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Michael Paul

TABUN





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Impressum

Michael Paul

 

Tabun

 

 

© 2019 Michael Paul/Bunte Hunde

 

Lektorat: Evelyn Paul, Bettina Wohlert, Catarina Bothe

Korrektorat: Barbara Schlegge, Ev Tschentschel

Continuity: Evelyn Paul

Umschlaggestaltung: Birte Lämmle

Textsatz: Dr. Katrin Scheiding

 

Verlag: BUNTE HUNDE

ISBN: 987-3-947081-03-5

 

Website des Verlags: www.bunte-hunde.de

Website des Autors: www.michael-paul.eu

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nachtionalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Bibliografie und ist im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Er ruft spielt süßer den Tod

der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen

dann steigt ihr als Rauch in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken

Da liegt man nicht eng

 

 

 

 

»Todesfuge«

von

Paul Celan

(1920–1970)

 

 

Prolog – 27. Februar


Vergnügt sprang Melanie die Stufen der »Himmelsleiter« hinab. Die steile, breite Holztreppe überwand den Höhenunterschied von der Wilhelmstraße hinunter zum Strand.

»Komm schon!«, rief sie lachend.

Ihr Mann Florian war auf halber Höhe stehen geblieben und hatte ihr nachgesehen. Freudentränen liefen ihm über die Wangen. Es tat so gut, Melanie wieder glücklich zu sehen. Eine harte Zeit lag hinter ihnen. Die Angst um seine Frau hatte ihn nach der Krebsdiagnose fast wahnsinnig werden lassen. Doch die Behandlung hatte schnell angeschlagen und zwei Wochen vor Weihnachten hatte die Klinik Melanie mit einer positiven Prognose entlassen. Sie waren noch nicht sicher, aber voller Hoffnung.

»Ja, Schatz, ich komme!«, rief er und ging los. Er ließ seinen Blick über die Selliner Seebrücke schweifen, dieses herrliche, auf Pfählen vor dem Strand stehende, weiße Gebäude. Sein Blick folgte dem langen Steg, der über das Wasser zum Haus führte und sich auf der Rückseite hinaus bis zum Schiffsanleger zog. Florian krempelte den Kragen seiner warmen Outdoorjacke hoch und zog den Reißverschluss zu. In der letzten Nacht war ein Sturm über die See gezogen, hatte das Meer aufgewühlt und eine Menge Treibgut an den Strand gespült. Rügen war für sie Ende Januar am schönsten; das Wetter rau, der Wind kalt, die See unruhig. Aber vor allem war Rügen dann leer, kaum Touristen, keine Busse, nicht überlaufen wie in den Sommermonaten. Sie brauchten weder Hitze in der Sonne, noch Traumstrände und bunte Cocktails unter Palmen. Sie liebten schon immer den Norden mehr als den Süden. In ihren ersten gemeinsamen Jahren während des Studiums waren sie oft mit seinem alten VW-Bus durch Schweden gereist und hatten an den einsamsten Orten gecampt. An den Abenden zu Hause, als Melanie in der Klinik gewesen war, hatte er oft in den Fotoalben aus diesen glücklichen Tagen geblättert.


In dem Hotel oberhalb der Seebrücke, am Ende der Wilhelmstraße, der Prachtstraße des Ostseebads, hatten Melanies Eltern für sie ein Zimmer gebucht. Der Gutschein hatte unter dem Weihnachtsbaum gelegen. »Eine Woche Rügen, nur ihr zwei, Zeit nur für Euch! Die Kinder kommen so lange zu uns. Wir lieben Euch! Mama und Papa.« Lena und Lisa, ihre fünfjährigen Zwillinge, fuhren immer gerne zu Oma und Opa. Das war eine wertvolle Hilfe für Florian gewesen, als Melanie in die Klinik musste und er überfordert war mit den Kindern, dem Haushalt und seinem Job als freier Werbegrafiker. In dieser Zeit hatte sich alles nur um Melanie gedreht. Sie musste einfach leben, durfte ihn nicht alleine lassen mit den Mädchen.


»Komm, lass uns da hinten auf das gestreifte Kanapee in der Ecke sitzen!«, sagte sie, ergriff seine Hand und zog ihn in das gemütliche, im Stil der Zwanzigerjahre eingerichtete Café hinein. Das Duftgemisch aus Kaffee, Tee, Kuchen und Kerzen wirkte gemütlich und einladend. Vom Restaurant im anderen Flügel des Gebäudes drang durch den Verbindungsgang leise Klaviermusik herüber. Melanie setzte sich auf das weiche Sofa, der unerträgliche Ballast der letzten Monate schien von ihr abgefallen zu sein. Sie bestellten Kaffee und Kuchen und schmiedeten Pläne für das noch junge Jahr. Wohin sie im Sommer in den Urlaub fahren würden, welche Fahrräder sie für die Mädchen kaufen und wann sie in Garmisch seine Eltern besuchen wollten, über ihre Rückkehr in ihren Job als Bibliothekarin und den neuen, großen Auftrag für ihn. Es fühlte sich großartig an, endlich wieder hoffnungsvoll in die Zukunft schauen zu können.


Eine Stunde später gingen sie am Strand spazieren, einem der schönsten auf Rügen. In kleinen Wellen plätscherte das eiskalte Wasser immer wieder nahe an ihre Schuhe heran. Melanie sprang dann mit einem kurzen Kreischen davon, um sich im nächsten Moment erneut bei Florian unterzuhaken. Von Sellin liefen sie nach Süden, rund sechs Kilometer bis Göhren. Unweit des Strandes dort war der Endbahnhof des ›Rasenden Rolands‹, der historischen Schmalspurbahn mit ihren schwarzen, schnaufenden Dampflokomotiven und den alten grünen Wagen der Holzbankklasse. Mit dem romantischen Zug konnte man zurück nach Sellin fahren und, wenn man wollte, über Binz bis Putbus.


»Schau!«, rief Florian plötzlich aufgeregt und bückte sich, als Melanie gerade wieder vor einer heranrollenden Welle geflohen war. Er hob einen braunen Stein in der Größe einer Haselnuss aus dem abfließenden Wasser auf und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch gegen die Sonne.

»Sieh nur, ich habe einen Schatz gefunden, einen Bernstein in Herzform!«

Melanie betrachtete begeistert das ungewöhnliche Fundstück. Es schimmerte braun und warm in der Nachmittagssonne.

»Wenn das kein Zeichen ist«, sagte sie liebevoll und stupste ihren Mann mit dem Zeigefinger auf die Nase.

»Daraus lasse ich dir einen Anhänger machen«, sagte er und befreite den Stein vom Sand, in dem er ihn fest und schnell zwischen seinen Handflächen hin und her rollte. Dann steckte er den Stein in seine Hosentasche und küsste sie auf die Stirn. Glücklich schlenderten sie weiter.

»Hast du gesehen, dass der Weg dort oben entlang des Wäldchens ›Bernsteinpromenade‹ heißt?«, fragte Florian.

»Klugscheißer«, lachte Melanie. »Echt jetzt?«

»Ja, wenn ich es dir doch sage!« Er schmunzelte. Zufällig hatte er den Namen auf einem Schild gelesen. Sie legte ihre Arme um ihn, ihren Kopf an seine Schulter. Langsam schlenderten sie den Strand entlang, nur begleitet von leise plätschernden Wellen und schreienden Möwen, die sich im blauen Himmel über dem Wasser gegenseitig jagten. Ein rot-weißes kleines Warnschild hatten sie nicht weiter beachtet.


In Göhren angekommen stand der Zug bereits schnaufend und qualmend im Kopfbahnhof zur Abfahrt bereit. Aus dem alten Gelenkwasserkran lief zischend Wasser in den Kessel der Lokomotive. Florian kam vom Schalter mit zwei kleinen Pappkarten als Fahrscheine zurück.

»Hinten bekommen wir nicht so viel Qualm ab, hat der Schaffner gesagt. Außerdem will ich hinten raus auf die Plattform, ein paar Fotos machen.«

Die Dampfheizung hatte das Abteil vollkommen überhitzt, sodass sie ihre Jacken ausgezogen hatten und er die Abteiltür aufhielt, um etwas Frischluft hereinzulassen. Um diese Jahreszeit war es nicht ungewöhnlich, dass nur wenig Fahrgäste den Zug nutzten und sie sogar diesmal die einzigen Fahrgäste waren. Kurz darauf setzte sich der Zug mit einem lauten Pfeifen in Bewegung.

Die schmalen Gleise führten durch ein Waldstück entlang der Straße. Die Sonne zauberte ein besonderes Licht- und Schattenspiel durch die kahlen Bäume in die Qualmwolke der alten Dampflok. Florian nahm seinen Fotoapparat und trat hinaus auf die offene Plattform am Zugende.

»Halt dich gut fest, Schatz!«, rief sie ihm hinterher. »Ich brauche dich noch!«

Er lächelte und zog die Tür zu. Dann hauchte er ihr durch die Glasscheibe der Waggontür einen Kuss zu.

Melanie lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe. Die frische Luft, der herrliche Strandspaziergang und nun die Hitze in dem Abteil machten sie müde.

Die Augen waren ihr nur für einen kurzen Moment zugefallen, als sie von einem lauten Geräusch hochschreckte.

»Flo?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort. Sie sprang auf und zog die Schiebetür auf. Die Plattform war leer. Als sie aufsah, entdeckte sie auf den Gleisen hinter dem Zug ein gleißendes, helles Feuer. Ihr Mann war nirgends zu sehen. Der Zug fuhr langsam weiter. Offenbar war er mit irgendetwas kollidiert, was dann im Funkenflug Feuer gefangen hatte, erklärte sich Melanie das, was sie sah. Sie drehte den Kopf und sah durch die Glasscheiben der Türen zwischen den Waggons hindurch bis zur Lokomotive, aber sie konnte Florian nicht entdecken. Irgendetwas stimmte hier nicht, sie hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Er war nicht mehr im Zug! Wie konnte das sein?

»Halt! Halt! Anhalten!« Doch es war niemand da, der ihre nun panischen Rufe hörte. »Flo? Verdammt noch mal, wo bist du?«, schrie sie, als sie den roten Hebel der Notbremse erblickte und kräftig daran zog. Der Zug kam mit kreischenden Bremsen und blockierenden Rädern zum Stehen. Melanie riss, ohne genau zu wissen, warum, den kleinen Feuerlöscher aus der Halterung, sprang vom Wagen herab und rannte auf den Gleisen zurück.



7. April – Samstag, noch acht Tage


Nervös hob Elias Bechstein seinen Koffer vom Gepäckband und zog ihn hinter sich her in Richtung Ausgang. Zwischen dem Anruf seiner Tante in New York mitten in der Nacht und der Landung in Hamburg lagen gerade einmal zwölf Stunden, ein unruhiger Flug über den Atlantik und einige Stunden nervösen Schlafs in einem vollen Flieger. Am Abend zuvor hatte er noch in ›Sam’s Jazz and Soul‹ in der 44. Straße gespielt. Er schaltete sein Handy wieder ein. Sofort piepte es und zeigte ihm den Erhalt einer SMS an.

»Treffe dich in der Bar im Terminal 1!«

»Tante Sarah«, murmelte Elias, zog die Augenbrauen hoch und schob sich durch die Menschen, die wartend auf die Schiebetüren blickten.

Prof. Dr. Dr. Sarah Kohn war eine der führenden Historikerinnen, weltweit ausgezeichnet mit namhaften Preisen, Bestsellerautorin, lange Jahre in der Leitung des Simon-Wiesenthal-Zentrums und stellvertretende Direktorin in Yad Va-shem. Sie hätte es nicht notwendig gehabt, mit Mitte siebzig noch zu arbeiten, aber es war ihr ein großes Anliegen, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten. Sie reiste immer noch sehr viel um die Welt. In ihren beiden kleinen, eleganten Wohnungen in Berlin und Jerusalem war sie nur selten. Stattdessen hielt sie Vorträge, dozierte an den besten Universitäten der Welt als Gastprofessorin, nahm an Kongressen teil, leitete Forschungsprojekte und beriet Politiker vieler Nationen. Das letzte Mal, dass er sie getroffen hatte, war in New York vor etwas mehr als einem Jahr gewesen. Sie hatte damals vor der UN gesprochen und sich dann mit ihm zum Lunch verabredet. Er hatte sich gewundert, dass sie sich damals die Zeit genommen hatte, denn eigentlich war sie immer auf dem Sprung. Umso mehr hatte es ihn erstaunt, dass seine Tante, die einzige, die ihm als Familienangehörige geblieben war, ihn jetzt treffen wollte.

Vor ihm trödelte eine Familie mit drei kreischenden Kindern. Ein Koffer fiel vom Gepäckwagen, platzte auf und ein Berg zerknäulter Wäsche verteilte sich über den Fußboden.

»Verdammt«, fluchte er genervt und müde. Er wäre jetzt sicher nicht hier, wenn er gewusst hätte, wovon er die nächste Miete für sein schäbiges kleines Appartement hätte bezahlen können. Er hatte auch immer noch keine Ahnung, was er hier sollte, aber dem von Tante Sarah avisierten Honorar »für einen kleinen Gefallen, ein paar Tage nur«, wie sie sich ausgedrückt hatte, hatte er bei ihrem Anruf mitten in der Nacht nichts entgegenzusetzen gehabt.


»Elias! Hier!«, hallte es durch die Bar und Elias entdeckte seine Tante, die ihm zuwinkte, an einem der hinteren Tische, während sie gleichzeitig mit der anderen Hand auf ihrem Handy herumtippte. Elias ging zu ihr hinüber. Neben ihrem Stuhl stand ein großer Koffer und am ausgefahrenen Griff war eine kleine Laptoptasche befestigt. Ihre Designerhandtasche hatte sie neben ihrem Stuhl abgestellt.

»Woody, that’s fine. Please send me all these documents by mail. Elias has arrived. I will call you from Buenos Aires tomorrow.«

Sie legte das Smartphone auf den Tisch und kam ihm entgegen.

»Elias! Wie schön, dich wiederzusehen!« Bevor er etwas sagen konnte, umarmte sie ihn und drückte ihn lange und fest. Ihr großer goldener Ohrring drückte sich schmerzhaft in seine Wange.

»Wie geht es dir? Komm, setz dich! Herr Ober, einen Cappuccino für meinen Neffen, bitte!«, rief sie dem Mann hinter dem Tresen zu, bevor Elias überhaupt etwas sagen konnte.

»Ja, Cappuccino, gerne. Mir geht es gut«, stotterte Elias, wie jedes Mal von ihrer unglaublichen Energie überfahren.

»Gut?« Sie sah ihn zweifelnd an. »Heißt das, du tingelst nicht mehr durch die heruntergekommenen Jazzkeller New Yorks und träumst von der großen Karriere? Ist es das, was du mit ›gut‹ meinst?«

Elias zuckte mit den Schultern und sah sich um.

»Junge, Junge! Du musst endlich damit aufhören. Du kannst nicht ewig weglaufen. Das alles macht deinen Vater nicht wieder lebendig. Mach dein Studium doch fertig! Du weißt, dass er es niemals zugelassen hätte, dass du dein Leben vergeudest. Mein Bruder würde platzen vor Stolz, wenn du deinen Abschluss in der Tasche hättest. Auch wenn du schon vierunddreißig bist. Es ist noch nicht zu spät.« Sie zeigte mit dem Finger in Richtung Decke. »Du wärst so ein großartiger Archäologe und ich kann dir so viele Türen öffnen. Verschenke das doch nicht!« Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Du weißt, ich meine es nur gut.« Ihm war klar, dass er sich wieder eine Standpauke würde anhören müssen, aber dieses ›Ich meine es nur gut‹ machte ihn richtig wütend. Trotzdem hielt er sich auch dieses Mal wieder zurück und sagte nichts, denn gleichzeitig freute er sich, seine Tante wiederzusehen. Als er nichts sagte, seufzte sie und fuhr fort:

»Ich leite neben meinen anderen Aktivitäten eine Stiftung mit dem Namen ›ad lucem‹.«

»Licht ins Dunkel bringen?«

Elias sah sie fragend an.

»Ja, genau das versuchen wir. Zusammen mit Dr. Zimmermann aus Berlin und Woody, einem Freund und Anwalt aus New York überprüfen wir Vorfälle, bei denen vermutet werden darf, dass Justitia versagt, Polizei und Politik nicht genauer hinschauen oder irgendwelche, meist wirtschaftliche Interessen eine ordentliche Ermittlung verhindern. Mehr musst du zum jetzigen Zeitpunkt erst mal nicht wissen. Wir wollen nicht an die Öffentlichkeit geraten.« Elias sah sie erwartungsvoll an. »Da, wo Ermittler, Staatsanwälte oder Richter auf einem Auge blind sind, insbesondere auf dem rechten oder gar beide Augen zudrücken, obwohl großes Unrecht geschieht, schauen wir genauer hin und denen auf die Finger.«

»Du …«, Elias stotterte verunsichert, »du sprichst aber nicht von Selbstjustiz, oder? Ich soll nicht irgendjemanden killen, den ein Richter unberechtigterweise freigesprochen hat?«

Sarah Kohn lachte. »Du siehst definitiv zu viele Krimis! Nein, natürlich sollst du niemanden umbringen. Wir sorgen nur dafür, dass nichts vertuscht wird und die verantwortlichen Täter ihre gerechte Strafe bekommen. Vor Gericht, versteht sich«, ergänzte sie schnell, damit erst gar keine Zweifel aufkommen konnten. Schließlich kannte sie Elias’ Vorliebe für Detektiv- und Spionagefilme. Die Liebe zu den Krimiserien der 70er- und 80er-Jahre hatte Elias quasi von seinem Vater geerbt. Der war damals das, was man heute einen ›Serienjunkie‹ nennt. Vielleicht auch aus Melancholie oder in Gedanken an die glückliche Zeit mit seinem Vater liebte er diese Serien.

»Okay, hört sich spannend an. Und was soll ausgerechnet ich dabei tun? Ich bin nicht ›Rockford, Anruf genügt‹, ich bin Musiker!«

»Das bist du ganz sicher nicht, Elias. Du bist Archäologe, mein Junge, ein schlauer Kopf. Und ich kann dir blind vertrauen. Und nur darauf kommt es dabei an! Vertrau mir.«

Er hasste dieses ›vertrau mir‹. Genauso hätte sie ›Ende der Diskussion!‹ sagen können.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Oh Gott, schon so spät? Elias, ich muss sofort los, mein Boarding schließt in ein paar Minuten. Ich bin die nächsten drei Wochen in Argentinien.« Elias sah sie verdutzt an, während seine Tante ihre Sachen zusammenräumte und aufsprang. Sie zog einen großen, braunen Umschlag aus der Tasche und legte diesen vor ihn auf den Tisch.

»Hier drin findest du noch einige Informationen. Ich hätte Dir gerne alles erklärt, aber ich muss los. Besprich alles Weitere mit Katharina. Sie weiß Bescheid.« Sie nahm ihre Handtasche auf, umarmte ihren Neffen kurz, drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange und lief, ihren Koffer hinter sich herziehend, eilig davon, noch bevor Elias irgendetwas sagen konnte. Er hob kurz die Hand, als er sah, dass sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, bevor sie um die Ecke bog und aus seinem Sichtfeld verschwand. Dann setzte er sich wieder an den Tisch, nippte an dem mittlerweile kalt gewordenen Cappuccino und öffnete den geheimnisvollen Umschlag.

Als Erstes fiel ein Autoschlüssel mit einem ledernen Mini Cooper-Anhänger heraus. Sie kannte seine Vorliebe für den kleinen, flotten Flitzer, auch wenn sie wegen der Bequemlichkeit beim Einsteigen lange mit einem SUV geliebäugelt hatte.

»Tante Sarah, dafür darfst du mir auch beim nächsten Mal wieder auf die Nerven gehen«, schmunzelte er, während er den restlichen Inhalt aus dem Umschlag zog. Es waren nur wenige Blätter. Er las die Bestätigung einer Zimmerreservierung. Das Hotel ›Hegenbarths Strandresidenz‹ lag am Ortsrand des an der Ostküste Rügens gelegenen Binz, fünf Sterne, Meeresblick. Das Zimmer war für sieben Tage reserviert, mit Verlängerungsoption. Elias legte das Papier zur Seite. Dann war da nur noch eine handschriftliche Notiz seiner Tante.

»Katharina König triffst du im Hotel! Sie erwartet dich dort. Ihr zwei werdet ein tolles Team sein. Liebe Grüße, Tante Sarah. PS: Das Geld ist überwiesen!«

Elias sah verwirrt auf den Zettel. »Das ist alles?« Er blätterte die Papiere noch einmal durch und überprüfte auch den Umschlag, aber da war nichts weiter. »Binz? Rügen, was soll ich da, Tante? Wer ist diese Katharina Sowieso, und worum zum Teufel geht es?«, murmelte er vor sich hin und ließ sich enttäuscht in den Stuhl sinken. Die Unterlagen in der Hand schaute er sich um, so als ob er irgendwo im Raum die Antwort auf seine Fragen finden könnte. Und dann fiel ihm Ethan Hunt ein. Schnell legte er die Papiere auf den Tisch, weil er sich vorstellte, dass, wie in einem seiner Lieblingsfilme, gleich Rauch aufsteigen und sich die Nachricht nach fünf Sekunden selbst vernichten würde. Kurz schmunzelte er über sich selbst. Schließlich las er noch einmal die letzten Worte ihrer Notiz.

»… ist überwiesen!«

»Also gut, Tante Sarah, auf nach Binz!« Er bezahlte, steckte den Umschlag mit den Papieren in das Außenfach seines Koffers und nahm den Autoschlüssel.


Katharinas Handy summte.

»Max?«

»Katharina! Wie geht es dir?«

»Danke, mir geht es gut. Nachdem ich länger nichts von dir gehört habe, nehme ich an, dass deine aktuelle Freundin dich auf Trab hält, oder?«, spottete sie.

»Ach, lass das. Das haben wir doch wirklich hinter uns. In der Firma ist gerade die Hölle los.« Schon immer nannte Max das BKA ›die Firma‹.

»Dieser verdammte ESF-Gipfel hier in Köln geht in zwei Tagen los und hier drehen alle komplett durch. Dreißig Regierungschefs, über 250 Top-Manager, Nobelpreisträger, Schauspieler, Musiker, Sportler und was weiß ich nicht, wer noch alles. Ich wollte einfach nur wissen, wie es dir geht.« Das ESF – „European Society Forum“ war das erste große Forum dieser Art, bei dem sich gleichzeitig die Eliten aus allen Bereichen der Gesellschaft trafen, getrennt und interdisziplinär diskutierten, über die wichtigen Fragen der Gesellschaft und ihrer Zukunft.

»Entschuldige bitte.« Katharina holte tief Luft. »Mir geht es wirklich gut. Ich sitze gerade im Wintergarten meines Hotels am Strand von Binz und genieße einen Tequila Sunrise.« Sie übertrieb, denn vor ihr stand eine Tasse Tee.

»Auf Rügen?«, fragte Max König überrascht. »Das ist eine gute Idee. Am besten bleibst du dort, bis der ganze Rummel hier in der Stadt vorbei ist. In der gelben Zone zu wohnen macht wirklich keinen Spaß. Nach dem Gottesdienst am Sonntag reisen alle wieder ab, dann kehrt hoffentlich schnell wieder Normalität ein. Bis dahin ist die Kölner Innenstadt vom Messegelände über die Hohenzollernbrücke und rund um den Dom eine Festung, der absolute Wahnsinn. Da geht nichts rein, nichts raus. Die Altstadt unten am Rhein ist gesperrt, da fließt seit Tagen kein einziger Liter Kölsch mehr. Kannst du dir das vorstellen, in Köln?«

Katharina antwortete nicht. Sie wollte es sich selbst nicht eingestehen, aber es tat ihr noch immer gut, Max’ Stimme zu hören. Dann fühlte sie sich für einen kurzen Moment in die Zeit zurückversetzt, als sie noch eine ganz normale Familie waren. Vor diesem einen Tag, diesem einen verdammten Tag.

»Was machst du auf Rügen?«

Sie wich seiner Frage aus und lenkte ab. »Erinnerst du dich? Wir waren mal zusammen hier, als Anna noch klein war, noch kein Jahr alt, glaube ich, damals, mit unserem alten Campingbus.«

»Oh, ja, wie Anna am Strand mit dem Gesicht vornüber in den Sand gekippt ist, weil du mir unbedingt zeigen wolltest, wie gut sie schon alleine sitzen kann. Es war eine schöne Zeit.«

Beide schwelgten kurz in ihrer Erinnerung. Auf der einen Seite tat es Katharina gut, sich in glückliche Zeiten zurückzuversetzen, aber gleichzeitig schmerzte es sie ungemein, denn das würde nie wiederkommen.

»Das ist lange her, Max.« Kurz überlegte sie, ihn auch dieses Mal wieder nach Anna zu fragen, aber er würde ihr wieder die gleiche Antwort geben wie jedes Mal. Dass ihre Tochter Zeit brauchte, sie sie nicht anrufen solle, sie Geduld haben müsse und so weiter und so weiter. Sie wusste, dass er damit wahrscheinlich auch recht hatte, aber diese große Sehnsucht quälte sie so sehr. Sie durfte nichts riskieren, musste Anna die Zeit lassen, die sie brauchte, um über alles hinwegzukommen. Und gleichzeitig durfte sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass Anna ihr irgendwann verzeihen und sie ihre Tochter wieder in die Arme schließen würde.

»Es kommt mir auch schon ewig vor, aber du weichst mir aus. Was machst du auf Rügen?«

»Ich habe hier zu tun, nur ein paar Tage.«

»Sie hat dich angerufen?« Max war überrascht.

»Wer?«

»Ach komm schon! Die Professorin!«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ich sie gebeten habe, sich die Sache in Göhren genauer anzusehen! Und jetzt bis du auf Rügen. Du willst mir doch nicht erzählen, dass das Zufall ist«, antwortete Max.

»Du?« Jetzt war es an Katharina, überrascht zu sein. »Du hast das angeleiert?«

»Ja, ich wäre gerne selbst nach Göhren gefahren und hätte dort ermittelt, aber sie lassen mich nicht. Es heißt, wegen des ESF brauchen sie jeden Mann in Köln. Aber ich bin sicher, die Sache auf Rügen stinkt zum Himmel. Sie verkaufen es als Unfall, weil sie genau wissen, dass die Proteste in Stralsund und auf Rügen gegen den Pipelinebau eskalieren und diesen am Ende gar in Gefahr bringen. Da steckt massenhaft Geld drin. Es gibt massive Drohungen von radikalen Ökoaktivisten und linken Extremisten. Ich befürchte, die unterschätzen das komplett, denn da geht es nicht um ein paar fliegende Pflastersteine. Die Demos sind schon jetzt ziemlich heftig und wenn unsere Informationen stimmen, sind bereits kriminelle Aktivisten aus Russland und der Ukraine im Land, um die Proteste zu befeuern. Die wollen mit allen Mitteln den Bau der neuen Pipeline verhindern und schrecken vor nichts zurück. Stell dir nur vor, das in Göhren war kein Unfall, sondern Mord, gezielt und sozusagen als erste Warnung. Ich kann nicht verstehen, warum das hier niemanden zu interessieren scheint. Alle schauen weg, dabei sieht das doch ein Blinder.«

»Na, dann bin ich doch die perfekte Besetzung. Ich werde es mir ansehen.« Katharina schmunzelte. »Aber wen meinst du mit ›sie‹? Wer will die Ermittlungen verhindern?«

»Die Pipeline ist ein Milliardenprojekt, ein Politikum, das von ganz oben geschützt wird, aus Berlin und Moskau. Aber da mischen noch ein paar andere mit. Und du kannst mir glauben, wenn was von ›ganz oben‹ kommt, ist immer was faul.«

»Hm, stimmt«, bestätigte Katharina.

»Ich weiß nicht. Meinst du, du bist der Sache gewachsen?« Max wollte ihr nicht zu nahe treten, aber dass er daran seine Zweifel hatte, war unüberhörbar.

»Keine Panik, ich bekomme einen Aufpasser, der mir das Händchen halten soll und darauf achtet, dass ich nicht hinfalle oder mich vollsabbere. Elias ist der Neffe der Professorin.« Katharina konnte ihren Sarkasmus nur schwer verstecken.

»Hm, wenn sie das meint. Ich weiß, dass du eine grandiose Ermittlerin bist, aber ... ich mache mir halt Sorgen«, lenkte Max ein und ergänzte »Sie wird wissen, warum sie dich damit beauftragt. Vielleicht ist das sogar ein genialer Schachzug.«

»Ja, wenn sie meint«, wiederholte Katharina leise.

»Komm schon, du weißt, wie ich das meine.«

»Schon gut, ich möchte nicht streiten. Hast du noch weitere Infos für mich?«


Als Elias eine halbe Stunde später Hamburg hinter sich gelassen hatte und auf die A 20 abbog, lichtete sich der starke Verkehr.

»Noch 2:56 Stunden bis zum Ziel«, zeigte ihm das Navi an. Er wechselte von einem zum anderen Radiosender. Bei keinem lief aber seine bevorzugte Jazzmusik. Aber immerhin »Your latest Trick« von den Dire Straits. Beim Trompetenintro drehte er voll auf. Kurz vor Stralsund kam die bis dahin reibungslose Fahrt in einem Stau zum Halten. Das Navigationssystem informierte ihn plötzlich über eine Sperrung vor der Rügenbrücke. Schon während der Fahrt war im Radio immer wieder über die gewalttätigen Demonstrationen und die heftige Randale in Stralsund berichtet worden. Die Polizei hatte seit einigen Tagen mit Personen- und Fahrzeugkontrollen Stralsund und Rügen hermetisch abgeriegelt. Niemand sollte unbemerkt und nicht registriert die Insel betreten oder verlassen können. Hierfür wurden alle Personen kontrolliert und erfasst. Elias befragte das Navi nach einer alternativen Route. Obwohl das Gerät nicht alle Straßensperren kennen konnte, empfahl es ihm nun den Weg über den alten Damm. So nahm er die nächste Ausfahrt. Doch kaum hatte er die Abfahrt genommen, verhinderten Absperrungen den Weg, den das Gerät ihm vorgab. Vollkommen verwirrt hängte sich der Rechner des Systems kurz darauf auf, plapperte unentwegt „Bitte wenden! Bitte wenden!“ und zeigte sich wild drehende Straßenkarten an. Elias fummelte an dem nun nervenden Gerät herum und schaltete es ab. Dabei fiel ihm nicht auf, dass er an einer Absperrung vorbei ausgerechnet in Richtung Innenstadt abgebogen war. Schon bald bekam er Zweifel, ob das tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, eine Abkürzung zu suchen. Wenden war durch den erhöhten Grünstreifen in der Mitte der Straße nicht möglich. Schon bald bewegte er sich mit dem kleinen Wagen nur noch im Schritttempo wie ein Fremdkörper zwischen immer mehr Demonstranten, die mit Transparenten in Richtung Altstadt zogen. Er reckte sich, um zwischen der Menschenmenge um ihn herum nach einem Ausweg, einer Abzweigung zu suchen. Immer wieder schlugen Demonstranten auf das Autodach. Wenn er stehen blieb, begannen sie an dem Wagen zu rütteln. Langsam stieg in Elias Panik auf.

„Auf dem alten Marktplatz und am Hafen gibt es derzeit heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Wasserwerfer sind im Einsatz“, berichtete der Reporter passend dazu im Radio. Von brennenden Autos und geplünderten Geschäften wurde berichtet und dass über der Innenstadt mehrere schwarze Rauchsäulen aufstiegen. Die Szenerie sei gespenstisch. Elias sah nach oben, konnte aber keine Rauchsäulen entdecken und redete sich ein, dass das ein gutes Zeichen sei. Am Straßenrand lief eine Gruppe schwarz vermummter Personen und brüllte aggressive Parolen. Polizisten in schwerer Schutzkleidung standen an den Kreuzungen, beobachteten aber nur passiv das Geschehen. Offenbar wollte man jede Art von Provokation vermeiden, die zum sofortigen Ausbruch von weiterer Gewalt führen würde. Über die Frage, warum die Polizei ihn mit dem Wagen nicht herausholte, konnte er in dem Moment nicht nachdenken, war zu sehr damit beschäftigt, nicht stehen zu bleiben und gleichzeitig niemanden zu überfahren. Von hinten näherten sich zwei Feuerwehrwagen mit Martinshorn und rasten an der Menge vorbei. Er entdeckte rechts eine Seitenstraße. Doch diese zu erreichen war unmöglich, denn die nächsten Abzweigungen waren alle bereits mit Menschen verstopft. So trieb es ihn unweigerlich im Schritttempo immer weiter rein ins Chaos der Stadt. Er sah in den Rückspiegel. Er war umzingelt von Demonstranten, weit und breit war kein anderes Auto zu sehen.

»Ich muss anhalten!«, sagte er sich. Vorbeilaufende Demonstranten schlugen erneut auf das Wagendach, pöbelten ihn an. Ein Schlag traf seine Tür und er zuckte zusammen. Panik beschrieb seinen emotionalen Zustand nun absolut treffend.

»Das ist ein echter Albtraum!«, dachte er und krallte sich am Lenkrad fest. Langsam rollte er Richtung Straßenrand und hielt an, ließ den Motor aber laufen.

Eine Gruppe Vermummter kam aus einer Hofeinfahrt direkt auf ihn zugerannt. Manche hatten Knüppel, einer einen brennenden Molotowcocktail, den er hinter sich in eine Gruppe heranstürmender Polizisten warf. Elias duckte sich instinktiv und kniff die Augen zusammen. Immer wieder schlug jemand gegen sein Auto und jedes Mal zuckte er zusammen, als plötzlich die Beifahrertür seines Autos aufgerissen wurde und sich jemand auf den Sitz warf.

»Fahr! Fahr! Los, weg hier! Gib Gas!«, schrie eine aufgeregte Frauenstimme und schlug die Autotür zu. Er konnte gar nicht so schnell reagieren, wie seine Beifahrerin mit ihrem Springerstiefel auf seinen rechten Fuß trat und damit das Gaspedal komplett durchdrückte. Der Motor heulte auf. Vor Schreck rutschte sein anderer Fuß von der Kupplung, sodass das Auto mit einem Satz vorwärts schoss. Elias schrie auf und riss das Lenkrad herum, um nicht mitten in die Gruppe Polizisten zu rasen, dann trat er heftig auf die Bremse. Der Wagen schleuderte und Elias konnte den Wagen nur mit Mühe wenden, ohne irgendwo anzuschlagen. Die Räder quietschten, als er in den zweiten Gang schaltete, während seine Beifahrerin erneut mit voller Wucht auf seinen Fuß und damit auf das Gaspedal trat.

»Runter von meinem Fuß! Sofort!«, schrie Elias und wagte nicht, den Blick von der Straße zu nehmen. Die Demonstranten sprangen fluchend und drohend nach rechts und links, um dem rasenden Auto auszuweichen. Wie durch ein Wunder wurde niemand überfahren und es bildete sich eine Gasse, durch die Elias raste, bis die Straße wieder völlig frei war. Dann bremste er abrupt und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Sein Herz pochte bis zur Schädeldecke und er war schweißgebadet.

»Bist du verrückt?«, schrie er voller Wut, während er sich seiner ungebetenen Passagierin zuwandte.

»Nein, ganz im Gegenteil.«

Elias blickte entgeistert in die großen dunklen Augen einer wunderschönen jungen Frau. Ihre dunkelbraunen Haare waren halblang und ein bisschen zerzaust. Sie trug eine dunkelgraue Fliegerjacke und Bluejeans über den klobigen Stiefeln. Ihre Sprache hatte einen leicht osteuropäischen Einschlag. Sein Fuß schmerzte heftig, jetzt wusste er, warum die Dinger Springerstiefel heißen. Er hatte das Gefühl, ein Elefant wäre auf seinen Fuß gesprungen. Völlig perplex über ihre Antwort und ihren Anblick saß er sprachlos da und schnappte nach Luft.

Sie zeigte nach vorne durch die Windschutzscheibe.

»Es wäre sehr vernünftig, wenn wir jetzt hier verschwinden würden. Fahr los!«, sagte sie völlig ruhig, als wären sie zu einem gemütlichen Sonntagsausflug unterwegs.

»Wir?« Nun brach es aus Elias heraus. »Wir? Es gibt kein ›wir‹! Ist das klar? Raus aus meinem Wagen!« Er beugte sich über sie und wollte den Türgriff der Beifahrertür ziehen, kippte bei dem Versuch aber vornüber und mit dem Gesicht direkt in ihren Schoß. Ihre Hand fuhr durch seine Haare.

»Nur nicht so stürmisch«, lachte sie. »Nimm mich einfach noch ein kleines Stück mit und dann bist du mich wieder los«, reagierte sie völlig ruhig auf seinen Ausbruch.

Elias rappelte sich wieder auf und sah sie direkt an. Sie gefiel ihm. Wenn die Umstände nicht so außergewöhnlich gewesen wären, hätte er sie jetzt vielleicht zu einem Kaffee eingeladen. Sie sah atemberaubend aus, ihre Augen funkelten und ihr voller Mund lud buchstäblich zum Küssen ein. Elias schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie kam er nur jetzt auf so einen absurden Gedanken?

»Wie heißt du?«, fragte er sie, während er den ersten Gang einlegte und wieder anfuhr. Er wartete nicht auf eine Antwort. »Worum geht es da?« Er nickte mit dem Kopf über die Schulter in Richtung Altstadt.

»Um die scheiß Pipeline! Die Bonzen stopfen sich zuerst mit dem Bau und dann mit dem Betrieb die Taschen voll. Die Menschen und die Umwelt gehen dabei vor die Hunde«, erklärte sie.

»Aber Erdgas ist doch umweltfreundlich, dachte ich«, warf Elias naiv ein. Er hatte von dem Projekt zwar einmal irgendwo etwas aufgeschnappt, sich aber nicht wirklich dafür interessiert. Er erinnerte sich an ein Zeitungsbild mit Schröder und Putin, die sich vor vielen Jahren zufrieden die Hände schüttelten.

»Fossiler Brennstoff ist nie umweltfreundlich. Hier geht es nur um das große Geld. Und beim Bau wird die Ostsee durchpflügt. Da kommt die ganze Scheiße wieder hoch, die da unten liegt. Es wird viele Tote geben. Und keiner sagt die Wahrheit, sie lügen alle an. Und deshalb sind sie so gefährlich.«

Elias verstand nicht, wovon sie da redete, und schon gar nicht die Zusammenhänge. Das kam ihm eher ziemlich wirr vor.

»Sie? Von wem sprichst du?«

»Die Regierungen, die Konzerne, die Bonzen und Oligarchen! Ein Menschenleben zählt in deren Welt nichts!«

Elias erschienen ihre Ansichten sehr radikal, soweit er das aus den paar Sätzen schließen konnte. Aber sie brannte offensichtlich für ihren Widerstand, war voller Leidenschaft für ihre Sache. Das faszinierte ihn auf wundersame Weise. Er war nie so rebellisch gewesen, nie mutig oder leidenschaftlich für eine Sache eingetreten. Er war stets lieber jedem Streit aus dem Weg gegangen, hatte sich noch nicht einmal für ein Mädchen auf dem Schulhof geprügelt.

Er bog rechts ab in Richtung Fähre und reihte sich am Ende der wartenden Autoschlange ein. Weiter vorne sahen sie Polizisten, die von Wagen zu Wagen gingen, die Papiere kontrollierten und sich den Kofferraum öffnen ließen.

»Zeit für mich, zu verschwinden«, sagte sie, öffnete die Tür und stieg aus. Sie beugte sich noch einmal kurz in das Fahrzeug.

»Sascha – ich bin Sascha.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke fürs Mitnehmen, mach’s gut.« Bevor Elias reagieren konnte, war sie zwischen den wartenden Autos verschwunden. Kurz darauf konnte er auf die Fähre fahren und übersetzen. Die merkwürdige Begegnung mit der jungen Frau ging ihm noch in Gedanken nach, während er das Navi wieder einschaltete, dass ihn nach Binz zum Hotel leiten sollte.


Im Wintergarten des Hotels waren nur wenige Plätze belegt. Katharina schrak zusammen. Sie war offensichtlich in ihrem Liegestuhl eingenickt, nachdem ihre Verabredung nicht pünktlich gekommen war.

»Frau König?«, wiederholte die Stimme vorsichtig. »Ich bin Elias Bechstein. Wir sind verabredet.«

Seine Stimme klang jünger, als sie erwartet hatte. Allerdings hatte Sarah Kohn ihr auch nicht sehr viel über ihren Neffen mitgeteilt. Schnell richtete Katharina sich auf und streckte ihm ihre Hand zur Begrüßung entgegen, die er ergriff und kurz, aber kräftig drückte.

»Ja, ich bin Katharina König. Schön, dass Sie endlich da sind. Sie sind reichlich spät«, begrüßte sie ihn freundlich, aber mit einem leichten Vorwurf und ergänzte: »Ich mag es nicht, wenn man Termine nicht einhält.« Sie drehte ihren Kopf wieder zurück und blickte hinaus aufs Meer.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Elias. »In Stralsund herrschte Chaos wegen der Demos, da war kein Durchkommen und ich hatte leider keine Handy-Nummer von Ihnen.« Ja, er war zu spät, aber so schlimm war das auch nicht, dachte er. Ihre kühle Art irritierte ihn. Es trat ein kurzer Moment peinlicher Stille ein.

Beide blickten hinaus, wo sich die Dämmerung über dem Meer ausbreitete. In der Ferne sah man die Lichter einiger vorbeifahrender Schiffe.

»Eine wunderschöne Aussicht hier«, versuchte Elias verunsichert, die Konversation in Gang zu bringen. Die Frau schien ihm seine Verspätung wirklich übel zu nehmen, denn sie machte keine Anstalten, ein Gespräch mit ihm zu führen, wirkte irgendwie abwesend, so als würde sie ihn gar nicht wahrnehmen.

»Ja, sehr schön«, bestätigte sie nach einiger Zeit. Der Liegestuhl knarzte leise, als Elias sich setzte. Er winkte die Bedienung zu sich und bestellte einen Cappuccino. Er sah Katharina prüfend an, ob sie auch noch etwas bestellen wollte, aber sie reagierte nicht. Also nickte er der wartenden Kellnerin dankend zu und wandte sich erneut Katharina zu. Er musterte sie unauffällig.

Katharina spürte seinen prüfenden Blick. Es war merkwürdig, er sagte gar nichts, oder wusste er es wirklich nicht, hatte seine Tante ihm nichts gesagt? Katharina wollte erst einmal abwarten und sehen, ob ihr die Professorin nicht tatsächlich nur einen Aufpasser geschickt hatte. Sie hatte ihr erzählt, dass er ein guter Historiker sei, da hatte Katharina aber noch so ihre Zweifel. Sie hatte gelernt, bei fremden Menschen vorsichtig zu sein.


Elias fand Katharina König ausgesprochen attraktiv, er schätzte sie auf Ende vierzig. Ihre schlanke Statur kam durch die modische Jeans und den schwarzen, eng anliegenden Rollkragenpullover gut zur Geltung. Ihr schönes Gesicht mit den grünen Augen wurde von schulterlangen dunkelbraunen Haaren umrahmt. Ihre nackten Füße wirkten gepflegt und die Fußnägel waren im gleichen Rot wie die Fingernägel lackiert.

Sie hatte seine Musterung wohl bemerkt, denn sie hatte nicht weiter gesprochen. Schnell wandte er den Blick von ihr ab und blickte wieder in Richtung Strand. Die freundliche Bedienung brachte seinen Cappuccino und unterbrach damit die peinliche Stille. »Das Hotel ist wirklich schön«, versuchte Elias, erneut Smalltalk zu betreiben.

»Ja, bestimmt«, antwortete Katharina.

»Frau König …«, begann Elias.

»Bitte sagen Sie Katharina zu mir,« unterbrach sie ihn.

»Gerne«, antwortete er, »ich heiße Elias.«

»Ich weiß.«

Sie lächelte zum ersten Mal.

»Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin oder was ich hier soll. Meine Tante mochte es schon immer gerne geheimnisvoll«, setzte er erneut an. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich muss schnellstmöglich wieder zurück nach New York. Ich habe dort ein großes Engagement in Aussicht. Ich bin Musiker – Modern Jazz« ergänzte er noch.

»Jazzmusiker?« Sie lächelte erneut und Elias musste feststellen, dass ihr das ausgesprochen gut stand. »Was spielen Sie?«

»Saxofon und Klarinette«, antworte Elias stolz.

»Schön. Das liebe ich. Kennen Sie in Köln Papa Joe’s ›Em Streckstrump‹? Eine kultige Jazzkneipe in der Altstadt unten am Rhein. Dort sollten Sie mal spielen. Das würde ich gerne hören.«

Elias entspannte sich etwas. Wer Jazz mochte, konnte doch gar nicht so schlimm sein. Vielleicht hatten sie einfach einen etwas unglücklichen Anfang.

In seiner Hosentasche brummte leise sein Handy. Er zog es heraus und sah auf dem Display eine amerikanische Nummer.

»Oh, da muss ich kurz ran, bitte entschuldigen Sie.« Elias stand auf und ging ein paar Schritte Richtung Fenster, um ungestört telefonieren zu können.

»Hi, Sam, how are you?« Im Hintergrund hörte Elias die Musik und die typische Geräuschkulisse des Jazzclubs, in dem er so gerne wieder spielen würde. Sam kam gleich zur Sache und bot ihm ein Engagement an, weil einer seiner Musiker ausgefallen war. Ausgerechnet jetzt kam dieses tolle Angebot. Enttäuscht antwortete er »I’m sorry. I’m in Germany for a couple of days. A family thing. I guess, I’ll be back next week.«

Schließlich verabschiedete er sich: »Yes, too bad. I’ll call you, when I am back in New York. Take care. Bye.«

Elias steckte sein Mobiltelefon in seine Hosentasche und drehte sich zu Katharina um, die ebenfalls telefonierte.

»Anna? Ja, Schatz. Hör mir bitte zu! Wir müssen … Ja, Schatz … Entschuldige … Wir müssen …« Diese Anna schien ganz schön sauer zu sein. Er konnte zwar nichts verstehen, aber sie ließ Katharina überhaupt nicht zu Wort kommen und schrie nur. Das konnte er aus der Entfernung hören. Plötzlich war es still in der Leitung. »Leg nicht auf! Anna? Anna?« Mit einem Seufzer ließ Katharina das Handy in ihren Schoß fallen.

Sie lächelte gezwungen, nahm ihre Teetasse und trank einen Schluck. Mit zittrigen Händen tastete sie dann nach der Untertasse und stellte ihre Tasse darauf ab.

»Ihre Tochter?« Elias kam langsam zu ihr zurück. Er konnte nicht ahnen, dass er damit einen wunden Punkt berührte. Katharina wandte ihm den Kopf zu und antwortete leise: »Ja, meine Tochter. Es ist …«, sie machte eine Pause, »… schwierig zwischen uns.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.

»Wann sind Sie angereist?«, wechselte Elias das Thema.

»Gestern schon. Mit dem Zug aus Köln«, antwortete Katharina.

»Köln? Da ist doch gerade dieser Gipfel, dieses ESF? Ich habe davon in den Zeitungen gelesen. Da sind Sie sicher froh gewesen, aus der Stadt raus zu kommen, oder?«

»Ja. Am Hauptbahnhof war die Hölle los. Überall Polizei, Absperrungen und Hindernisse, die man nicht kennt. Das war nicht einfach.«

»Hindernisse, die man nicht kennt?«, wunderte sich Elias in Gedanken. Was war das nur für eine merkwürdige Frau?

»Der Gipfel dauert bis Sonntag. Der russische Präsident ist wohl von Anfang an dabei. Ich habe gelesen, dass sogar der amerikanische Präsident am Sonntagmorgen zum Gottesdienst kommt. Er ist gerade in Asien und unterbricht den Rückflug, um wenigstens dann dabei zu sein. Das wird ein Theater«, fasste Elias kurz zusammen, was er am Flughafen in Hamburg auf den Titelblättern der Zeitungen gesehen hatte.

»Meine Wohnung liegt am neuen Hafen, hinter den Kranhäusern. Das ist die ›gelbe Zone‹. Schon seit zwei Wochen wird man dauernd kontrolliert. Ich bin froh, wenn am Sonntagnachmittag der ganze Spuk wieder vorbei ist und endlich wieder Normalität einkehrt«, erklärte ihm Katharina.

Sie zog einen großen Umschlag aus einem Rucksack, der neben ihrem Liegestuhl stand. Dabei stieß sie fast die Teekanne um. Schnell ergriff er das Kuvert und nahm es ihr aus der Hand.

»Sicher sind Sie müde von der langen Reise. Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Hier drin finden Sie ein Dossier zu unserem, hm, nennen wir es ›Auftrag‹. Schauen Sie sich das bitte an. Wir treffen uns morgen früh um halb neun zum Frühstück. Bitte seien Sie pünktlich.«

Elias schaute auf den Umschlag und musste wieder an Ethan Hunt denken. Ein belustigtes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Er wandte sich ab, weil er verhindern wollte, dass Katharina es sah und verabschiedete sich.

»Selbstverständlich, dieses Mal werden mir wohl keine wildgewordenen Aktivisten im Weg stehen. Wir sehen uns morgen früh.« Er drehte sich um und ging zum Aufzug.


Auf dem Weg ließ er dieses merkwürdige Treffen Revue passieren. Ja, er war müde und vielleicht hatte er nicht alles richtig mitbekommen, aber hier stimmte irgendetwas nicht.

In seinem Zimmer angekommen, nahm er ein Bier aus der Minibar und trank einen Schluck. Dann zog er sich aus und ging unter die Dusche. Nur das Handtuch um die Hüften gewickelt ließ er sich hinterher auf das weiche Bett fallen und öffnete den Umschlag. Während des Lesens genehmigte er sich noch ein weiteres Bier. Es war ihm immer noch ein Rätsel, warum seine Tante ihn hatte kommen lassen. Er blickte auf seine Uhr. Tante Sarah war wohl noch im Flieger irgendwo über Land, vermutete er und tippte eine Nachricht in sein Handy:

»Bin gut auf Rügen angekommen.«

Die Antwort kam tatsächlich prompt. Ihn wunderte nicht, dass seine Tante das Handyverbot im Flugzeug missachtete, solange sie nicht über dem Atlantik war.

»Katharina getroffen?«

»Ja. Was soll ich hier?«

»Dossier gelesen?« Sie überging seine Frage.

»Ja« Elias erhoffte sich weitere Informationen, aber es kam nur noch ein kurzer Gruß.

»Viel Erfolg!«


Es war zum Verrücktwerden. Von seiner Tante würde er keine weiteren Erklärungen bekommen. Das war schon immer so. Früher als Kind fand er das lustig. Heute konnte er darüber nicht lachen. Sam hatte ihm ein Engagement angeboten, das sein Durchbruch hätte sein können. Stattdessen lag er hier herum und wusste nicht, was sie von ihm wollte. Genervt warf er sein Telefon auf den Nachttisch und nahm sich noch einmal die Unterlagen zur Hand.

Zuerst war da ein kopierter Zeitungsartikel über einen mysteriösen Unfall vier Wochen zuvor in der Nähe von Göhren, südlich von Binz. Ein Familienvater war bei einer Zugfahrt auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen. Elias überflog kurz den Artikel und blätterte weiter. Auf dem zweiten Blatt war eine Kurzmeldung kopiert, die dazu vor drei Tagen im Rügener Kurier erschienen war. Die Ermittlungen zu dem tragischen Unglücksfall waren eingestellt worden. Laut dem Abschlussbericht der Polizei und der kriminaltechnischen Untersuchungen hatte sich die Kleidung des Mannes durch einen Stromschlag an einem defekten Kabel entzündet. Er sei beim Sturz vom fahrenden Zug umgekommen, bevor sein Leichnam bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sei.

»Gruselig!«, dachte Elias und blätterte weiter. Auf der nächsten Seite fand er eine ausgedruckte E-Mail. Absender und Empfänger waren geschwärzt.

Zuerst brennt ein Mensch,

dann erstickt die ganze Welt!

Sagen Sie der Bevölkerung endlich die Wahrheit!

Stoppt den Pipelinebau! Sofort!

Sonst wird es geschehen!


Als Nächstes hielt er eine Hochglanzbroschüre der »Ostwind AG« in Händen, einen Prospekt über die Gaspipeline durch die Ostsee. Dazu gab es diverse Zeitungsartikel zu den seit Wochen andauernden Demonstrationen gegen das Projekt und weitere Artikel mit Informationen zu den politischen und wirtschaftlichen Fakten der Pipeline.

Mit dem über zehn Jahre alten Spiegel-Artikel über Giftgasmunition aus dem Zweiten Weltkrieg in der Nord- und Ostsee wusste Elias in dem Moment noch nichts anzufangen.

»Der Unfall auf der Bimmelbahn, diese E-Mail, Pipeline, Munitionsschrott«, murmelte er vor sich hin. Noch konnte er keinen Zusammenhang erkennen. Dann fiel ihm wieder ein, was diese Sascha gesagt hatte. »Da kommt die ganze Scheiße wieder hoch.«

Ob sie bei den gewalttätigen Aktionen dabei gewesen war? Würde so eine Frau Pflastersteine oder Molotows auf Polizisten werfen? An ihrer leidenschaftlichen Entschlossenheit hatte er keine Zweifel. Irgendwie beneidete er sie um diese Eigenschaft. Elias sammelte die Unterlagen zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Dann nahm er sein Laptop und googelte »Katharina König Köln.«

»Oh, mein Gott, ich Idiot!«, sagte er und schlug sich mit der Hand auf die Stirn.