Cover

Ute Wehrle ist gebürtige Freiburgerin und studierte Touristik-Betriebswirtschaft in Heilbronn. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

image

Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Dorling Kindersley Ltd./Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Lektorat: Susanne Bartel

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-571-8

Der Badische Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

 

Man sollte nie etwas tun,
worüber man nicht nach dem Essen plaudern kann.

Oscar Wilde

1

Kein Wölkchen am Himmel, nur strahlendes Blau. Ein lauer Sommerabend wie aus dem Bilderbuch. Entspannt lag ich unter einem gelben Sonnenschirm im Vorgarten und döste vor mich hin.

»Hallo, Romeo. Da hast du dir ja ein nettes Plätzchen gesucht.« Die graue Maus vom dritten Stock fühlte sich bemüßigt, mich aus meinem Halbschlaf zu reißen. Ich schenkte ihr einen vielsagenden Blick aus halb geschlossenen Augen, der sie selig lächeln ließ. Kein Wunder, die arme Frau erfuhr nicht gerade allzu viel Beachtung. Ihr Mann war ständig auf Achse, um Ärzte zu überreden, ihren Patienten Antidepressiva zu verschreiben, die seine Firma herstellte. Schätzungsweise war seine eigene Ehefrau die beste Kundin von dem Zeug, so nachlässig, wie er sie behandelte. Vielleicht sollte ihr mal jemand den Tipp geben, sich aufs Sofa der Psychologin zu legen, die ein Stockwerk tiefer ihr Geld damit verdiente, sich die Nöte ihrer Mitmenschen anzuhören. Manchmal tat ich das übrigens auch – mit dem kleinen Unterschied, dass ich nicht dafür bezahlt wurde.

Mit mir und der Welt im Einklang schlief ich endgültig ein, bis mich ein donnerndes Geräusch hochschrecken ließ. Natürlich, wer sonst? Der kleine Rotzlöffel vom Nachbarhaus düste mit Karacho auf seinem Skateboard die Straße hinunter. Geistig unterbelichtet, wie er nun einmal war, war er vermutlich erst jetzt mit seinen Hausaufgaben fertig geworden und auf dem Weg ins Schwimmbad, um mit seinesgleichen den Schwimmmeister an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. Nun, besser den Mann am Beckenrand als mich.

Doch da ich jetzt schon einmal wach war, konnte ich genauso gut auch einen kleinen Streifzug unternehmen. Schließlich musste ich die Gunst der Stunde nutzen, dass sich meine ständig um mich besorgte Mitbewohnerin im Urlaub auf Kreta befand und mich nicht davon abhalten konnte. Zwar wusste ich ihr Verantwortungsgefühl für mich durchaus zu schätzen, aber manchmal war es mir einfach zu viel des Guten, wie sie mich ständig bemutterte. Höchste Zeit also, wenigstens für ein paar Stunden aus meinem behüteten Dasein auszubrechen. Zum Glück hatte ich für heute den täglichen Kontrollbesuch meiner Super-Nannys bereits hinter mich gebracht. Meine Mitbewohnerin, die die zwei Damen aus dem Lachyoga-Kurs kannte, hatte die beiden gebeten, während ihrer Abwesenheit ein Auge auf mich zu werfen. Eine Aufgabe, der sie zu meinem großen Leidwesen nur allzu gern nachkamen.

Leise verließ ich den Garten, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht, dass sich noch die graue Maus an meine Fersen heften würde, anhänglich, wie sie war. Für das, was ich vorhatte, konnte ich kein Publikum brauchen.

Ein paar Meter weiter gelang es mir gerade noch, einem Radfahrer auszuweichen, der mir auf dem Gehweg – wo sonst? – entgegenkam. Ich schlug einen eleganten Haken und begab mich auf die Sternwaldwiese, wo mir der Duft von Grillwürsten entgegenschlug.

Plötzlich entdeckte ich sie: ganz allein, verträumt im Gras sitzend. Blutjung, zierlich und ohne jegliche Lebenserfahrung – genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Lautlos pirschte ich mich an sie heran. Die Kleine war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich nicht einmal bemerkte. Vorsichtig blickte ich mich um, dann holte ich kräftig aus. Mit einem Schlag brach ich ihr ein paar Knochen. Sie stieß einen entsetzten Angstschrei aus. Er klang wie Musik in meinen Ohren.

Mit letzter Kraft versuchte sie, sich wegzuschleppen, doch ich schlug erneut zu. Dieses Mal fester. Blutgeruch stieg mir in die Nase. Ein letztes Röcheln, dann hauchte sie ihre Lebensgeister aus. Ich ließ sie einfach liegen. Sollte sich doch jemand anders um ihr Begräbnis kümmern.

Die lärmende Clique beim Grillplatz hatte noch nicht einmal bemerkt, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe abgespielt hatte, da sie immer noch damit beschäftigt war, lauwarme Bierdosen kreisen zu lassen. Vermutlich würde das so lange gehen, bis sich auch der Letzte in der Runde in einem komatösen Zustand befand.

Da ich keine Lust hatte, dem würdelosen Treiben weiter zuzuschauen, beschloss ich, mich auf den Heimweg zu machen.

Während ich vor der Haustür noch nachdachte, was ich weiter mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte, näherten sich Schritte, und ich nahm einen intensiven Duft wahr. Ich schnupperte. Wenn mich mein feines Näschen nicht täuschte, handelte es sich eindeutig um Sandelholz. Neugierig wollte ich mich umdrehen, um nachzusehen, wer da so wohlriechend unterwegs war, doch dann geschah etwas, womit ich nun gar nicht gerechnet hatte: Zwei Hände legten sich blitzschnell um meinen Körper und hoben mich in die Höhe.

Ehe ich begriff, was da vor sich ging, geschweige denn mich zur Wehr setzen konnte, landete ich in einer Art Korb, dessen Deckel schleunigst geschlossen wurde. Um mich herum wurde es stockdunkel.

2

Das junge Pärchen, das eng umschlungen auf der breiten Treppe des Theaters saß, sah sich so verliebt in die Augen, dass das Stracciatella-Eis in der Waffel, an dem die beiden abwechselnd schleckten, vor Rührung regelrecht dahinschmolz. Unbeeindruckt von dem jungen Glück drehte sich der vollbärtige Mann zwei Stufen darüber sorgfältig eine Zigarette, um wenig später den Rauch tief in die Lungen zu ziehen. Zu seinen Füßen streckte ein hechelnder Golden Retriever, der seinem Bauchumfang nach eine ausgeprägte Schwäche für Leckerlis hatte, erschöpft alle viere von sich.

Gegenüber, auf dem Platz der Alten Synagoge, testete ein Skater auf dem von der Stadtverwaltung eigens aus Vietnam importierten Basaltpflaster geräuschvoll aus, was sein Brett so alles hergab. Ein weiblicher Teenager mit Zahnspange, der ihn von einer Bank aus beobachtete, klebte verstohlen seinen Kaugummi unter die Sitzfläche. Neben ihr studierte ein Senior intensiv ein gelbes Reclam-Heftchen mit dem spannenden Titel »Lateinische Gedichte deutscher Humanisten«.

Kurzum, es war ein typischer Sommerabend in Freiburg, noch zu früh und zu hell, um die ersten Betrunkenen randalieren zu hören, aber spät genug, dass die meisten bereits in vollen Zügen ihren Feierabend genossen. Nur in der Universitätsbibliothek rauchten noch die Köpfe im Schein der exklusiv designten Schwanenhalslampen.

Wesentlich gelöstere Stimmung herrschte derweil nebenan im Freiburger Theater, wo ein rasantes Verwirrspiel voller Liebe, List und Intrigen im Gang war. Rossinis Oper »Der Barbier von Sevilla« hatte etliche Besucher angelockt, die sich prächtig amüsierten. In der Hauptrolle des kessen Mündels Rosina ließ Nele Otto, eine mollige Blondine mit himmelblauen Puppenaugen, ihr Herz von Graf Almaviva erobern. Doch am heutigen Abend war es Manuel Angelico als Figaro, der in erster Linie die geballte Aufmerksamkeit der Besucherinnen auf sich zog. Der Sänger mit den dunklen Locken und dem Dreitagebart verfügte über eine erotische Ausstrahlung, die bis in die letzten Reihen spürbar war, und sein voller Bariton riss sogar die härtesten Kritiker regelmäßig zu Begeisterungsstürmen hin.

Endlich ein richtiges Mannsbild auf der Bühne, das auch noch singen konnte. Selbst die sonst eher traditionell geprägten Damen aus einem Freiburger Seniorenstift, die zu ihrem großen Bedauern keine Plätze mehr in den vorderen Reihen ergattert hatten, sahen großzügig darüber hinweg, dass die Kulisse der Oper verdächtig an den Katalog eines schwedischen Möbelhauses erinnerte und die Protagonisten ständig an Smartphones herumfummelten. Die Regie am Freiburger Theater ging halt voll mit der Zeit, da konnte man nichts machen. Und an schräge Einfälle war man nun wirklich hinlänglich gewöhnt, seit Intendant Mike Schönberg das Zepter in der Hand hatte.

Deshalb wunderte sich auch niemand, als plötzlich eine quietschlebendige schwarze Katze, dem strammen Körperbau nach ein Kater in den besten Jahren, über die Bühne sauste und elegant ein Klavier umrundete, um wenig später geschmeidig auf ein knallrotes Sofa zu springen. Im Gegenteil: Die Beleseneren unter den Besuchern, so auch die Seniorinnen, brachen in herzliches Gelächter aus. Endlich mal ein geistreicher, geradezu genialer Einfall des Regisseurs. War nicht schon Rossinis Uraufführung durch das unerwartete Erscheinen eines Stubentigers unfreiwillig bereichert worden? Toll, dass man dieses kleine, aber feine historische Detail bei der Produktion berücksichtigt hatte, da nahm man selbst die ästhetisch fragwürdige Kulisse in Kauf. Die Damen spendeten entzückt Szenenapplaus.

Die Reaktion auf der Bühne, auf der Rosina und der Figaro gerade ihr Duett »Dunque io son … tu non m’inganni?« schmetterten, fiel um einiges zwiespältiger aus. Als der Kater mit seiner Nase ein geblümtes Kissen vom Sofa schubste, begannen Manuel Angelicos Mundwinkel verdächtig zu zucken, und es gelang ihm nur noch mit Müh und Not, den Ton zu halten.

Nele Otto hingegen hätte nicht entsetzter sein können, wäre aus dem Nichts ein leibhaftiger Tiger aufgetaucht. Theatralisch griff sie sich ans Herz, und ihre sonst so glockenhelle Stimme überschlug sich wie die eines Wiener Sängerknaben im Stimmbruch, bevor sie abrupt verstummte.

Auch im Orchestergraben waren die ersten Missklänge zu vernehmen. Der Dirigent ließ ratlos die Arme sinken, die Streicher kamen aus dem Takt, dann gaben auch die Blechbläser auf.

Das Publikum johlte.

Angespornt von der positiven Resonanz im Zuschauerraum zeigte sich der Kater weiterhin wild entschlossen, seinen Auftritt voll auszukosten. Er hüpfte vom Sofa und flitzte direkt auf Nele Otto zu.

»Hau ab, du Mistvieh!«, kreischte die Sängerin, bis eben noch die zarte Unschuld in Person, wenig damenhaft los. Dazu wedelte sie mit den Armen wie eine Windmühle auf Speed. Niesend und hustend flüchtete sie hinter das Klavier, der Kater dicht auf ihren Fersen.

Beim Anblick der aufgelösten Sängerin, die vergeblich versuchte, das Tier zu verscheuchen, brach der Figaro endgültig in haltloses Gelächter aus, ehe er seiner Partnerin zu Hilfe eilte. Er schnappte sich den Kater, verschwand mit ihm hinter der Kulisse und ließ die heulende Nele Otto zurück. An eine Fortsetzung der Oper war nicht mehr zu denken, doch nicht einmal die Damen des Seniorenstifts störten sich daran, dass sich der Vorhang um einiges früher senkte, als von Rossini vorgesehen. Sie konnten sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so gut im Theater unterhalten hatten. Immer noch lachend, drängelten sie sich an die Sektbar.

Fast alle waren voll des Lobes für die Inszenierung. Bis auf einen Tierfreund, der bis eben noch in der ersten Reihe gesessen hatte und jetzt empört aus dem Gebäude stürmte. So eine Sauerei, eine wehrlose Katze für eine Oper zu missbrauchen. Keine Minute länger würde er sich das ansehen und gleich morgen Anzeige wegen Tierquälerei erstatten.

Er war nicht der Einzige, der von der allgemeinen Heiterkeit unberührt geblieben war. Auch der Intendant der Frankfurter Oper, Sven Kluge, verließ vorzeitig die Vorstellung und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg in sein Hotel, wo er gedachte, als Erstes den bereits ausgearbeiteten Anstellungsvertrag in kleine Stücke zu zerreißen, bevor er sich an die Bar setzte.

Nur gut, dass er sich persönlich ein Bild von Nele Otto gemacht hatte. Hübsches Gesicht und passabler Mezzosopran hin oder her, aber an seinem Haus würde sie in der nächsten Saison keinen Ton von sich geben, so viel stand für ihn fest. Unglaublich, wegen einer harmlosen Katze derart die Contenance zu verlieren. Und vor allem völlig unprofessionell. Von seinem Ensemble erwartete er ein besseres Nervenkostüm, schließlich musste es auch seine Launen ertragen. Und davon hatte er reichlich. Behauptete zumindest seine Frau.

Während sich Sven Kluge vom Barkeeper den ersten Manhattan mixen ließ, ging der zweite Akt vom »Barbier von Sevilla« ohne nennenswerte Zwischenfälle zu Ende, sah man gnädig davon ab, dass Nele Ottos Stimme beträchtlich an Wohlklang verloren hatte. Die Besucher, die anschließend aus dem Theater strömten, hatten jedenfalls ihren Spaß gehabt.

»Ich sage es dir zum letzten Mal.« Schneidend durchdrang eine Stunde später eine Stimme den ansonsten verwaisten Theatersaal. »Halt den Mund oder du wirst es bereuen. Von so einer wie dir lasse ich mir mein Leben nicht kaputtmachen.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle«, antwortete jemand anders. »Glaubst du allen Ernstes, du könntest mich davon abhalten, zur Polizei zu gehen? Und eines garantiere ich dir: Ich werde nicht die Einzige sein, die –«

Ein lautes, stetig näher kommendes Brummen übertönte den Rest des letzten Satzes. Verursacht wurde es von einem Staubsauger, der von einer Neapolitanerin, die die Vorhut des Putzgeschwaders bildete, schwungvoll durch die leeren Stuhlreihen geschoben wurde.

»Ich habe dich gewarnt.« Eine Tür wurde heftig zugeschlagen.

Bewundernd schnalzte Rosa Mugavero mit der Zunge, während sie den Boden zwischen den Stuhlreihen von Straßenschmutz und heruntergeflatterten Bonbonpapierchen befreite. Sie hatte zwar wegen der voll aufgedrehten Musik aus ihren Kopfhörern, die sie gewohnheitsmäßig während der Arbeit trug, kein Wort von dem mitbekommen, was auf der Bühne gesprochen worden war, war aber dennoch tief beeindruckt. Diese Körpersprache. Diese Ausdruckskraft. Und der Hass, der aus den Augenpaaren geblitzt hatte. Das musste man erst mal hinkriegen.

Für welches Stück die beiden wohl zu solch später Stunde noch geprobt hatten? Was auch immer es war, sie hatten sich mächtig ins Zeug gelegt.

Und genau das sollte sie jetzt auch machen, damit sie hier fertig wurde und endlich nach Hause kam. Sie musste noch ihren Koffer packen, bevor sie morgen in den Flieger nach Neapel stieg, um rechtzeitig zu Nonnas achtzigstem Geburtstag zu erscheinen, zu dem die ganze Familie erwartet wurde. Leider auch ihre Cousine Francesca, die vermutlich wieder kein anderes Thema als ihre vierte Schwangerschaft kennen würde.

Als der Triumphmarsch aus »Aida« aus ihren Kopfhörern drang, legte Rosa Mugavero noch einen Zahn zu, bei »La donna è mobile« aus »Rigoletto« sang sie lauthals mit. Man konnte sagen, was man wollte, aber mit Verdi putzte es sich doch gleich viel besser.

War nicht auch die Netrebko entdeckt worden, als sie als Putzfrau den Boden der St. Petersburger Oper schrubbte und eine Arie schmetterte? In Rosa Mugaveros Ohren verwandelte sich das Getöse des Staubsaugers in donnernden Applaus.

3

»So viel kann ich Ihnen versprechen. Das wird ein Fest, von dem noch unsere Urenkel sprechen werden«, tönte Oberbürgermeister Norbert Winkler vollmundig im Kaisersaal des Historischen Kaufhauses vor der versammelten Pressemeute. »Ein Mega-Event, bei dem sich unsere schöne Stadt in eine riesige Freilichtbühne verwandeln wird, auf der sich alle Freiburger verwirklichen dürfen.«

»Auch endlich mal die von der Opposition im Gemeinderat?« Die vorwitzige Bemerkung einer stupsnasigen Radioreporterin war nicht zu überhören.

»Geboten wird eine prächtige Zeitreise mit unzähligen Darstellerinnen und Darstellern, die unter dem Motto ›Freiburg-Protokoll‹ verschiedene wichtige Ereignisse und Stationen aus unserer ruhmreichen Geschichte aufführen werden«, machte der Oberbürgermeister ungerührt weiter.

»Wie bitte? Den staubtrockenen Titel kann sich doch nur einer im Finanzamt ausgedacht haben«, rutschte es der Stupsnasigen entgeistert heraus.

»Seit wann wird dort gedacht?« Ein Journalist, auf dessen T-Shirt unübersehbar Kaffeeflecken prangten, lachte laut über seinen eigenen Witz. Sein bärtiger Nebenmann gähnte unverhohlen.

Winkler räusperte sich vernehmlich. »Zu den Feierlichkeiten erwarten wir natürlich zahlreiche illustre Ehrengäste.« So leicht ließ er sich nicht aus dem Konzept bringen, schon gar nicht von Journalisten, die er sowieso nicht leiden konnte. Stolz wie ein Pfau strich er sich durch seine gegelten Haare, die borstenartig von seinem Kopf abstanden. Böse Zungen behaupteten schon lange, er würde regelmäßig einen Drogeriemarkt überfallen, um seinen gewaltigen Bedarf an der klebrigen Masse zu decken. »In Ihrer Pressemappe finden Sie eine Liste, wen wir alles begrüßen dürfen. Oder nein, besser, ich lese Ihnen die Namen vor.« Ganz so, als hätte er ein paar Erstklässler vor sich, die ein A noch nicht von einem Z unterscheiden konnten.

»Falls der Papst wiederkommt, sollte er sich aber dieses Mal im Papamobil anschnallen. Nicht, dass es noch mal eine Anzeige gibt.« Schon wieder der Spaßvogel mit dem fleckigen T-Shirt.

»Das Einzige, was mich brennend interessiert, ist, wie lange der Zauber hier noch dauert«, flüsterte Katharina ihrem Kollegen Dominik, der beim »Regio-Kurier« für die Fotos zuständig war, ins Ohr und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, während der Oberbürgermeister stolz einen Namen nach dem anderen herunterratterte. »Wenn Winkler in dem Tempo weitermacht, können wir unsere Mittagspause vergessen. Und ich habe nicht mal richtig gefrühstückt.«

Seit einer geschlagenen Stunde saß sie jetzt schon im Kaisersaal, um den Lesern des »Regio-Kuriers« berichten zu können, was sie zum neunhundertsten Jubiläum der Stadt Freiburg erwartete.

Obwohl sie es nie zugegeben hätte, war selbst Katharina von Winklers ambitioniertem Programm beeindruckt: Drei Tage lang würden Ende Juli in der ganzen Stadt kurze Theaterstücke zu sehen sein, um Freiburgs Historie lebendig zu machen. Stoff dafür gab es reichlich, seit der Zähringer Konrad den Freiburgern 1120 das Marktrecht verliehen hatte. Und damit das Event nicht allzu sehr die eh schon strapazierte Stadtkasse belastete, wurde jeder, der nicht bei drei auf den Bäumen war, genötigt, sich doch bitte schön ein historisches Kostüm zu besorgen, um als Statist in der Rolle eines Nachtwächters, Mönchs, Gauklers, Feuerschluckers oder einer Wäscherin das Stadtbild zu bereichern.

Ihren großen Auftritt haben sollten auch jene berühmten Persönlichkeiten, die, jede auf ihre Art, im Lauf der Jahrhunderte etwas dazu beigetragen hatten, dass Freiburg zu dem geworden war, was es heute war: ein Hort gepflegter Gemütlichkeit, gleichermaßen beliebt bei Tofu- und Würstle-Fans, und der blanke Horror für Autofahrer und Wohnungssuchende.

Das Gerangel um die Hauptrollen war bereits in vollem Gang. So legte der Vorsitzende des Einzelhandelsverbandes Rudi Müller aus unerfindlichen Gründen allergrößten Wert darauf, sich als Scharfrichter Werlin Großholz zu präsentieren, der im Mittelalter sein Handwerk in der Wiehre verrichtet hatte. Rudi Müller war eben schon immer ein Mann der Tat und nicht der Worte gewesen.

Zu Katharinas großem Bedauern gedachte Oberbürgermeister Winkler jedoch nicht, sich bei der Hinrichtungsszene am eigens zu diesem Behufe von Berufsschülern der Richard-Fehrenbach-Gewerbeschule angefertigten Galgen aufknüpfen zu lassen, um dieses Kapitel im mittelalterlichen Stadtleben möglichst authentisch zu gestalten. Vielmehr hatte er verkündet, den Festumzug als edler Herzog aus dem Zähringer Geschlecht anzuführen, und zwar völlig wurscht, als welcher, waren es doch gleich mehrere männliche Familienmitglieder, die sich als Herren von Freiburg einen Namen gemacht hatten.

Theo Schneider, der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, war mit viel Überzeugungskraft dazu gedrängt worden, die Rolle des Erasmus von Rotterdam zu übernehmen, hauptsächlich deshalb, weil sich sein Büro just in jenem Erkerzimmer befand, in dem der Gelehrte einst während seines Exils residiert hatte. Schaden konnte es jedenfalls nichts, wenn der Geist desselben über ihm schwebte, denn Schneider war nicht gerade für seine feurigen Ansprachen bekannt.

»Wen würdest du eigentlich gern spielen?«, fragte Katharina leise ihren Kollegen, während Winkler noch einmal eindringlich die Großartigkeit des Projekts betonte.

»Ich?« Dominik legte die Stirn in Dackelfalten. »Wenn ich überhaupt nur eine Sekunde ernsthaft einen Gedanken daran verschwenden würde, bei dem Spektakel mitzumachen, dann Walter Stegmaier. Dann säße ich jetzt vor einem Bier in einer Kneipe, anstatt Winklers Volksreden ertragen zu müssen.«

Katharina konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen. Besagter Walter Stegmaier hatte in Freiburg studiert und die zweifelhafte Ehre gehabt, 1912 als erster Insasse in den Winterkarzer der Universität einzuziehen, weil er in trunkenem Zustand einen Polizisten vermöbelt hatte. Angesichts der Tatsache, dass er nur wenige Monate zuvor als der dreitausendste Student in einem Festzug durch die Stadt geleitet und zudem von der Universitätsleitung mit einer goldenen Uhr bedacht worden war, fast schon Ironie des Schicksals. Und wie man so hörte, hatte er es auch während seines Arrests ordentlich krachen lassen.

»Gute Wahl«, pflichtete Katharina Dominik deshalb bei. »Die Rolle ist dir wie auf den Leib geschnitten.«

»Das musst gerade du sagen. Mit deinem unsteten Lebenswandel würdest du auch nicht gerade als Nonne durchgehen. Auch wenn du auf einer höheren Töchterschule warst.«

»Erinnere mich bloß nicht daran«, stöhnte Katharina auf. Ihre Zeit auf dem Freiburger Mädchengymnasium und die damit verbundenen Erfahrungen gehörten zu den Gründen, warum sie der Idee eines Matriarchats, wie es ihre Nachbarinnen in der Oberen Wiehre oft und gern propagierten, eher skeptisch gegenüberstand.

Winklers lauter werdende Stimme unterbrach ihr Gespräch. »Bei so einem Mammutprojekt, das wir als Stadtverwaltung neben unserer eigentlichen Arbeit stemmen, ist natürlich jede Hilfe willkommen.« Er holte tief Luft. »Deshalb freue ich mich besonders, dass sich der allseits bekannte Schauspieler Markus Österreicher in letzter Minute bereit erklärt hat, mit den Laiendarstellern zu arbeiten. Leider kann er heute nicht persönlich anwesend sein, da er sich derzeit noch auf einer Tournee in Italien befindet. Aber er hat mir fest versprochen, rechtzeitig zurück zu sein.«

»Herrje«, entfuhr es dem Pressevertreter der »Freiburger Zeitung«. »Ausgerechnet dieses Großmaul. Das kann ja nix werden, wenn der das Sagen hat.«

Winkler warf dem Mann einen strafenden Blick zu.

»Tournee? Dass ich nicht lache.« Katharina verdrehte die Augen, als sie sich erneut Dominik zuwandte. »Freiburgs berühmtester Mime macht schlicht Urlaub in der Toskana, das hat mir Matthäus höchstpersönlich berichtet. Dessen überspannte Mutter kümmert sich nämlich solange um das Grünzeug, das des Künstlers Garten verschönert.«

»Was willst du denn?«, feixte Dominik. »Österreichers Bühnenkarriere besteht doch schon seit Jahren hauptsächlich darin, dass er sich selbst in Szene setzt. So gesehen ist das mit der Tournee nicht völlig aus der Luft gegriffen.«

»By the way: Das Freiburger Theater wird sich ebenfalls beteiligen.« Winkler hörte sich jetzt wesentlich weniger enthusiastisch an. »Und zwar mit einer imposanten Open-Air-Opernaufführung. Auf dem Spielplan steht …«, er kam kurz ins Stocken, bis ihm seine Pressereferentin Sevda Çelik, die rechts von ihm saß, unauffällig einen kleinen Zettel herüberschob, »›Die Zauberflöte‹ von Mozart. Aber davon soll Ihnen unser Intendant Mike Schönberg am besten selbst berichten.« Er deutete auf einen hochmütig blickenden glatzköpfigen Mann, der zu seinem dunkelgrauen Anzug und dem weißen Hemd wie gewohnt eine knallrote Fliege als Accessoire trug.

»Nun, ursprünglich war geplant, zum Jubiläum Wagners ›Meistersinger von Nürnberg‹ auf dem Messegelände aufzuführen. Wie Sie sicherlich wissen, wurde das Große Haus mit dieser Oper 1949 nach dem Krieg wiedereröffnet«, klärte Schönberg die Anwesenden auf. »Doch angesichts der rund fünfeinhalbstündigen Länge des Werks haben wir uns entgegen der geschichtlichen Bedeutung für Mozarts Singspiel entschieden. Wir wollen unser Publikum schließlich nicht überfordern.« Er gestattete sich ein gönnerhaftes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Zumal das auf Bierbänken sitzen wird, damit auch möglichst viele die Vorstellung genießen können. Immer vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.«

»›Die Zauberflöte‹ – das ist doch mal was. Die kann man wenigstens nicht verhunzen«, meinte Dominik hoffnungsvoll.

»Täusch dich da mal nicht. Manchmal geht auch der größte Zauber flöten. Vor allem, wenn Schönberg inszeniert. Da musst du mit allem rechnen«, widersprach ihm Katharina. »Weißt du nicht mehr, wie er Cherubino in ›Figaros Hochzeit‹ in ein Sadomaso-Outfit gesteckt hat?«

Man konnte nicht behaupten, dass sie eine hohe Meinung vom Wirken des Intendanten hatte, der sich vor drei Jahren berufen gefühlt hatte, die Leitung des Freiburger Theaters zu übernehmen – oder, wie es Katharina ausgedrückt hätte, seit dieser Zeit mit seinen kruden Einfällen so ziemlich jede Aufführung ruinierte, dass man die am schmerzlosesten mit geschlossenen Augen überstand.

»Warum nicht etwas Moderneres? Mozart ist doch schon ein bisschen arg abgedroschen«, meldete sich die Stupsnasige mit skeptischer Miene wieder zu Wort.

»Herr Schönberg ist erfahren genug, um zu wissen, was er macht«, kam Winkler dem Intendanten zu Hilfe, der zunehmend genervt an seiner Fliege herumzupfte.

Was übersetzt bedeutete, dass es dem Oberbürgermeister vollkommen egal war, was am Theater gezeigt wurde. Es war allgemein bekannt, dass Winklers Herz weniger für Kultur denn vielmehr für den SC Freiburg schlug, dessen Spiele er regelmäßig besuchte.

»Anyway – unser geschätzter Intendant hat mir versprochen, dass diese Vorstellung etwas ganz Besonderes werden wird. Und von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, erwarte ich, dass Sie unsere Bemühungen, dem Stadtjubiläum einen solch großartigen Rahmen zu geben, entsprechend würdigen. Wenn möglich, ohne Ihre üblichen Kritteleien.«

»Womit das auch mal wieder gesagt wäre«, zischte Katharina. Von der Freiheit der Presse hatte Freiburgs Rathauschef noch nie allzu viel gehalten.

»Wenn wir gerade bei dem Thema sind – was kostet der ganze Spaß eigentlich?«, rief Katharina nach vorn.

Der Blick, den ihr Winkler zuwarf, hätte selbst den Münsterturm zum Einstürzen gebracht.

Katharina schaute ungerührt zurück.

»Wir werden Ihre Fragen zum gegebenen Zeitpunkt beantworten«, beschied er kurzerhand. Winklers üblicher Kommentar, wenn er nicht mit der Sprache herausrücken wollte. Mit einer Handbewegung und einem halbherzigen »Auf Wiedersehen« entließ er die Medienvertreter. Die Pressekonferenz war früher zu Ende, als Katharina gedacht hatte.

4

»Das ist doch unglaublich. Einfach unglaublich!« Kulturredakteurin Isolde Klagemann war restlos empört. »Kasperletheater mit Laienschauspielern.« Auf ihrem Hals machten sich rote Flecken breit. »Anstatt die einmalige Chance zu nutzen, anlässlich dieses Jubiläums etwas Revolutionäres, Zukunftsweisendes auf die Beine zu stellen, sollen Possen aus Freiburgs Historie aufgeführt werden. Da könnte man ja gleich neunhundert Luftballons in die Luft steigen lassen. Oder weiße Tauben, das wäre genauso banal.« Aufgeregt fächelte sie sich mit der rechten Hand Luft zu.

»Was haben Sie gegen Tauben? Die kamen beim letzten Stadtjubiläum sehr gut an«, mischte sich Erwin, wie immer in einem karierten Hemd, ein.

»Bitte?« Isolde Klagemanns Kopf schoss zu ihm herum, dass ihre graue Lockenmähne nur so flog. »Sie belieben wohl zu scherzen.«

»Nichts liegt mir ferner. Damals stiegen achthundertfünfundsiebzig Tauben gen Himmel. Meine Kinder waren vor Begeisterung komplett aus dem Häuschen.«

»Als gäbe es hier nicht schon genug von den Mistviechern«, meinte einer der Sportredakteure bissig. »Überhaupt ist es mir ein Rätsel, wieso ausgerechnet die als Friedenssymbol auserkoren wurden. Wegen mir könnte man die allesamt vergiften.« Seit ihm letzthin eine Taube einen hässlichen Fleck auf seiner nagelneuen Wildlederjacke eingebracht hatte, als er sich in der Mittagspause eine lange Rote mit extra viel Zwiebeln auf dem Münsterplatz gegönnt hatte, war er sowieso nicht mehr gut auf die Vögel zu sprechen.

»Und die Metzgerinnung präsentierte an der Kaiser-Joseph-Straße badische Wurstspezialitäten«, schwärmte Erwin weiter, ohne den Einwand seines Kollegen zu beachten. »Hat prima geschmeckt.« Mit einer Hand rieb er sich seinen Bauch. »Wenn man dann noch ›Olaf den Flipper‹ für ein Open-Air-Konzert engagieren würde, wäre das doch eine runde Sache, findet ihr nicht?«

Erwin, normalerweise bekennender Fan von Volksmusik, hatte sein bevorzugtes musikalisches Spektrum offensichtlich um den deutschen Schlager erweitert, stellte Katharina amüsiert fest.

»Wie bitte? Ein singender Delfin soll auftreten?«, hakte Dominik irritiert nach. Dank der Gnade seiner späten Geburt hatte er noch nie etwas von der deutschen Combo »Flippers« gehört, die Schlagern wie »Weine nicht, kleine Eva« oder »Die rote Sonne von Barbados« zu Ruhm und Ehre verholfen hatte und deren Sänger auch noch Jahrzehnte später unverdrossen durch die Lande tourte.

Isolde Klagemann rang entsetzt nach Luft.

»Also ich persönlich finde die Idee mit den Laienschauspielern gar nicht so schlecht, auch wenn der Titel ›Freiburg-Protokoll‹ saudoof ist«, wandte sich Katharina rasch an ihre Kollegin, ehe Erwin ausholen konnte, was es mit ›Olaf dem Flipper‹ auf sich hatte. »Oder fällt Ihnen was Besseres ein? Etwas, was ganz normale Bürger und nicht nur eine Handvoll selbst ernannter Intellektueller anspricht?«

Als Frau Dr. Klagemann den Mund zu einer Erwiderung öffnen wollte, schlug Redaktionsleiter Anton Gutmann so fest mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Unterteller seiner Kaffeetasse schepperte. »Schluss jetzt. Zum Glück ist es nicht unser Problem, das Jubiläum zu organisieren. Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns unsere Köpfe darüber zu zerbrechen. Also, wer hat eine Idee, mit welchen Geschichten wir morgen unsere Leser beglücken sollen? Freiwillige vor.« Er sah erwartungsvoll in die Runde. Plötzlich stutzte er. »Wo steckt eigentlich Bambi?«

Die Frage war nicht unberechtigt. Zwar war es nichts Neues, dass der Kollege mit den rehbraunen Augen, die ihm seinen Spitznamen eingebracht hatten, ein kleines Problem mit Pünktlichkeit hatte, doch normalerweise schaffte er es, in letzter Minute zur täglichen Redaktionskonferenz zu erscheinen. Heute jedoch war sein Platz verwaist.

»Verpennt?«, schlug der Sportredakteur vor.

»Oder seine Espressomaschine ist ihm wieder um die Ohren geflogen«, merkte Dominik an. Es war allgemein bekannt, dass Bambi Pleiten, Pech und Pannen jeglicher Art wie ein Magnet anzog. Letzthin hatte er versehentlich die Fernbedienung seines Fernsehers in den Mülleimer geworfen und erst nach stundenlangem Suchen wiedergefunden.

»Sekunde, vielleicht hat er sich ja bei mir gemeldet.« Katharina zückte ihr Handy und checkte die Nachrichten. »›Bin verletzt‹«, las sie laut vor. »›Hatte Unfall mit Laster.‹«

»Um Himmels willen, was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?« Gutmann hörte sich besorgt an.

»Jesses, das klingt aber gar nicht gut«, meinte Erwin beunruhigt.

Selbst Frau Dr. Klagemann war vorübergehend von ihrem Frust über die geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten abgelenkt. »Das bedeutet aber hoffentlich nicht, dass ich heute Überstunden machen muss, wenn der Kollege ausfällt. Ich habe einen Termin bei meiner Kosmetikerin, den kann ich nicht mehr absagen.«

»Verschwendete Zeit«, murmelte Katharina und fing sich mit ihrer Bemerkung einen giftigen Blick von Frau Dr. Klagemann ein.

»Zur Not müssen wir eben irgendwie ohne ihn zurechtkommen«, beschloss Gutmann. »Katharina, du versuchst gleich, ihn zu erreichen. Ich will wissen, was los ist. Zumindest weilt er noch unter den Lebenden, sonst hätte er dir keine Nachricht schicken können.«

Er hatte kaum den Satz zu Ende gesprochen, als sich die Tür öffnete und Bambi hereinkam. Es war nicht zu übersehen, dass er das linke Bein nachzog. Ansonsten wirkte er unversehrt.

»Was hast du denn wieder angestellt? Wir hatten schon Angst, du liegst schwer verletzt in der Uniklinik«, begrüßte ihn Katharina sichtlich erleichtert.

»Und was ist mit dem Laster, mit dem du zusammengestoßen bist? Totalschaden?« Der Sportredakteur gefiel sich mehr und mehr in der Rolle des Redaktionsclowns.

»Zusammengestoßen? Schwer verletzt?«, fragte Bambi ratlos nach. »Wie kommt ihr denn darauf?« Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf ihn, als er sich stöhnend auf den äußersten Stuhlrand setzte.

»Vielleicht wegen der SMS, die du mir geschickt hast«, schlug Katharina vor. »Wenn du was von Unfall mit Laster schreibst, kommt man schon mal ins Grübeln.«

Bambi wurde verlegen. »Da habe ich mich im Eifer des Gefechts wohl etwas missverständlich ausgedrückt. Nein, es war kein Verkehrsunfall. Vielmehr hat meine Vermieterin gerade Besuch von ihrem Enkel. Und der hat im Garten mit seinem Kipplaster gespielt. Natürlich darf der Kleine den nicht mit in die Wohnung nehmen. Wegen Verschmutzungsgefahr, ihr wisst ja, wie eigen die Ahlers diesbezüglich ist. Ergo muss er sein Spielzeug im Hausflur abstellen.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Bambi sein Steißbein, während alle gespannt an seinen Lippen hingen. »Blöderweise hab ich das Teil nicht gesehen, als ich gestern Nacht heimgekommen bin.«

»Und dann bist du im Dunkeln darüber gestolpert?« Dominik wollte es ganz genau wissen.

Bambi wurde verlegen. »Schlimmer. Ich bin versehentlich mit einem Fuß raufgestiegen. Mit der Folge, dass die Kippmulde hochgegangen ist, ich das Gleichgewicht verloren habe und voll auf den Rücken geknallt bin. Im ersten Moment blieb mir regelrecht die Luft weg. Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen.«

Alle starrten ihn an.

Katharina versuchte verzweifelt, nicht in haltloses Gekicher auszubrechen. »Das hätte ich zu gern gesehen.« Die Vorstellung, wie Bambi von einem Spielzeug-Kipplaster zu Fall gebracht wurde, war einfach zu komisch.

»Jetzt lasst den armen Kerl in Ruhe. So etwas kann schließlich jedem passieren«, versicherte Gutmann, krampfhaft bemüht, ein ernsthaftes Gesicht zu machen.

»Finden Sie?«, bemerkte Frau Dr. Klagemann spitz. »Mir ist bislang niemand bekannt, der sich je auf so eine lächerliche Art und Weise verletzt hätte.«

Jetzt prusteten auch Erwin und der Sportredakteur los, und selbst die ewig schlecht gelaunte Layouterin erlaubte sich ein verkniffenes Lächeln.

Allmählich dämmerte es Bambi, dass es seinen Kollegen eindeutig am nötigen Mitgefühl mangelte. »Herzlichen Dank für eure Anteilnahme«, brummte er. »Aber das kennt man ja. Wer den Schaden hat –«

»Wenn wir dann unsere morgige Ausgabe besprechen könnten …«, mahnte Gutmann, dem deutlich anzusehen war, dass er innerlich mal wieder die Tage bis zu seiner Verrentung zählte.

Die Belegschaft riss sich am Riemen, und nach einer halben Stunde war die Besprechung beendet.

Katharina marschierte schnurstracks in die Kaffeeküche, zündete sich eine Zigarette an und stellte sich ans offene Fenster. Ihr Blick wanderte nach unten, wo sich im Innenhof ein schwarzer Kater neben den Mülltonnen sonnte. Er lag regungslos da, nur seine Schwanzspitze zuckte leicht. Ein Bild des Friedens.

Spontan kamen Katharina die kleinen streunenden Katzen in den Sinn, die sie während ihres Urlaubs in Taormina am Busbahnhof regelmäßig mit Dosenfutter versorgt hatte. Bestimmt hatte der Kerl da unten ebenfalls Hunger. Sie ging zum Kühlschrank, griff nach den zwei Frikadellen, die Bambi dort gelagert hatte, und warf sie dem Tier zu.

»Lass es dir schmecken!«, rief sie hinunter. Der Kater zierte sich nicht lange und machte sich über die unerwarteten Leckerbissen her.

Katharina beobachtete geistesabwesend, wie er gierig Bambis Mittagessen verschlang. Lag ihre Auszeit auf Sizilien tatsächlich schon fast zwei Jahre zurück? Die Zeit verging wirklich wie im Flug. Ein fast schon beängstigendes Gefühl. Katharina versuchte, sich die ihrer Meinung nach schönste Stadt auf der Insel in Erinnerung zu rufen. Der Corso Umberto mit seinen Boutiquen und Restaurants, wo sich die Touristen durchschlängelten. Die prächtigen Paläste. Und natürlich das antike Theater, dessen durchbrochene Mauern den Blick auf den Ätna und die Bucht von Giardini-Naxos freigaben. Höchste Zeit, dass sie sich mal wieder einen längeren Urlaub gönnte, egal, wo und mit wem. Sie hätte viel dafür gegeben, jetzt einfach in einen Flieger zu steigen und die Redaktion nebst den dazugehörigen Kollegen hinter sich zu lassen.

»Träumst du mit offenen Augen?« Dominik stand neben ihr.

»Irgendwie schon«, gab Katharina zu. »Ich versuche gerade, mir in dem ganzen alltäglichen Wahnsinn einen Hauch von italienischer Lebensfreude zurückzuerobern.« Sie zog kräftig an ihrer Zigarette. »Ich schwör dir, irgendwann versetze ich den Tee unserer Frau Doktor mit Strychnin. Die wird mit jedem Tag unerträglicher, findest du nicht?«

»Dann ist es ja gut, dass du heute Abend mit Bambi in die Oper gehst. Das bringt dich hoffentlich auf andere Gedanken«, versuchte Dominik, sie aufzumuntern. »Oder willst du, dass dir dein Freund Weber wegen heimtückischen Mordes Handschellen anlegt?«

»Tür zu. Der Rauch zieht bis in mein Büro«, giftete eine weibliche Stimme vom Flur.

»Möglicherweise werfe ich sie auch die Treppe runter«, überlegte Katharina weiter und stieß eine besonders große Rauchwolke aus.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, erwiderte Dominik. »Aber erst, wenn sie mit ihrem Essay über avantgardistische Kunst fertig ist. Oder hast du etwa Lust, dich auch noch damit herumzuschlagen?«

»Gott bewahre. Vorher mache ich freiwillig ein Interview mit ›Olaf dem Flipper‹.« Katharina drückte ihre Zigarette aus und folgte ihrem Kollegen ins gemeinsame Büro.

5

Mannomann. So blöd musste man erst mal sein, sich mir nichts, dir nichts vor der eigenen Haustür in einen Korb stecken zu lassen. Beschämt legte ich meinen Kopf auf die Vorderpfoten. Ob es mir gefiel oder nicht – ich hatte mich naiver als ein Katzenbaby verhalten. Oder wie sonst ließ es sich erklären, dass ich mich derart hatte überrumpeln lassen? Ich hätte nicht einmal sagen können, wie mein Kidnapper ausgesehen hatte. Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass er eine Vorliebe für Sandelholz haben musste, zumindest hatte er den markanten Duft aus jeder Pore verströmt.

Und jetzt lag ich hier in einem schmucklosen Innenhof neben einer Mülltonne, aus der es gewaltig nach verrotteten Bananenschalen stank, und haderte mit mir und der Welt.

Die Nacht zuvor hatte ich im Colombipark verbracht, nachdem man mich nach meinem unfreiwilligen Theaterauftritt gnadenlos vor die Tür gesetzt hatte. Nach der ganzen Aufregung hatte ich mir den weiten Heimweg ersparen wollen. Und eigentlich war ich der Meinung gewesen, dass der Park mit seinem hübschen Schlösschen inmitten der Stadt ein reiner Hort der Idylle und des Friedens war, wo ich zum melodischen Gesang einer Nachtigall in aller Ruhe über das Geschehene nachdenken könnte.

Ein gewaltiger Irrtum, wie sich herausgestellt hatte. Ich war bei Weitem nicht der Einzige gewesen, der sich dort im Schutz der Dunkelheit herumtrieb. Gemessen an der Menge von Drogen, die zwischen Büschen und Bäumen blitzschnell den Besitzer gewechselt hatte, musste sich heute halb Freiburg in einer Art Delirium befinden.

Einer der Jungs in den schwarzen Hoodies, die das Zeug wie Bonbons unters Volk streuten, hatte mir sogar großzügig einen Keks angeboten, den ich allerdings verschmähte, da ich mir nicht sicher war, wie viele bewusstseinserweiternde Substanzen das Gebäck enthielt. Im Gegensatz zu anderen brauchte ich einen klaren Kopf.