Cover

Kurzbeschreibung:

Ein leeres Haus.
Ein alter Anrufbeantworter.
Du bist allein. Zögerst.
Aber deine Neugier siegt.
Und das Tonband läuft an... 

Jemand trägt dir ein Rätsel auf. Du musst Antworten finden, und zwar schnell. Du schaffst es nicht? Dann wird Emilia sterben. So einfach ist das Spiel. Du kennst Emilia nicht, aber glaub mir: Du willst nicht, dass sie stirbt. Ganz sicher nicht. 

Du hast keine Wahl.
Deine Zeit läuft.
Das Tonband endet.
Und das Grauen beginnt.


Über die Autorin:

Christine Herwig wurde 1988 in Wolfenbüttel geboren. Als sie im Alter von sechs Jahren erstmals gefragt wurde, womit sie Geld verdienen wolle, wenn sie mal groß sei, lautete ihre Antwort: »Ich möchte Bücher schreiben!«
Diesen Traum gab sie nie auf, auch nicht, während sie Abitur machte, Pädagogik studierte und schließlich begann, als Gestalterin in einem Möbelhaus zu arbeiten. Wenn sie nicht mit Pferd oder Fahrrad in der Natur unterwegs ist, verbringt sie ihre Freizeit am liebsten in ihrer großen Wohnküche – lesend oder schreibend.

Christine Herwig

Scherbenklang

Psychothriller


Edel Elements

»Wenn Ihnen jemand etwas erzählt, wer es auch sein mag, selbst wenn ich es bin, fragen Sie sich immer:

Warum sollte ich das glauben?«

Prof. Dr. Werner Greve, Dozent für Psychologie an der Universität Hildesheim, in einer Vorlesung zu seinen Studenten

Prolog

Es war kein schöner Morgen.

Er wirkte lichtlos. Müde. Und grau.

Nicht nebelverhangen, wild und märchenhaft grau. Einfach trist. Die Sonne ging auf, ohne sich zu zeigen. Die Nacht wurde hell hinter blassen, dichten Wolken und ging ohne jegliche Schönheit in den Tag über. Man bemerkte den Wechsel nicht einmal. Plötzlich war er geschehen – und schlichtweg unbedeutend in seinem bleichen Kleid. Er wirkte nass – ohne Regen; klamm und gleichgültig.

Es war ein Morgen, an dem Krähen, nicht Singvögel, über die Straßen spazierten.

Es war der Morgen, an dem sie aufwachte und beschloss, es zu beenden.

1

Die Frau an der Rezeption sah ein weiteres Mal hinauf zu der vergilbten Wanduhr. Die Stunden seit dem Anruf flossen dahin wie zähflüssiger Teer. Hatte sich die Anruferin vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt?

Rita Meinthal schüttelte kaum merklich den Kopf und hob abschätzig die Augenbrauen. Ihr Job war sicher auf Lebenszeit, so viel stand fest. Wahnsinnige Menschen und Gesunde, die sich für Kranke hielten und darüber ebenfalls wahnsinnig wurden, würde es wohl immer geben.

Klack. Wieder hatte sich der Zeiger einen Minutenstrich weiter nach vorne geschleppt. Einen Zentimeter näher heran an das Ende ihrer Schicht. Nur noch siebzehn weitere musste der schwarze Balken hinter sich lassen, dann konnte es Rita egal sein, ob die Anruferin sie auf den Arm genommen hatte. Dann hatte sie Urlaub. Drei himmlische Wochen würde sie mit ihrer Tochter auf den Malediven verbringen. Und sie konnte schon spüren, wie die Sonne, die Entspannung und das glasklare Meer die Hände nach ihr ausstreckten und sie ganz behutsam zu sich hinüberzogen. Hinaus aus dem Lärm und all den Abstrusitäten, die eine psychiatrische Anstalt so mit sich brachte.

Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken hörte sie Wilhelm Sager irgendwo am Ende des Flurs seinen Standardsatz brüllen: »Hitler ist nicht tot! Hitler. Kann. Nicht. Sterben!«

Eine ihrer Kolleginnen versuchte, beruhigende Floskeln murmelnd, ihn von einer vollkommenen Eskalation abzuhalten, doch es schien bereits zu spät.

Ein anderer Patient hatte sich von dem emotionalen Ausbruch anstecken lassen. Etwas zerbarst scheppernd auf dem Boden, und jemand schrie: »Nein! Nein! Sag das Wort nicht! Nichts reimt sich darauf! Nichts reimt sich auf Hitler! Nichts! Neinneinneinneinnein!«

Rita verdrehte die Augen. Hätte man ihn doch bloß in der Geschlossenen gelassen. Sie erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl hinter dem Informationsschalter und versuchte, ihre Nackenverspannungen ein wenig zu lösen. Vergeblich. Mühsam lehnte sie sich über den Schreibtisch nach vorn und schob ihren Kopf durch das Schiebeglasfenster hinaus auf den Gang. Aus Verantwortungsgefühl. Aus Sensationsgier. Wer wusste das schon so genau? Fakt war, dass sie es tat und sich besser fühlte, als sie feststellte, dass ihre junge Kollegin die Lage im Griff zu haben schien.

Mit einem Seufzen ließ sie sich zurück auf den Bürostuhl fallen und sah ein weiteres Mal hinauf zu der Plastikuhr. Noch dreizehn Minuten.

Herr im Himmel. Hab Erbarmen!

Irgendetwas stimmte doch nicht mit dieser verfluchten Uhr.

Rita beschloss, schon einmal ihre Sachen zusammenzupacken. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr würde sie sich ausstempeln und das Gebäude verlassen. Keine Sekunde später.

Umständlich zog sie ihre Tupperdose aus dem winzigen Mitarbeiterkühlschrank, stopfte sie in ihre Handtasche, rollte mit dem Stuhl ans andere Ende der kleinen, halb verglasten Kabine und bückte sich mühsam nach ihren Alltagsschuhen, die sie in wenigen Minuten gegen ihre lästigen Plastik-Clogs eintauschen würde.

»Frau Meinthal!«

Der Ruf kam so unerwartet und schrill, dass Rita reflexartig den Kopf hochriss und mit dem Hinterkopf schmerzhaft an eine Ecke des Schreibtisches krachte. Fluchend richtete sie sich auf und sah vor dem Rezeptionshäuschen die aufgelöste Praktikantin mit weit aufgerissenen Augen stehen.

»Was?«, blaffte sie unwirsch. Noch neun Minuten!

»Der Anruf, von dem Sie mir erzählt haben … «

»Ja?«

»Ich … ich glaube, sie ist da.«

*

Rita hatte mittlerweile ein Auge für Menschen wie sie entwickelt.

Selbst, wenn es nicht kurz vor zehn Uhr abends gewesen wäre. Selbst wenn der Vorgarten der Klinik nicht menschenleer und verlassen, sondern voll von ruhiggestellten, besonnen Patienten und betont fröhlichen Besuchern gewesen wäre. Und selbst wenn die junge Frau nicht das übergroße, halb zerrissene Telefonbuch umklammert hätte, als wäre es der wertvollste Schatz der Welt – Rita hätte sie erkannt. Überall. Hätte erkannt, dass diese Frau nicht einfach nur dastand und wartete oder nachdachte. Sie hätte erkannt, dass ihr später Gast gerade in diesem Moment, genau hier, psychisch zerbrach.

Rita schluckte kurz und taxierte die junge Frau mit einem prüfenden Blick. Fast schon meinte sie, das feine Geräusch einer zersplitternden Psyche, einer platzenden Seele in ihren Ohren zu hören. Ein leises, helles Knirschen. Ein Klang ähnlich dem zweier raugebrochener Glaskanten, die sich gegenläufig aneinander verschieben.

Kristallscherbenklar.

Rita näherte sich der jungen Frau langsam, aber mit sicheren Schritten um einige Meter. Ihr Gegenüber starrte blicklos in ihre Richtung. Einzig ihre Augenlider flackerten.

Paralysiert. Passiv-verwirrt. Labil. Ungefährlich.

Rita war nur noch eine Armlänge von der Frau mit den strähnigen, schwarzen Haaren entfernt. Deren Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen waren eingefallen und knochenblass.

»Willkommen, meine Liebe«, sagte Rita schließlich mit ihrer weichsten, gedämpftesten Stimme. »Wir haben Sie erwartet.«

2

Eine Woche zuvor

Helen starrte bereits einige Sekunden fassungslos auf den dunkelgrauen Apparat vor ihren Füßen.

Sie konnte beim besten Willen nicht glauben, dass das wirklich passiert war. So etwas gab es nur in Filmen. Noch dazu in denen, die sie normalerweise nicht ansah, weil sie sie für witzlos, überzogen und durchgehend talentfrei besetzt hielt. Im realen Leben waren solche Dinge schlichtweg unmöglich. Erst recht an einem sonnendurchfluteten Feiertag irgendwo auf dem Land. Darum waren sie doch hierhergezogen, verdammt! Nur deshalb!

Einatmen. Ausatmen. Und wieder einatmen …

Ein Hustenkrampf schüttelte ihren zierlichen Körper und holte sie endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück.

Wütend gab sie dem Staubsauger einen Tritt. Er schepperte ein letztes Mal, und Helen riss entnervt die Haustür auf. Sie brauchte frische Luft.

Dieses gottverdammte Scheißding! Fast hundertfünfzig Euro hatte sie dafür gezahlt. Hundertfünfzig Euro für nicht viel mehr als eine mittelschlechte Showeinlage.

Immerhin habe ich jetzt den Dreck aus allen drei Stockwerken im Hausflur kompakt vereint. Sie versuchte es zwar mit einer ironischen Sichtweise, doch das entsprach nicht ihrem Naturell. Nicht, nachdem sie drei Stunden lang Möbel geschoben, auf Leitern gestiegen und auf Knien herumgerutscht war.

Helen atmete geräuschvoll aus. Ihr neuer, hochmodern aussehender Staubsauger war tatsächlich explodiert. Ohne jede Vorwarnung. Direkt neben ihr. Es hatte einen ohrenbetäubenden Knall gegeben, einen Kurzschluss, der Funken geschlagen hatte, gefolgt von einer nachtschwarzen Wolke aus Ruß und Dreck. Die hatte Helen innerhalb einer Sekunde von oben bis unten dunkelgrau eingefärbt.

Energisch klopfte Helen vor der Haustür ihre Stoffhose ab. Wölkchen für Wölkchen verabschiedete sich der Jahrhundertstaub aus ihrer Kleidung und verzog sich schließlich unsichtbar zerstreut irgendwo in den Himmel über den blühenden Vorgärten.

Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Die warme Sonne tat gut nach all den Stunden in den zugestellten, dunklen Räumen.

Immerhin passe ich jetzt optisch zu dem Haus, dachte Helen griesgrämig. Abgeblätterte Außenfarbe, ein Vorgarten voller knochiger, vertrockneter Büsche und Unkraut, ein staubiger, verwirrter Hausgeist auf der Treppe.

Vielleicht würde sie irgendwann mal darüber lachen können. Später. Heute Abend. Wenn sie Jan davon am Telefon erzählte. Ja, mit Sicherheit. Denn Jan würde sich so lange über sie lustig machen, bis sie sich auch nicht mehr gegen ein Lächeln wehren konnte.

So lief es immer zwischen ihnen.

Helen passierte ein Unglück, und sie ärgerte sich furchtbar darüber. Fluchte und war sich sicher, dass so etwas wieder mal nur ihr passieren konnte. Dann kam Jan, hörte sich die Geschichte an und verfiel in sein übliches Gelächter. Zog sie auf und neckte sie so lange, bis sie sich selbst nicht mehr für voll nehmen konnte.

Helen lächelte unwillkürlich in sich hinein. Jan ist einfach das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte.

Ob er schon im Hotel angekommen war?

Helen wischte ihre Hand noch einmal grob an ihrer Shorts ab, griff in ihre rechte Hosentasche und zog ihr Handy heraus. Eine Nachricht hatte er ihr noch nicht geschrieben, doch das musste nichts heißen. Seine Dienstreisen waren immer stressig.

Gerade hatte sie den Entschluss gefasst, es wenigstens mit einem Anruf zu versuchen, als auf ihrem Display der Hinweis »Akku schwach, noch 5% verbleibend« auftauchte.

Oh nein! Helen kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht. In welchen der gefühlt eintausend Umzugskartons hatte sie noch gleich das Ladegerät gesteckt? Sie stöhnte und ließ resigniert die Arme hängen. Okay, das ist aussichtlos. Sie hätte sich einfach an Jans Rat halten sollen, ein System befolgen und Kisten strukturiert einräumen müssen – hatte sie aber nicht. Mindestens die Hälfte der Kartons war unbeschriftet und wahllos auf die leer stehenden Zimmer im ersten Obergeschoss verteilt.

In Anbetracht dessen waren ihre Erfolgsaussichten vermutlich größer, wenn sie das neunzigjährige Ehepaar von gegenüber fragte, ob es zufällig ein iPhone-Ladekabel zu verleihen hätte.

Einen Moment lang verharrte Helen noch vor der Treppe. Starrte unschlüssig auf das in wenigen Minuten nutzlos werdende Smartphone in ihrer Hand und fühlte ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen. Die zweite Nacht im neuen Haus. Weit ab von allem, was sie kannte. Draußen, auf dem Land. Wo die Nächte deutlich dunkler waren als in der Stadt und die Geräusche ganz anders. Allein und ohne Handy. Sollte sie doch das verdammte Kabel suchen gehen? Es war erst sechzehn Uhr. Sie hatte noch einige Stunden, bis sie müde werden würde.

Ach, jetzt mach dich doch nicht lächerlich! Trotz explodierender Staubsauger ist das hier die Realität und keine Hollywoodproduktion. Was soll dir passieren, wenn du die Tür abschließt? Glaubst du ernsthaft, dass gerade euer Haus den Eindruck von unendlichen Reichtümern erweckt?

Helen zog eine Grimasse und ließ das Handy wieder in ihre Hosentasche gleiten. Sie würde die Nacht überleben. Heute hatten alle Läden schon geschlossen. Aber morgen würde sie vor der Arbeit irgendwo ein zweites Kabel kaufen. So einfach war das.

Zurück im Hausflur stellte sie sich schließlich dem Unumgänglichen: der Beseitigung eines Staub-Ruß-Gemisches, das wie wetterfeste Farbe an der Wand haftete. Helen würde mehr brauchen als einen Besen, um dieses Problem halbwegs in den Griff zu bekommen.

Eine Kiste mit Reinigungsmitteln und Lappen fand sie im ersten Stock, doch nach Eimern oder größeren Töpfen suchte sie vergebens. Fast hatte sie beschlossen, sich doch durch die Kartonberge zu wühlen, als ihr der alte Dachboden in den Sinn kam, der noch nicht ausgeräumt worden war.

Vor einigen Wochen, als sie mit Jan das erste Mal ihr zukünftiges Heim besucht hatte, hatten sie zwei Stunden dort oben verbracht und begeistert wie kleine Kinder auf Schatzsuche in den alten Boxen und Truhen gestöbert.

Zwischen willkürlich zwischengelagerten und über die Jahre vergessenen Habseligkeiten, die alte Leute gern aufbewahrten, hatten sie auch ein paar wirkliche Schmuckstücke gefunden. Einen alten Schaukelstuhl – zugedeckt mit abgenutzten Laken – hatte Jan sofort mit ins Erdgeschoss nehmen und ins Wohnzimmer stellen müssen. Er liebte alte Möbel und Gegenstände mit Charme und Geschichte und hatte es schon damals kaum erwarten können, nach ihrem Einzug Meter für Meter auf dem Dachboden zu erkunden.

Dass direkt neben der alten Holztür ein Stapel Eimer gestanden hatte, über den Helen beinahe gefallen wäre, hatte sie fast schon wieder vergessen. Jetzt konnte sie ihn gebrauchen.

Sie machte sich auf den Weg nach oben. Das wehklagende Knarren der Stufen vom ersten in den zweiten Stock zeigte, wie selten sie in den letzten Jahren benutzt worden waren. Der Weg über die steile Treppe in das zweite Obergeschoss und hinauf bis zum Dachboden war für die Vorbesitzer sicher zu beschwerlich gewesen. Lange hätten sie wahrscheinlich auch den Aufstieg in das Schlafzimmer im ersten Stock nicht mehr bewerkstelligen können.

Helen erreichte gerade den Treppenabsatz des zweiten Obergeschosses, als ihr eine verschlossene Tür ins Auge fiel. Hier im zweiten Stock hatten sie die späteren Kinderzimmer geplant und bislang noch keine Renovierungsvorkehrungen getroffen. Doch sie war sich sicher, nach ihrem gestrigen Eintreffen alle Türen und Fenster geöffnet zu haben. Die abgestandene Luft hatte ihr auf den Magen geschlagen. Mit etwas Durchzug hatte sie buchstäblich neues Licht und Leben ins Haus lassen wollen.

Hatte der Wind die Tür zugeschlagen? Überall sonst hatte sie Backsteine aus der Einfahrt auf den Boden gelegt und die Fenster durch eingeklemmte Handtücher blockiert. Bei dem lauen Sommerwind der letzten Tage waren diese Vorkehrungen normalerweise auch ausreichend.

Helen drehte sich um und ging zurück zu dem vorderen der beiden Räume. Zumindest auf der Außenseite befand sich kein Stein. Sie stützte die rechte Hand unsicher am Türrahmen ab und öffnete langsam die Tür, als erwarte sie, schnellstmöglich in Deckung gehen zu müssen. Leise schleifend schwang der Türflügel auf.

Das Zimmer war … leer.

Leer, bis auf drei Gegenstände.

Belanglos, zusammenhanglos. Vollkommen alltäglich.

Helen legte die Stirn verwundert in Falten.

Nicht einmal in ihren kühnsten Fantasien über mögliche Geschehnisse in der Dunkelheit einer ländlichen Nacht konnte sie ahnen, welche Bedeutung diese Dinge für sie bekommen sollten. Und dass sie soeben, inmitten eines wahr gewordenen Traumes vom ruhigen Eigenheim, das Tor zu ihrer ganz persönlichen Hölle aufgestoßen hatte.

3

Die Glasscheibe in dem alten Sprossenfenster vibrierte leise klappernd im Wind. Das monotone, aufdringlich flatternde Geräusch untermalte die Szenerie auf unpassende und bestärkende Art und Weise zugleich.

Ein abgenutzter Messingeimer.

Ein altertümliches Puppenhaus.

Ein Telefon. Abgegriffen und sicherlich seit Jahren unbenutzt.

Wie konnte das sein? Helen schüttelte irritiert den Kopf und suchte nach einer Erklärung. Wie kamen diese Dinge hierher? Sämtliche Wohnräume waren vor ihrem Einzug ausgeräumt worden. Niemand außer ihnen beiden hatte einen Schlüssel und konnte in den letzten Tagen in dieses Haus gekommen sein.

Hatte Jan die drei Gegenstände hier hineingetragen und die Tür geschlossen? Aber warum? Das macht doch keinen Sinn.

Mitten im Zimmer, keine zwei Meter von Helen entfernt, lag der Messingeimer umgestoßen auf dem Fußboden. Vor ihm hatte sich eine Lache aus klarer Flüssigkeit ausgebreitet. Sie war bereits größtenteils im abgenutzten Holzfußboden versickert und nur noch als dunkler Schatten zu erkennen. Es mussten einige Stunden vergangen sein, seit sie sich hier über die Dielen ergossen hatte.

Das Puppenhaus stand in der hinteren rechten Ecke des Raumes, verstaubt und altertümlich, aber in anscheinend gutem Zustand. Es war mit der Außenseite dem Raum zugewandt. Erst auf den zweiten Blick erahnte Helen, warum sein Anblick so bizarr und vertraut zugleich wirkte.

Sie näherte sich dem kleinen Bauwerk und ging langsam davor in die Hocke. Mit den Fingern strich sie vorsichtig an der Fassade entlang und zeichnete dabei zwei feine Linien in die alte Staubschicht.

Es gab keinen Zweifel. Das Häuschen war eine perfekte Nachbildung des Gebäudes, in dem sie sich gerade befand. Eine Miniaturausgabe dessen, was dieses Haus in seinen besten Tagen einmal gewesen sein musste. Dunkelbraune Dachschindeln auf einem weiß getünchten Bau, der insgesamt drei Stockwerke und einen Dachboden umfasste. Grüne Fensterläden vor den gemütlichen Sprossenfenstern. Die Balken, die den kleinen Giebel vor der Haustür stützten und ein Vorgarten, liebevoll mit den unterschiedlichsten Blumen begrünt.

Helen schluckte und wollte das Puppenhaus gerade drehen, um einen Blick in die nachgestellte Wohnsituation im Inneren zu werfen, als sie im Augenwinkel etwas wahrnahm. Eine Bewegung? Sie wandte den Kopf nach links, wo sie ein leichtes Blinken zu sehen geglaubt hatte, konnte allerdings nichts erkennen.

Sah sie jetzt schon Gespenster?

Gerade wollte sie sich erneut dem Puppenhaus zuwenden, als sie es wieder bemerkte. Irgendwo auf dem Fußboden … Eine Spiegelung? Da! Da war es!

Das Telefon! Eine kleine Signalleuchte an der Seite des veralteten Apparates leuchtete in regelmäßigen Abständen rot auf. Der kleine graue Kasten, bei dem Hörer und Station noch durch ein spiralförmig gewundenes Kabel miteinander verbunden wurden, stand in etwa einem halben Meter Entfernung auf dem Dielenboden. Helen schätzte, dass er ungefähr zehn oder fünfzehn Jahre alt sein musste. Unwillkürlich dachte Helen an ihr unbrauchbares Mobiltelefon. Sie griff in ihre Hosentasche. Der Akku war mittlerweile vollkommen leer, das Handy hatte sich ausgeschaltet.

Eins zu null für das letzte Jahrzehnt.

Aber immerhin – das Schicksal wollte ihr offenbar eine Kommunikationsmöglichkeit zuspielen, auch wenn deren Herkunft ihr immer noch Rätsel aufgab. Jan und sie hatten irgendwann beschlossen, dass ihre Handys vollkommen ausreichten, und ihren Festnetzanschluss gekündigt.

Als Helen nun genauer hinsah, entdeckte sie, dass der Apparat sowohl mit einem Kabel für den Stromanschluss als auch mit jenem für die Telefonbuchse verbunden war. Wenn sie sich nicht irrte, gab es im Flur, unmittelbar in der Nähe ihres kleinen Katastrophenschauplatzes, eine Möglichkeit, ein Telefon anzuschließen. Sie war zwar nicht sicher, ob es funktionierte, aber auf einen Versuch wollte sie es ankommen lassen.

Hatten sie für dieses Haus überhaupt einen Festnetzanschluss beantragt?

Das wirst du dann schon sehen.

Nun war ihr Bedürfnis, Jan anzurufen, noch größer geworden. Mit Sicherheit gab es eine logische Erklärung für das Puppenhaus, das Telefon und den Eimer, aber Helen brauchte Gewissheit. Sie brauchte Antworten.

Entschlossen hob sie das Telefon auf, wickelte sich die Kabel ums Handgelenk und verließ das Zimmer.

Gut, dass ich seine Handynummer mittlerweile auswendig weiß, dachte sie auf dem Weg nach unten.

Im Erdgeschoss angekommen, befreite sie mit einem Taschentuch notdürftig die Telefonbuchse von dem Dreck der Staubsaugerexplosion und schloss das Gerät an.

Zu ihrer eigenen Überraschung ertönte ein Freizeichen in der Leitung.

Helen tippte die Nummer ein und wartete. Ein leises Rattern ertönte, Zahl für Zahl.

Dann gelangte der Mechanismus ans Ende der Nummer. Ein weiteres Geräusch, das Helen seit langer Zeit nicht gehört hatte, drang aus der Leitung. Drei Töne, gefolgt von einer automatischen Ansage. »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

Helen legte verwundert auf und gab die Nummer erneut ein – dieselbe Ansage.

Helen schüttelte den Kopf. Tippte nochmals die Zahlenfolge ein, die sie in- und auswendig zu kennen glaubte. Und wartete.

Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Helen drückte die Tasten fester, vermutete, dass eine von ihnen klemmen könnte.

Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Ein letztes Mal!

Kein Anschluss –

Wütend holte Helen aus und schleuderte den Hörer gegen die gegenüberliegende Wand.

Wie war das möglich? Machte das Schicksal heute einen Rundumschlag bei ihr? Und warum zur Hölle konnte sie mit solchen Ereignissen nicht souverän umgehen?

Andere Menschen auf der Welt würden über derartige Lappalien lachen. Warum konnte sie das nicht? Warum musste alles bei ihr immer zu einer Tragödie heranwachsen?

Frustriert starrte Helen auf das Telefon, dann hob sie den Hörer vom Fußboden auf und hängte ihn behutsam wieder in die Vorrichtung ein. Das leise Tuten, das aus der Hörmuschel geklungen war, erstarb und hinterließ absolute Stille im Hausflur.

Das alte Gebäude schien die Luft anzuhalten.

Oder – ist es tot?

Was hatte sie eigentlich auf das Telefon aufmerksam werden lassen? Das monotone rote Blinklicht bahnte sich erneut den Weg in ihre Wahrnehmung.

Sie blinzelte, einmal, zweimal, und betrachtete die Signalleuchte dann genauer. Das Telefon verfügte noch nicht über ein digitales Display, doch Helen erkannte die abgegriffenen Symbole unter den einzelnen Tasten und Leuchtpunkten.

Aus dem Zusammenhang gerissen, auf einer Tafel mit der Überschrift »Wofür steht dieses Piktogramm?« abgebildet, hätte sie das Zeichen wohl nicht zuordnen können. Doch hier, inmitten des alten Hauses, allein mit einem störrischen Kommunikationsapparat aus dem letzten Jahrtausend, wusste Helen binnen Sekunden, was das Symbol zu bedeuten hatte: Das vermutlich seit langer Zeit unbenutzte Telefon hatte eine Mitteilung auf seinem internen Anrufbeantworter. Der Ansage zufolge, die Helen wenige Sekunden später hörte, wartete diese Nachricht dort bereits seit fünf Jahren darauf, abgespielt zu werden.

4

Statisches Rauschen füllte die Stille. Die Sekunden verstrichen wie Ewigkeiten, flossen elektrisiert knisternd durch ein imaginäres Zeitglas in Helens Kopf. Wieder und wieder, bis ein leises Knacken eine Veränderung in der Aufnahme anzeigte. Das Rauschen ebbte ab, wurde von einem lauten Schaben überlagert und verschwand schließlich unter dem Klang einer angespannten Stimme.

»Ich habe nicht viel Zeit. Vielleicht nur eine Minute. Darum hör mir zu, hör mir wirklich zu! Und tu, was ich dir sage! Du musst den Fehler finden. Ich will, dass du alles in Frage stellst. Einfach alles! Woher weißt du, was du weißt? Wer sind diese Leute, die du glaubst zu kennen? Warum sind sie in deinem Leben? Du musst sie loswerden, sie schaden dir. Fang ganz vorn an. Zweifle an Dingen, an denen du niemals zweifeln würdest. Finde die Personen, die vorgeben, dir zu helfen, aber dir in Wirklichkeit nur alles nehmen werden, wenn du nicht aufpasst. Sie sind der Schlüssel. Du bist nie allein, hörst du? Nie! Vertrau nur dir selbst, finde das Puzzleteil, das alle Fragen beantwortet. Nur du kannst herausfinden, was nicht stimmt. Bitte! Sonst stirbt Emilia. Sonst stirb– …« –st du?

Etwa drei Sekunden noch flutete das Rauschen die Aufnahme, als wolle es das Gesagte hinfortspülen. Dann brach die Aufzeichnung ab, das Telefon piepte laut und beendete die Verbindung.

Vollkommene Stille.

Helen hielt den Hörer einige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, blinzelte ein paar Mal und starrte gegen die rußige Wand.

Was zur Hölle …

Was war das denn für eine seltsame Nachricht? Und für wen? Wenn das Gerät nicht auf ein falsches Datum eingestellt war, hätte sie vor fünf Jahren ihren Empfänger erreichen sollen. Vor fünf Jahren! Warum hatte sie nie jemand abgehört? Und warum tauchte dieses Telefon jetzt auf? Hier, in ihrem Haus, in einem Zimmer, das gestern noch leer gewesen war. Das musste ein seltsamer Scherz sein. Oder eine Art Spiel, vielleicht für Kinder, zu Halloween? Fragen stellen, Puzzleteile, »Sonst stirbt Emilia«. Wer zum Teufel wollte da einen mittelmäßigen Film mit ihr, einem Telefon und einem detonierten Staubsauger in den Hauptrollen drehen?

Erst jetzt bemerkte Helen, dass sie den Telefonhörer immer noch in der rechten Hand hielt. Sie drückte ihn eilig auf die Haltevorrichtung. Viel mehr als die Nachricht an sich verstörte sie in diesem Moment noch immer die Frage, wie der Apparat zusammen mit dem Puppenhaus und dem Eimer in das Kinderzimmer gelangt sein konnte.

Jan war gestern vor ihr auf dem provisorischen Nachtlager im Wohnzimmer tief und fest eingeschlafen. Heute Morgen hatte er um halb sieben das Haus verlassen. Warum sollte er vor seiner Abfahrt noch unsinnige Dinge in einen unbenutzten Raum im zweiten Stock schleppen? Ihr Bedürfnis, ihren Verlobten zu erreichen, war soeben eindeutig nochmals gestiegen.

Helen versuchte es erneut mit der Nummer, die sich felsenfest in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Wieder wählte das Telefon eine gefühlte Ewigkeit. Und wieder ertönte schließlich die ernüchternde Tonbandaufnahme. Kein Anschluss

War es möglich, dass diese Nachricht auch ertönte, wenn der Angerufene gerade keinen Empfang hatte? Vielleicht hatte er dieses Mal ein Zimmer in einem abgelegenen Hotel?

Helen irrte sich nicht. Das war Jans Nummer. Einhundertprozentig. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Es gab für all das eine logische Erklärung und nicht den geringsten Grund, in Panik auszubrechen.

»Helen! Mache Menschen haben zwei Weltkriege überlebt und weniger Aufriss darum gemacht, als du um eine unbeantwortete SMS oder eine zerbrochene Kaffeetasse«, sagte Nadja manchmal zu ihr. Und Helen wusste, dass diese eigentlich überspitzt gemeinte Aussage nicht so weit von der Realität entfernt war, wie sie sein sollte.

Nadja.

Konnte sie sie noch anrufen? Helens Blick suchte den kleinen Funkwecker, der im Wohnzimmer neben den Matratzen auf dem Fußboden stand. Ihre beste Freundin ging meist zu unmöglichen Zeiten ins Bett, da sie als Stewardess oft um vier Uhr früh das Haus verlassen musste oder Nächte durcharbeitete. Aber um achtzehn Uhr sollte ein Anruf sie eigentlich nicht aus dem Schlaf reißen.

Obwohl sie tatsächlich ein unwohles Gefühl gegenüber dem Telefon entwickelt hatte – von dem dreckigen kleinen Apparat ging für sie beinahe etwas Bedrohliches aus – blieb Helen nichts anderes übrig, als erneut den Hörer aufzunehmen und über die wackligen Tasten Nadjas Telefonnummer einzugeben.

Ich brauche dringend ein neues Ladekabel. Und ich werde es nie wieder getrennt von meinem Mobiltelefon aufbewahren, dachte sie, während der nunmehr bekannte Wählton durch die Leitung kroch. Das Klingeln, das Sekunden später ertönte, hatte etwas Erleichterndes und Beklemmendes zugleich.

Zum einen war Helen überglücklich, dass ihre Chance, sich mitzuteilen, gerade um ein vielfaches stieg, zum anderen bedeutete es, dass nicht etwa der Apparat Schuld an den fehlgeschlagenen Anrufen bei Jan war. Defekte Tasten oder einen nicht funktionierenden Anschluss bei dem Telefonanbieter konnte sie also ausschließen.

Komm schon. Geh ran. Nadja …

Es klickte in der Leitung und Nadjas Mailbox sprang an. Helen legte auf, wählte erneut und wartete. Zwei Mal wiederholte sie die Prozedur, dann gab sie den Versuch auf, ihre Freundin zu erreichen und hinterließ ihr eine Nachricht. Sie würde sie zurückrufen, sobald sie den verpassten Anruf sah. Doch allein der Gedanke an Nadja hatte sie tatsächlich ein wenig beruhigt. Sie verdankte dieser Frau, die den beinahe größtmöglich denkbaren Gegenpol zu ihr darstellte, so viel. Nadja bereicherte ihr Leben. Sie brauchte selten mehr als drei Sätze, um jede Situation nur halb so schlimm oder doppelt so großartig wirken zu lassen. Sie sprühte Funken, wenn sie lachte, rang beinahe jedem Menschen ein Lächeln ab, egal wie schlecht er gelaunt war, und konnte sich für so ziemlich alles begeistern.

Sie war ein unbeschwerter, sonniger Lebemensch. Wie Jan.

Helen seufzte.

Und fragte sich einmal mehr, was gerade diese beiden Menschen eigentlich an ihr fanden.

*

Auch zwei Stunden später kreisten Helens Gedanken immer noch um die seltsame Szene in dem zukünftigen Kinderzimmer.

Der umgestoßene Eimer. Irgendjemand war dort oben gewesen, mit einem gefüllten Wassereimer. Hatte ihn umgestoßen und sich nicht die Mühe gemacht, das verschüttete Wasser aufzuwischen. Sich selbst und auch Jan konnte sie als Verursacher ausschließen. Er liebte die alten Holzböden und würde nach einem solchen Missgeschick sofort alles tun, um die Dielen vor einem langfristigen Schaden zu bewahren.

Die einzig mögliche Erklärung war also, dass sich ein Fremder Zutritt zu ihrem Haus verschafft hatte. Jemand, der hier eingedrungen und während ihrer Anwesenheit unbemerkt bis in den zweiten Stock des alten Gebäudes hinaufgegangen war.

Der Gedanke machte Helen Angst. Was hatte der Eindringling gewollt? Hatte er gehofft, dort oben Kartons mit Wertsachen zu finden? Wollte er leichte Beute, handlich verpackt? Hineingehen, die Kiste mit dem teuersten Inhalt finden, verschwinden? Wozu dann allerdings der Eimer? Welcher Einbrecher verschwendete seine Zeit mit unsinnigen Handlungen? Zumal er dort oben keine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, wenn Helen überraschend aufgetaucht wäre.

Ich sollte die Polizei rufen, dachte sie fahrig. Aber was soll ich denen erklären? Dass bei mir eingebrochen wurde. – Ob ich den Täter gesehen habe? – Nein. – Was denn fehlt? – Augenscheinlich gar nichts. – Ob Türen oder Fenster beschädigt wurden? – Nein. – Warum ich dann glaube, dass bei mir eingebrochen wurde? – Wegen des umgekippten Eimers im zweiten Stock. – Ob noch jemand in dem Haus wohnt? – Ja, mein Verlobter, dessen Telefonnummer aber leider nicht mehr existiert. Ich kann ihn nicht erreichen. Aber es gibt ihn. Ganz bestimmt!

Genau. Genau so machst du es. Wie immer wirkst du dabei kein bisschen hysterisch oder irre. Jeder würde so reagieren, wenn er einen leeren Eimer in seinem Haus findet.

Helen fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie musste sich zusammenreißen. Sie waren hierhergezogen, um Ruhe zu finden und gelassener zu werden. Und sie startete heute denkbar schlecht in dieses Vorhaben.

Sie würde jetzt in jeden Raum des Hauses sehen und sich vergewissern, dass er leer war. Dann die Haustür und die Terrassentür sorgfältig verschließen und diesen gottverdammten Eimer aus dem Kinderzimmer holen. Ihn mit Wasser und Putzmittel füllen und endlich die Sauerei im Flur beseitigen. Irgendwann würde dieses grässliche alte Telefon klingeln, und sie könnte Nadja erzählen, wie albern sie sich schon wieder benommen hatte. Sie würden darüber lachen, Nadja würde in ihrem Handy nach Jans richtiger Handynummer suchen, sie ihr mitteilen, und dann wäre alles in bester Ordnung. Jan konnte ihr endlich erklären, was es mit den Sachen in dem Kinderzimmer auf sich hatte, und Helen würde beruhigt und entspannt einschlafen können.

Sie schloss noch einmal die Augen, nickte, als wollte sie sich selbst einen Ruck geben, und stand schließlich auf.

In vielen Punkten sollte sie recht behalten. Sie kontrollierte alle Zimmer, verschloss die Türen und säuberte den Flur weitestgehend. Sie riss sich zusammen.

Doch das Telefon klingelte an diesem Abend nicht mehr. Sie bekam keinen Anruf von Nadja und erfuhr nicht Jans korrekte Nummer. Eine Erklärung blieb er ihr schuldig.

Und ja, Helen schlief in Kürze ein.

Doch die nächtliche Dunkelheit in dem alten Haus hielt alles andere als Entspannung für sie bereit.

5

Helen blinzelte einige Male. Sie fühlte sich benommen und etwas schläfrig, aber auf eine angenehme Art und Weise. Der Alkohol hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Zwei Flaschen Wein später schreckte Nadjas Vorschlag sie kaum noch ab. Im Gegenteil. Sie fand den Gedanken daran mittlerweile mehr als reizvoll.

Ihr Blick glitt langsam ihr nacktes Spiegelbild hinab, und Helen lächelte verstohlen in sich hinein. Sie musste sich wirklich nicht verstecken. Sie war nicht sehr kurvig gebaut, aber gut proportioniert und hatte schöne, feste Brüste.

Mit einer geübten Bewegung warf sie ihre langen, schwarzen Haare über die Schulter und strich mit beiden Händen langsam über ihre Oberweite.

Das Bild des großen Standspiegels zeigte, dass sich Nadja ihr im Halbdunkel des Zimmers langsam und mit geschmeidigen Bewegungen näherte. Sie trug eine Kette und schlichte, schwarze Spitzenunterwäsche, die ihr hervorragend stand. Lächelnd trat sie hinter Helen, umgriff ihre Taille und streichelte langsam über ihren Unterbauch. Ihre Lippen waren nur einen Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, als sie leise »Gott, du siehst echt heiß aus« flüsterte und ihr anschließend sanft den Hals küsste.

Helen lächelte, schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen, während Nadjas Hände immer weiter ihren Bauch hinabglitten. Ihre rechte Hand zog einen Halbkreis um ihren Körper, streichelte sanft über ihren Po und verschwand schließlich zwischen ihren Schenkeln. Helen stöhnte leise auf, als sie Nadjas Finger in sich spürte und ihre andere Hand langsam über ihren Kitzler streichelte. In all den Jahren, in denen sie unzählige Stunden mit Nadja verbracht hatte, hatte sie niemals daran gedacht, mit ihr zu schlafen. Hatte überhaupt nie in ihrem Leben das Bedürfnis verspürt, Sex mit einer Frau zu haben. Und nun war sie hier. Nackt. Selbstsicher und entspannt ließ sie sich von ihrer besten Freundin streicheln. Und es gefiel ihr besser, als sie es wahrhaben wollte. Alles fühlte sich so sanft an, so natürlich, als wäre sie allein mit sich selbst.

»Ich will was ausprobieren«, flüsterte Nadja hinter ihr und hielt in ihren Bewegungen inne. Langsam entzog sie sich Helens Becken, streichelte ihr nochmals über den Po, küsste ihren Nacken und verschwand dann im Nebenzimmer.

Helen fühlte sich so erregt wie lange nicht mehr und berührte sich, ihr Spiegelbild betrachtend, sachte selbst zwischen den Beinen. Für diese Handlung würde sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach im nüchternen Zustand schämen, aber gerade war es ihr egal. Sie wollte nicht warten, bis Nadja wieder bei ihr war.

Etwa eine Minute später tauchte ihre Freundin im Blickfeld des Spiegels auf. Mit herausforderndem Blick lehnte sie sich an den Türrahmen und hielt die Hände hinter ihrem Rücken versteckt. Sie beobachtete Helen einige Sekunden lang aus dieser Entfernung und genoss offenbar sehr, was sie sah. Ihre Augen glitten über jeden Zentimeter von Helens nackter Haut, bis sie die körperliche Distanz offensichtlich nicht mehr aushalten wollte und sich ihr näherte.

Nach wie vor konnte Helen nicht erkennen, was sie mitgebracht hatte. Nadja stellte sich, eine Hand immer noch versteckt, wieder dicht hinter sie, umgriff sie mit dem linken Arm und löste Helens Hand an ihrem Kitzler ab. Ihre Bewegungen waren gekonnt, bewusst langsam und selbstsicher. Alles, was sie tat, geschah mit perfekter Präzision. Und Helen musste sich automatisch vorstellen, was Nadja wohl mit ihrer Zunge anstellen konnte, wenn ihre Hände sich schon so unfassbar gut anfühlten. Sie öffnete langsam die Augen, wollte gerade dazu ansetzen, etwas zu sagen, als sie im Spiegelbild erkannte, was ihre Freundin geholt hatte. Kurz hatte sie es aufblitzen sehen, bevor sich Nadjas rechte Hand mit dem Gegenstand darin an ihrer Hüfte entlang nach vorne bewegte.

Ein Messer.

Die Schneide spitz und etwa zwanzig Zentimeter lang, glatt geschliffen und glänzend.

Helen sog die Luft ein. Noch ehe sie reagieren oder sich vollends verspannen konnte, hatte Nadja ausgeholt.

Und ihr die Klinge seitlich in den Unterbauch gerammt.

*

Blut. Überall dunkelrotes Blut. Fließend in Strömen.

Helen stand mit weit aufgerissenen Augen ihrem Spiegelbild gegenüber, starrte wie paralysiert auf die klaffende Wunde in ihrem Bauch.

Nadja hatte sich nicht bewegt. Ihre eine Hand ruhte nach wie vor zwischen Helens Beinen, die andere war fest um den Griff des Messers geschlossen. Der Blick, den sie Helens Spiegelbild zuwarf, war gierig und kalt. Ein bizarres, perverses Bild sexuell abartigster Begierde. Der Schmerz war gleißend hell, kam in ruckartigen Schüben.

Helen wurde schwarz vor Augen, noch bevor sie aus ihrer Schockstarre richtig erwachen konnte. Ihr panischer Herzschlag trieb Blut aus Venen und Arterien und pochte tief in ihrem Bauch, um die Klinge herum wie um einen tödlichen Entzündungsherd.

»Was …?« Helen war außer Stande zu sprechen. Selbst dieses eine Wort brachte sie nicht über die Lippen. Es verhallte in einem kläglichen Laut, der aus ihrem weit geöffneten Mund sickerte.

Der Schwindel wurde übermächtig. Sie strauchelte, und plötzlich war Nadja verschwunden. Helen verlor das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild.

Was sie dort sah, ließ ihren Herzschlag ein letztes Mal aussetzen, ehe sie in der Dunkelheit versank.

Sie selbst hielt den Griff des tödlichen Messers in ihrer Hand. Das Blut tropfte von ihren eigenen Fingern. Und von Nadja fehlte jede Spur.

6

Luft! Luft! Luft, Luft, Luft, Luft!

Der erste Atemzug kam wie in letzter Sekunde, und Helen fuhr keuchend in ihrem Bett nach oben. Die Dunkelheit drehte sich und hüllte sie in Angst und Kälte.

Panisch krampfte sie ihre Hände in den schweißnassen Stoff der Bettdecke und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Versuchte, in der Schwärze, die sie umgab, irgendetwas zu finden, woran ihre Augen sich festhalten konnten. Etwas, was ihr sagte, wo sie sich befand und was passiert war.

Fenster. Fahles Licht hinter großen Bäumen. Nacht überall.

Atme!

Die Stille in ihren Ohren rauschte, ging über in ein grelles Piepen und verschwand schließlich in dem Ruf einer Eule irgendwo in der Ferne vor den Fenstern. Helen blinzelte.

Sie war – zu Hause?

Keuchend und hustend tastete sie neben der Matratze nach einem Lichtschalter, fand eine Taschenlampe und schaltete sie zitternd ein. Ein kalter Lichtschein fiel in das große Wohnzimmer des alten Hauses.

Helen war zu Hause. Sie hatte geträumt. Einfach nur geträumt. Einen furchtbaren, realistischen, bizarren Traum, in dem sie sich letztendlich selbst umgebracht hatte. Mehr nicht. Reine Fiktion! Sie war allein und in Sicherheit.

Oh Gott.

Erleichterung flutete ihr Bewusstsein.

Atme! Alles ist gut. Ein Traum. Bloß ein Traum.

Mit noch immer zitternden Händen fuhr sich Helen durch die verschwitzen Haare. Sie atmete tief ein und wollte sich aufsetzen. Sich von der Decke befreien und Luft an ihren fiebrig heißen Körper lassen. Immer noch schwer atmend spannte sie die Muskeln an und richtete sich auf, als ein scharfer Schmerz in ihren Bauch jagte. Helen sackte nach Luft ringend zurück in die Kissen.

Grell und pulsierend zu Beginn, dann dumpf und betäubend intensiv. Ein Schmerz wie im Traum. Ein Schmerz wie in dem Moment, als sie starb.

Sie keuchte, schlug mit einer letzten, kräftigen Bewegung die Bettdecke beiseite und erstarrte mit weit aufgerissenen Augen.

Blut. Überall Blut. Auf dem Laken, an der Decke. Ihre kurzen Schlafshorts waren durchtränkt davon, sogar ihre Hände hatten dunkle Abdrücke dort hinterlassen, wo sie nach dem Aufwachen hingefasst hatte. Es schimmerte feucht in dem blassen Licht der Taschenlampe, versickerte langsam in den Stoffen und der Matratze. Nein. Neinneinneinneinnein!

Helen hyperventilierte, rutschte und kroch auf der Matratze rückwärts, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß. Das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht passieren. Die Schmerzen hüllten ihren Verstand ein und krampften sich wie knochige Hände in ihren Unterleib.

Bitte nicht. Bitte nicht das Baby.

*

Helens Blick suchte fiebrig nach den Zeigern des kleinen Weckers auf dem Fußboden.

Zehn Minuten.