niemand wusste, dass wir da waren.

Auf einem zweiten Holo rief ich den Verband auf, dem sich die TOSTAN angeschlossen hatte. Das Schiff hatte von der NIKE QUINTO abgekoppelt, um als Flaggschiff von vier USO-Raumern der UMBRA-Klasse zu dienen. Auf dem Holo erschien in rötlichen Lettern der Tarnname der RATBER TOSTAN: KRISH PALONY. Der Tarnname ging –der Tradition vieler USO-Schiffe folgend – auf einen USO-Spezialisten zurück, der sich besonders verdient gemacht hatte.