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Nr. 3045

 

Mörder des Residenten

 

Attentat im Solsystem – Reginald Bull steht im Brennpunkt

 

Hubert Haensel

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Rudyn

2. Ort: unbekannt

3. Rudyn

4. Terra

5. Rudyn

6. Ferrol und Terra

7. Rudyn

8. ZAATRO II

9. Solsystem

10. Rudyn

Fanszene

Leserkontaktseite

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Die Rückkehr von seiner letzten Mission hat ihn rund 500 Jahre weiter in der Zeit katapultiert. Eine sogenannte Datensintflut hat fast alle historischen Dokumente entwertet, sodass nur noch die Speicher seines Raumschiffes RAS TSCHUBAI gesichertes Wissen enthalten.

Weil er mehr über die aktuelle Situation wissen will, ist Rhodan mit der RAS TSCHUBAI in das sogenannte Galaxien-Geviert aufgebrochen. Atlan reist in der Zwischenzeit zum Kugelsternhaufen M 13, wo er sich um seine alte Heimat kümmern möchte. Auch der Mausbiber Gucky ist unterwegs – bei den Cairanern, den eigentlichen Herrschern über die Milchstraße, sucht er Verständigung.

Reginald Bull erreicht in der Zwischenzeit ein Dossier, das ihm wertvolle Informationen aus der Vergangenheit liefert. Es geht um den MÖRDER DES RESIDENTEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Resident der Liga wird an schmerzliche Momente der Pflicht erinnert.

Ganud – Der Posbi entscheidet selbst über seine Pflichten.

Guulmen Cutthunese – Der Hyperphysiker verpflichtet sich der Zukunft seiner Kinder.

Hekéner Sharoun – Der Resident der Liga erfüllt seine Pflicht.

1.

Rudyn

25. März 2046 NGZ

 

»Reginald!«

Gucky ruft meinen Namen so durchdringend, als wollte er mich zurechtweisen. Als wäre ich im Begriff, etwas Absurdes zu tun oder gar Falsches zu berichten. Dabei kann der Mausbiber nicht einmal ahnen, wie die Dinge wirklich liegen; er war nicht dabei, als Hekéner Sharoun starb.

Irritiert kneife ich die Brauen zusammen und reagiere mit einem knappen Kopfschütteln. Einen verweisenden Seitenblick ist mir der Zwischenruf nicht wert.

Klaren Kopf bewahren, Junge, das ist wichtig im Leben!

Woher kommt plötzlich das lautlose Flüstern?

Gucky?

Nein, diese Stimme weckt andere Assoziationen. Ich habe den Eindruck, ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht zu sehen. Eine ältere Frau. Der auffrischende Wind verwirbelt ihr rotes Haar. Mit beiden Händen wischt sie sich die Strähnen aus der Stirn. Oh ja, ich entsinne mich: meine Großmutter. Mehr als diese verblasste liebevolle Erinnerung ist mir von ihr nicht geblieben. Red, glaube ich, wurde sie von allen genannt. Wie endlos lange liegt das zurück?

Unwichtig!

Reds ewige Bemühungen, ihre Frisur im Zaum zu halten, haben mich einst zur Schere greifen lassen. Mit dem Ergebnis eines ersten völlig verunstaltenden Stoppelhaarschnitts – gut ein Jahrzehnt vor meiner Rekrutenzeit bei der U.S. Air Force.

Ich spüre einen Stich im Oberkörper. Der kurze Schmerz, vielleicht auch nur Einbildung, geht vom linken Schlüsselbein aus ...

... und die vage Erinnerung verblasst. Belanglos. Ich habe das eine oder andere längst Vergessene wieder aufgewühlt, weil ich mich gestern und heute intensiv mit der Vergangenheit befasste.

Vor gut 473 Jahren starb der Ferrone Hekéner Sharoun, der erste Resident der Liga Freier Galaktiker. Er wurde ermordet, das war mir stets klar. Aber nun kann ich endlich vieles richtig einordnen und muss nicht lavieren, wenn mich Perry zum nächsten Mal danach fragt. Oder Atlan. Das Dossier des Guulmen Cutthunese, das mir von Bord der TREU & GLAUBEN übermittelt wurde, wirft ein völlig neues Licht auf das Jahr 1572 Neuer Galaktischer Zeitrechnung.

»Die Zusammenhänge ...«, sage ich, rede allerdings nicht weiter.

Eigentlich wollte ich betonen, dass die Informationen des Dossiers verblüffend sind, doch das stimmt so nicht. Aus heutiger Sicht fügt sich für mich zwar ein Puzzleteil ans andere, aber warum habe ich das nicht eher erkannt?

Ich muss einige Erinnerungen verdrängt haben. So wie ich an meine Großmutter fünfhundert Jahre nicht dachte. Wann hätte es dazu denn Gelegenheit gegeben? Und wem schadet es, die Vergangenheit ruhen zu lassen, solange die Gegenwart alle Aufmerksamkeit fordert?

»Bully!« Der Mausbiber klingt ungeduldig, sein Seufzen vorwurfsvoll. »Mag sein, dass du vierundzwanzig Stunden oder länger kein Auge zugemacht hast, aber andere Leute hatten ebenfalls einen anstrengenden Tag. Was sage ich? Nicht einen, sondern mehrere anstrengende Tage! Viele anstrengende Tage.«

»Andere Leute? Wen meinst du?«

»Mich, zum Beispiel!« Gucky entblößt seinen Nagezahn und klopft ungeduldig mit einem Finger dagegen. »Ich beschwerte mich vorhin schon, dass ich nicht wie ein Irrer hierher teleportiert bin, um mich nun auf die Folter spannen zu lassen.«

»Du hast davon gesprochen, dass du wie ein Fisch an der Angel zappelst«, berichtige ich ihn. »Von Folter war keine Rede.«

»Also, was ist mit diesem außergewöhnlichen Dossier?«, prustet Gucky. »Spin hat es dir übermittelt, nicht wahr?«

Spin – wie nicht nur Gucky Spinoza Godaby nennt – blickt mir aus dem Übertragungsholo entgegen. Das Konterfei des großen, dürren Kyberneten scheint in einer wellenförmigen Bewegung zu verwischen, doch binnen Sekunden stabilisiert sich die Hyperfunkverbindung wieder. Der Kontakt läuft über irgendeine Relaiskette, hoffentlich ausreichend geschützt. Das Barniterschiff mit dem verheißungsvollen Namen TREU & GLAUBEN steht Zehntausende Lichtjahre entfernt im Sternenmeer der Milchstraße. Spin und der TARA-Psi haben ihre Mission auf Trakarat beendet, jedenfalls mehr oder weniger ...

... aber wer garantiert, dass sie vor möglichen Verfolgerraumschiffen der Cairaner sicher wären?

Spinoza lächelt unentwegt. Zwei Meter zehn groß, nur 60 Kilogramm schwer – Red hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, von Schwindsucht gejammert und ihn mit allem vollgestopft, was dick macht.

Ich habe plötzlich einen faden Geschmack im Mund.

»Hekéner Sharoun fiel einem Anschlag zum Opfer«, sage ich. »Egal, wie viele Versionen seines Todes Posizid und Datensintflut hervorgebracht haben, der Resident wurde ermordet. Das Attentat geschah am 16. November 1572. Hekéner starb wenige Stunden danach. Was hinter seinem Tod steckt, ist überaus erschreckend.« Ich hole tief Luft. »Die Cairaner waren zu der Zeit schon in der Milchstraße aktiv, also sehr viel früher, als bisher angenommen ...«

2.

Ort: unbekannt

Datum: unbekannt

 

Jemand schreit.

Falls das irre Kreischen und Heulen, das mich aufschreckt, überhaupt als Schreien bezeichnet werden kann. Wie fremd muss mir ein Lebewesen sein, das solche Laute hervorbringt?

Ich existiere und bin wach.

Ich ...?

Meine Überlegungen sind zäh, als hätte ich Mühe, mir meiner selbst bewusst zu werden.

Was geschehen ist? Ich weiß es nicht. Alles ist so leer, so anders. Ich kann kaum darüber nachdenken, weil mich eine einzige übermächtige Empfindung beherrscht: Mitleid. Ich fühle mit der gequälten Kreatur. Sie schreit in Todesfurcht, das ist nicht zu überhören.

Sie ...?

Emotionen schlagen über mir zusammen wie eine alles erstickende Woge. Panik bricht in mir auf, Entsetzen. Ich muss mich erinnern, doch ich bringe kaum einen Gedanken zu Ende; chaotisch wirbelt alles in mir durcheinander.

Mein Herzschlag tobt. Das Blut pocht durch die Adern, als müsste es gegen die ungewohnte Schwere ankämpfen, die auf mir liegt. Ich schaffe es nicht, mich zu bewegen ...

... weil mir ein greller Schmerz fast die Besinnung raubt. Es ist, als atmete ich Feuer ein, als stünde jede Faser meines Körpers in Flammen.

Aus den kreischenden Schreien wird ein halb ersticktes, qualvolles Keuchen.

Allmählich begreife ich: War ich es, der seinen Schmerz und seine Verzweiflung derart wild hinausschrie?

Ich schaffe es nicht, die Augen zu öffnen. Trotzdem glaube ich, eine schemenhafte Kontur vor mir zu erahnen. Ein großes, schlangenähnliches Etwas, das sich mit einem Ruck aufrichtet.

Shonunu? Der Name entsteht ohne mein Zutun.

»Du wirst keine unerträglichen Schmerzen erleiden ...«, entsinne ich mich. Shonunus Versprechen war kein interstellares Staubkorn wert.

Und alles andere?

Will ich wirklich wissen, was aus mir wurde? Der Schmerz ist unerträglich, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt worden. Ich komme nicht dagegen an, lasse mich treiben und versinke wieder in Schwärze.

 

*

 

Ein anhaltendes Stöhnen holt mich ins Bewusstsein zurück.

Keineswegs so abrupt wie beim ersten Erwachen werde ich mir meiner Existenz bewusst. Diesmal geschieht es eher zögernd, als fürchtete ich mich vor mir selbst. Das ist absurd. Vor allem, weil eine bedeutende Aufgabe vor mir liegt – die Erinnerung daran gibt mir Kraft, mich besser mit den Schmerzen zu arrangieren.

Viel von dem, was der Konsul sagte, klingt in mir nach. Dass für mich nichts mehr so sein würde, wie es einmal war, dass es ein Zurück nach der Operation wohl niemals geben könne. Dennoch habe ich ohne langes Nachdenken zugestimmt. Was immer mit mir geschehen ist, wird der Geschichte bestenfalls eine Randnotiz wert sein. Welcher Vater würde nicht alles für eine freie Galaxis geben, in der seine Kinder glücklich und ungefährdet aufwachsen können?

Unsere Kinder brauchen eine Heimat. Wir alle brauchen sie.

Den medizinischen Eingriff habe ich hinter mir. Die Wundschmerzen sind weiterhin extrem, wenngleich nicht so, dass ich meine Qual erneut unbeherrscht hinausschreien müsste.

Wo bin ich?

Erinnerungen und Spekulationen vermischen sich miteinander. Das alles ist wie ein Rausch, als steckte ich beide Gespürhände in immer schnellerer Folge in die unterschiedlichsten Steuergruben. Derartige Wirbel undefinierbarer Eindrücke und Empfindungen erträgt kein Verstand auf Dauer. Ein Gefühl, als würde sich alles um mich immer rasender drehen, wird übermächtig.

Konzentration, Guulmen!, ermahne ich mich, aber ich muss gegen eine innere Unruhe ankämpfen, die ich so nicht kenne. Als läge etwas Undefinierbares in der Luft ...

Ausatmen – und dabei das leicht metallische Aroma ignorieren. Das kann nur der Nachgeschmack von Blut sein; sie haben demnach sogar meine Nase korrigiert. Wenn das schon nötig war, was außerdem? Ich versuche, mir die wichtigsten Völker dieser Galaxis ins Bewusstsein zu rufen. Viele sind humanoid, zu ihnen bestehen keine unüberbrückbaren Unterschiede.

Ich spüre in mich hinein, kann die Konzentration aber nicht länger halten. Wimmernd ziehe ich die Arme an den Oberkörper. So angespannt verharre ich eine Weile zeitlos ...

Ich atme eine leicht veränderte Atmosphäre.

Die Erkenntnis ist mit einem Mal da. Ein größerer Sauerstoffanteil würde den leichten Schwindel erklären, der mich zwingt, reglos zu bleiben.

Außerdem ist die Schwerkraft höher.

Also werde ich derzeit einer Anpassung unterzogen. Das erinnert mich an die Initiation im jugendlichen Alter. Zwei meiner Kinder wurden dem erst unterzogen, kurz nach ihrem achten Geburtsfest. Was dabei geschieht, ist ein Spiegelbild der jeweiligen Zeit.

Ich wurde einst ohne Hilfsmittel in einer Höhle ausgesetzt. Damals lernte ich, meine Gespürhände zielsicher einzusetzen. Nicht nur, um Wasser zu finden, das ich in unnatürlich heißer Umgebung dringend brauchte, sondern darüber hinaus in Felsspalten und im Untergrund verborgenes Kleingetier. Nach vier Käfern, die ich roh mit enormem Widerwillen schluckte, wollte ich lieber verhungern, als noch einmal einen Chitinpanzer zu knacken. Bis ich endlich den Rückweg fand, war ich am Ende meiner Kräfte.

Erst Jahre später erfuhr ich, dass ich niemals in Gefahr gewesen war, denn winzige Robotsonden hatten mich ständig überwacht.

Und nun?

Jede Reaktion meines Körpers wird aufgezeichnet und ausgewertet. Das gilt ebenso für die Gehirnfunktionen.

Alles ist gut, sage ich mir. Heute wie damals bin ich in der Lage, meine inneren Ängste zu besiegen.

Trotzdem schaffe ich es nicht, die Augen zu öffnen. Durch die Lider nehme ich lediglich einen fahlen hellen Schimmer wahr, aber nichts von dem, was um mich ist.

Ich hebe die Arme und will über mein Gesicht tasten, doch ich spüre nicht den Hauch einer Berührung.

Wenn es diesmal nicht klappt, dann eben bei der nächsten Anstrengung. Oder bei der übernächsten. Ich bin hartnäckig. Sturer als eine Maschine, sagt man mir nach. Kein Wunder, denn es braucht strenge Hände, dem eigenen Nachwuchs den Weg in ein sorgenfreies Leben zu weisen. Meine Frauen wissen das ebenfalls, nie hat eine von ihnen ein Beschwerdewort in den Mund genommen. Überhaupt sind meine beiden Favoritinnen auf Hovcai und Vapathor sich einig in der Bewertung, ich sei ein liebevoller Vater. Die anderen Frauen sind noch Äonen fern.

Keine weiß von meiner Aufgabe; ihnen wurde verschwiegen, wohin mich der Konsul abberufen hat.

Ein neuer greller Schmerz wischt diese Überlegungen beiseite. Endlich habe ich es geschafft, einen Arm anzuwinkeln. Die Finger der Gespürhand streifen über meinen Oberkörper – eine Empfindung, als berührte ich blankes Fleisch. Mit aller Kraft beiße ich die Zähne zusammen, um nicht noch einmal wie ein Tier aufzuschreien. Zugleich versuche ich, mich mit der Arbeitshand des anderen Armes abzustützen.

Ich finde keinen Halt. Die Arbeitshand versinkt oder knickt ein, und schon habe ich den Eindruck zu stürzen ...

Eine unergründliche Tiefe verschluckt mich.

 

*

 

Etwas ist schiefgelaufen, es kann gar nicht anders sein. Ich bin mir dessen sicher, als ich zum dritten Mal aus dem Abgrund tiefen Schlafs emporsteige. Die Schmerzen sind unverändert, ich würde sie meinem ärgsten Feind nicht wünschen – wenn ich jemals einen Feind hätte.

Trotzdem versuche ich, Ruhe zu bewahren. Überhastete Bewegungen sind tabu, weil sie die Qual nur weiter anfachen würden. Vor allem will ich nicht wieder in Bewusstlosigkeit versinken. Ich muss wach bleiben und herausfinden, was geschehen ist.

Mit jedem erzwungen ruhigen Atemzug weicht die Anspannung ein wenig. Nach einer Weile glaube ich, Geräusche zu hören. Sie kommen zweifellos von medizinischen Apparaturen, die mich überwachen.

Allerdings hätte ich erwartet, dass jemand in meiner Nähe ist, wenigstens die Shenpadri, denn der Konsul hat mich ihrer Obhut übergeben.

Ich versuche ein Räuspern, bringe aber nur ein Stöhnen hervor. Etwas zu sagen fällt mir unglaublich schwer. Mein Mund fühlt sich seltsam an – weich und lappig, einen anderen Ausdruck dafür habe ich nicht. Als hätte man mir eine aufgeschäumte Masse angeheftet. Das weiche Zeug widert mich an. Wie soll ich mit dieser Behinderung reden, geschweige denn essen oder trinken?

Lippen. Das Wort ist plötzlich präsent. So nennen Arkoniden, Aras und Terraner die weichen, üppig durchbluteten Fleischwülste ihrer Mundöffnung. Ich habe Lippen bekommen? Wie diese Wülste den verhornten Mundrand ersetzen sollen, ist mir ein Rätsel.

Immerhin wird mir klar, dass mein Aussehen dem einer humanoiden Spezies dieser Galaxis angepasst wurde.

Ich wünschte, der Konsul oder wenigstens Shonunu hätten mich vorher besser informiert, was alles mit mir geschehen soll. Dann hätte ich vielleicht abgelehnt.

Hätte ich das?

Nein. Ich gestehe mir ein, dass ich solcher Kleinigkeiten wegen niemals anders entschieden hätte. Ich gehöre zu den wenigen Cairanern, die vom Trajekt wissen. Eine solche Auszeichnung verschmäht man nicht wegen einiger Unannehmlichkeiten.

Und außerdem ... Mir wurde bewusst, was Lippen sind und dass etliche Völker der Galaxis Milchstraße diese evolutionäre Besonderheit haben. Mein Wissen scheint demnach nur verschüttet zu sein, blockiert von Hormonausschüttungen und Botenstoffen, mit denen ich auf die Schmerzattacken reagierte. Allmählich entsinne ich mich, dass der Konsul mit mir über einige bedeutende Personen sprach: über mehrere Terraner und einen Ferronen.

Sehe ich nach der Operation diesem Ferronen ähnlich? Hekéner Sharoun – der Name ist mir wieder geläufig. Von blassblauer Haut und kupferfarbenem Haar war die Rede.

Mit beiden Gespürhänden greife ich mir ins Gesicht. Diesmal habe ich meine Muskulatur besser unter Kontrolle. Die Bewegung ist jedoch zu heftig, die Finger schrammen über die Wangen und der von Neuem lodernde Schmerz lässt mich unbeherrscht aufschreien.

Weit vorsichtiger betaste ich den Verband über meinen Augen, schaffe es aber nicht, ihn zu lösen. Die Finger gehorchen mir nicht. Es wäre so einfach, jeweils mit den beiden Daumen und beiden Innenfingern jeder Hand zuzugreifen und den Verband abzuheben. Doch ich komme damit nicht zurecht, die Finger sind sich gegenseitig im Weg. Zwei weitere Versuche scheitern. Erst als ich mich nur auf einen Daumen und einen Finger konzentriere, gelingt es mir, den Verband wegzuziehen.

Geblendet schließe ich die Lider; mir ist, als sähe ich nur explodierende Sterne.

Wir Cairaner haben gelbe bis ockerfarbene Augen. Das allein wäre kein Problem und nicht der Erwähnung wert, denn bei den Galaktikern gibt es viele Farben, von Rot über Grün und Blau bis zu Schwarz. Die Auffälligkeit sind unsere waagerechten Pupillen.

»Für deine Anpassung brauchen wir Perfektion«, höre ich in Gedanken den Konsul sagen. »Das gilt nicht zuletzt für vermeintliche Kleinigkeiten: Deine Pupillen müssen gerundet werden.«

Wie zur Bestätigung der Erinnerung drücke ich die Fingerspitzen gegeneinander – die Geste will mir nicht gelingen. Ich komme mit beiden Gespürhänden nicht klar. Das gilt auch für die äußeren Hände, sie sind irgendwie taub.

Was ist mit den Arbeitshänden? Wurden sie mir etwa ... abgenommen? Die Überlegung entsetzt mich, mein Herzschlag rast. Ich werde aber schon wieder ruhiger, weil ich wahrnehme, wie sehr alle vier Hände schmerzen.

Langsam weicht die Blendung. Über mir spannt sich ein üppiger Sternenhimmel. Ich brauche nicht nach Konstellationen zu suchen, die mir bekannt sind – so lange, dass ich fremde Sternbilder erkennen könnte, befinde ich mich noch nicht in dieser Galaxis. Ohnehin handelt es sich nur um eine Projektion. Die Wiedergabe wechselt und zeigt säulenförmige Wolkenformationen, die ich als Sternentstehungsgebiet einschätze. Einige Augenblicke später erstrecken sich farbenprächtige planetare Nebel über mir.

Die Holos sollen mir die Schönheit der Milchstraße nahebringen. Und damit bestätigen, dass ich den richtigen Weg gehe.

Glaubt der Konsul, ich könnte meine Entscheidung bereuen?

Wir haben über eine Amputation gesprochen. Ich entsinne mich wieder, wenn auch vage. Selbst falls mir die äußeren Hände abgenommen wurden – sobald ich mich einmal für etwas entschieden habe, bin ich mit Leib und Seele dabei.

Auf den Unterarmen stemme ich mich in die Höhe, aber ich kann mich nicht in sitzende Haltung aufrichten, weil der angewinkelte rechte Arm abrutscht. Ich wollte mich mit der Arbeitshand abstützen, doch die Hand ist nicht da – das sehe ich in dem Moment. Zwar nur verschwommen, weil mir neuer Schmerz das Wasser in die Augen treibt, der Verband aus Bioplasma am Stumpf des Handgelenks ist jedoch eindeutig.

Ich brauche zwei weitere Versuche, bis ich endlich auf der Kante der Medoliege sitze und schwankend auf die Beine komme. Die Palette der Schmerzen hat einige neue Nuancen erhalten.

Neben der Liege schwebende Gerätschaften weichen vor mir zurück. Ich mache einen vorsichtigen Schritt, einen zweiten, und kämpfe bereits um mein Gleichgewicht. Eine enorme Schwere steckt in den Beinen. Ich blicke an mir hinab. Aber da ist nichts zu sehen außer dem knapp bis zu den Fußknöcheln reichenden Umhang. Vermutlich desinfizierendes und die Heilung förderndes Material.

Wo ich mich befinde, weiß ich nicht. Das ist jedenfalls keine cairanische Krankenstation.

Das Zimmer ist nicht übermäßig geräumig, und irgendwie erscheint mir meine Perspektive verschoben. Hat das mit der leicht erhöhten Schwerkraft zu tun? Ich bin sicher, dass die Gravitation nicht unserer Norm entspricht, doch der Eindruck, kleiner geworden zu sein, kann nichts damit zu tun haben.

»Wir Cairaner überragen die Mehrzahl der Galaktiker um bis zu drei Kopflängen«, glaube ich den Konsul wieder sagen zu hören.

Ja, wir haben uns ausführlich und lange unterhalten ... Aber nun bin ich allein, abgesehen von den zurückweichenden Maschinen und den an den Wänden stehenden Aggregaten.

Das einzige Türschott entdecke ich an die zehn Schritt von mir entfernt. Gleich daneben ist ein Teil der Wand mit Spiegelfolie überzogen. Möglicherweise handelt es sich sogar um ein spiegelndes Energiefeld, dessen bin ich mir allerdings nicht sicher.

Ein Spiegel, genau danach wollte ich mich zuallererst umsehen.

Langsam bewege ich mich darauf zu. Ich bin nicht in der Lage, größere Schritte zu gehen. Überhaupt ist das Vorankommen äußerst mühsam. Die Beine toben.

Während ich mich der Spiegelfläche nähere, zerre ich den Magnetsaum des Umhangs auseinander. Die Finger sind mir dabei fortwährend im Weg. Aber ich schaffe es.

Und dann ...

Die Augen weit aufgerissen, starre ich in den Spiegel.

Ich habe den Eindruck, einen Fremden zu sehen.

Meine Iris schimmerte in einem dunklen Ocker, nun ist sie fast hellblau gefärbt und zeigt bräunliche Einschlüsse. Und die Pupille ist – wie erwartet – unnatürlich rund.

Eine Veränderung mit technischen Hilfsmitteln?, frage ich mich. Oder wurden mir komplette Augäpfel eingesetzt?