Meißner, Regina Seductio – Von Schatten verführt

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de




© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller
Covermotiv: Adobe Stock: © robsonphoto © konradbak © Виталий Сова © llhedgehogll



Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kapitel 1

Gedankenverloren verstaute ich die weiße Engelsfigur im Karton zu meinen Füßen. Mehrmals in Papier geschlungen, hoffte ich, dass sie den Umzug überstehen würde. Vorsichtig drapierte ich die restlichen, zerbrechlichen Gegenstände neben ihr und wandte mich dem Regal zu, das rechts neben meinem Bett stand. Mittlerweile konnte man meine Habseligkeiten mühelos abzählen, weshalb das Zusammenpacken immer schneller ging. Hatte ich am Anfang noch mehrere Stunden benötigt, war die Sache nun in zwanzig Minuten über die Bühne gebracht. Ich kaufte nichts mehr, ich staute nichts mehr an, weil es sich nicht lohnte, sein Herz an etwas zu hängen, das von einem Ort stammte, den man nie wiedersehen würde. Wenn ich eine Lektion in meinem Leben gelernt hatte, dann die, dass Menschen Erinnerungen viel zu hoch schätzten und sich an das Wort Abschied klammerten wie an ein untergehendes Schiff. Erinnerungen waren nicht nur schmerzhaft oder zerstörend, sie waren vor allem sinnlos. Vergangenes war geschehen und niemand in der Lage, etwas daran zu ändern. Und Abschied? Jahrelang hatte ich gebraucht, um ein Meister in dem zu werden, das sich Auf-Wiedersehen-Sagen nannte. Ungern dachte ich an die vielen, verschwendeten Tränen zurück, die geflossen waren und mich verweichlicht hatten. Zum Glück war damit Schluss.

Langsam schloss ich den Deckel des Pappkartons und ging in die Hocke, um ihn besser in beide Hände nehmen zu können. Ich war überrascht, als ich ihn scheinbar mühelos auf dem Tisch abstellte. Noch etwas hatte sich geändert: Die Kartons waren leichter geworden. Ich seufzte. Der Anblick des leeren Zimmers kam mir bekannt vor. Kein Wunder, denn vor gerade einmal einundsechzig Tagen hatte es hier genauso ausgesehen. Kahle Wände ohne Bilder, ein Boden ohne Teppich, ein Raum ohne Seele. Desinteressiert zuckte ich mit den Schultern, setzte mich auf den letzten Stuhl und faltete meine Hände im Schoß. Die Beine übereinanderlegend, fiel mein Blick noch einmal auf die kargen drei Kartons, die nebeneinander auf dem Tisch standen. Es war erniedrigend, sein ganzes Leben derart komprimieren zu können. Einem anderen wären bei diesem Anblick die Tränen gekommen, aber ich tat jegliche Sentimentalität mit einem Schulterzucken ab.

»Ivory, bist du fertig?«

Es war Tante Grace, die überstürzt in das Zimmer gerannt kam und am Türrahmen stehen bleiben musste, um auszuatmen. Die einstige Ordnung ihrer Hochsteckfrisur konnte man kaum noch erkennen, da sich Hunderte Strähnen unordentlich ihren Weg aus dem Knoten gebahnt hatten. Schmerzhaft erkannte ich schon zum zweiten Mal in dieser Woche, dass Grace’ Gesicht nicht mehr ganz so jung aussah wie in meiner Kindheit. Ihr früher dunkelbraunes Haar musste nun Platz machen für graue Strähnen. Wenn sie lächelte, erschienen um ihren Mund die ersten Falten, und auch Grace’ Augen wirkten in letzter Zeit matt und ausgelaugt. Dies färbte aber nicht auf ihr Wesen ab.

»Ja«, beantwortete ich meiner Tante die eben gestellte Frage. Ich sah, wie Grace’ Blick sehnsüchtig durch den Raum wanderte und schließlich an mir hängen blieb.

»Ich habe gehofft, dass es dieses Mal für länger ist«, flüsterte sie in einem Tonfall, der mir die Kehle zuschnürte.

»Wie gesagt, ich bin fertig«, entgegnete ich schnell und strich mir durch die Haare. Geschäftig sprang ich auf, nach einem der Kartons greifend.

»Ich lade ihn schon mal in den Transporter, okay?«

Ohne Tante Grace’ Antwort abzuwarten, schlängelte ich mich an ihr vorbei durch die Tür. Wir bewohnten das Erdgeschoss eines Neubaus mitten in Greenville.

Unter Menschen kann man leicht untertauchen. Hier werden sie dich bestimmt nicht finden, Ivory.

Ich biss die Zähne zusammen, als ich mich an Grace’ Worte erinnerte, die sie vor zwei Monaten noch voller Optimismus vorgetragen hatte.

Man sah ja, was daraus geworden war. Mit einundsechzig Tagen Aufenthalt verteidigte Greenville die Spitzenposition all meiner bisherigen Versuche, neu anzufangen.

»Du brauchst keinen Schlüssel, ich habe das Auto aufgelassen«, verkündete Grace, die hinter mir erschienen war und Karton Nummer zwei in ihren Händen hielt.

Ich nickte, stellte die Schachtel vor mir auf den Boden und öffnete den geräumigen Kofferraum des braunen Transporters.

»Ich denke, in Des Moines wird es besser werden.«

»Was soll denn da anders sein?«, schoss ich zurück und schaute meine Tante herausfordernd an.

Sie kam ins Straucheln, spielte nervös an ihren Fingern herum.

»Wir können neu anfangen … Niemand kennt uns …«, stammelte sie vor sich hin.

Energisch schlug ich die Tür zum Kofferraum zu. Grace zuckte zusammen.

»Wir werden es dieses Mal einfach geschickter angehen. Sie wissen nicht, dass wir uns Des Moines ausgesucht haben. Es wird Monate, vielleicht Jahre dauern, bis sie uns gefunden haben. Immerhin sind es über achthundert Meilen, die wir fahren müssen.«

»Das vorletzte Mal waren es zweitausend, und sie haben uns trotzdem nach einem halben Jahr gefunden«, konterte ich.

»Ach Ivory, ich weiß ja auch nicht.«

»Dann sag auch nichts. Ich hole jetzt die dritte Schachtel und deine Sachen. Dann kann es losgehen.«

Es war Grace’ Seufzen, das mich bis in die Küche begleitete.

 

Im Gegensatz zu mir war meine Tante eine leidenschaftliche Sammlerin. Sie hatte eine Schwäche für kleine Porzellanfiguren und hätte sich wohl eher selbst geopfert, als eine der Kreaturen wegzugeben. Ich wusste nicht, woher eine vierundfünfzigjährige Frau die Ausdauer nahm, jedes Mal neu anzufangen. Woher sie das Durchhaltevermögen hatte, ihr Leben immer wieder aufzubauen. Woher sie die Kraft nahm, an jedem unbekannten Ort die herzensgute und freundliche Frau zu bleiben, die sie war.

Stöhnend zählte ich die braunen Kartons durch, die sich über den gesamten Boden der Küche verteilten. Schließlich stapelte ich die ersten zwei übereinander und steuerte noch einmal den Weg zu unserem Transporter an.

»Pass auf, dass du nicht zu viel auf einmal trägst, Schätzchen …«, eröffnete meine Tante mir, doch ich quittierte ihre Bemerkung mit einem nichtssagenden Blick. Wir mussten diesen Ort ohnehin verlassen – dann konnte das Ganze auch schnell gehen.

Der Kofferraum, den ich eben in einem Anflug von Wut zugeschlagen hatte, war schon wieder geöffnet.

»Ich weiß nicht, wie du es immer schaffst, deine ganzen Sachen in bloß drei Umzugskartons zu quetschen.«

Ich hielt inne, während ich Grace für einen Moment bedeutungsschwer anschaute. Doch als ein entschuldigendes Lächeln ihre Mundwinkel besiedelte, verzichtete ich auf eine Antwort. Vielleicht war es sogar besser, sie in dem Glauben zu lassen, ich besäße immer noch so viel wie damals als kleines Kind. Manchmal war es einfacher, die Augen vor der Realität zu verschließen. Denn eine wunderschöne Lüge konnte wohltuender sein als die grausame Wahrheit. Grace sah nur das, was sie sehen wollte. Sie nahm die leeren Regale in meinem Zimmer nicht wahr, sondern nur das eine volle, in das ich meine Habseligkeiten gestellt hatte. Sie erkannte meinen dunklen Kleidungsstil nicht an, weil sie mich noch immer in den bunten Frühlingskleidern meiner Kindheit sah.

Nachdem ich alle siebzehn Umzugskartons mehr oder weniger sicher im Laderaum des Transporters verstaut hatte, ging ich noch einmal in mein Zimmer, um meine Jacke zu holen. Ich schloss die Tür hinter mir, ohne noch einen Blick auf das Steingebäude zu werfen, das in den letzten einundsechzig Tagen mein Unterschlupf gewesen war.

»Hast du den Schlüssel dem Vermieter gebracht?«, fragte ich meine Tante und setzte mich neben sie auf den Beifahrersitz.

Sie nickte.

»Walter hat ihn heute Morgen bekommen.«

Geschickt manövrierte Grace das wuchtige Auto aus der engen Einfahrt, drehte und fuhr die bevölkerte Straße hinunter. Selten flohen wir tagsüber. Meistens warteten wir auf die Dämmerung, da es einfacher war, zu verschwinden. Doch besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen.

»Wo genau hast du ihn gesehen?«, fragte meine Tante, als wir schon ein Stück des Weges hinter uns gebracht hatten.

Genervt sah ich sie von der Seite an.

»Ich habe dir doch schon alles gesagt, was ich weiß«, sagte ich gedehnt.

»Ivory, bitte.«

Ich stöhnte.

»Gestern Abend an der Grenze zu Urbandale.«

»Und du bist ganz sicher, dass es einer von ihnen war?«

»Ja, doch!«, beteuerte ich. »Ich weiß, wie sie aussehen.«

»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass sie uns dieses Mal finden. Ich meine, wir haben doch alles richtig gemacht! Ein neues Haus, eine Großstadt, neue Namen.«

Freudlos lachte ich auf.

Mehr aus Langeweile als aus Interesse öffnete ich die schwarze Geldbörse, die im Handschuhfach lag. Vorsichtig zog ich den gefälschten Ausweis aus einem der Fächer. Ein fremdes Mädchen lächelte mich scheu an. Veronica Sevens. Geboren 1994, gestorben vor einem Jahr. Aber das wusste natürlich niemand. Warum auch? Immerhin gab es nun jemanden, der ihre Identität übernahm. Mich.

»Können wir die Ausweise behalten?«, fragte ich Grace.

»Ich hatte bisher keine Zeit, neue zu besorgen«, gestand sie.

»Aber ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Immerhin hat dieser Mann dich ja nur gesehen. Er weiß nicht, wie du heißt, und kann demnach mit einem Namen nichts anfangen.«

Ich steckte den Ausweis zurück in sein Fach und schloss das Portemonnaie.

»Wir werden nach dreihundert Meilen eine kleine Pause einlegen. Ein Zimmer habe ich dieses Mal nicht gebucht, dafür fehlt uns die Zeit.«

Ihre Gedankengänge plätscherten an mir vorbei wie ein Regenschauer. Desillusioniert starrte ich aus der dreckigen Fensterscheibe und gab mich dem Bild hin, das zu einem Teil meines Lebens geworden war.

Geschwindigkeit. Bäume, Autos, Straßen, alles verging. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, der ihre Silhouetten einfing und sie sofort wieder verschwinden ließ. Es beruhigte mich, dass in der Welt viel mehr Illusion war, als es der Schein versprach.

»Hast du Hunger, Schätzchen?«

Mein Blick war ausdruckslos, als ich mich von der Fensterscheibe abwandte.

»Nein.«

»Du hast bestimmt den ganzen Tag noch nichts gegessen.«

Stimmt.

»Doch.«

»Du musst mehr auf deine Ernährung achten, Ivory.«

Mein Blick wandte sich wieder der Fensterscheibe zu. Graue Schatten, die sich trafen, um zu verschmelzen. Kleine, silbrige Tropfen, die sich in etwas viel Größeres, Gigantischeres verwandelten. Es regnete.

»Na, das hat uns ja gerade noch gefehlt! Manchmal kommt es mir vor, als ob sich das Schicksal gegen uns verbündet hat. Kannst du dich an eine einzige Reise erinnern, auf der wir mal gutes Wetter hatten?«

Reise.

Tante Grace sprach immer von einer Reise. Niemals von einer Flucht.

»Jetzt kommt auch noch eine Baustelle!«

Donner grollte. Mit gemischten Gefühlen sah ich in den wolkenverhangenen Himmel.

»Ich habe fest eingeplant, morgen Nacht anzukommen! Ich mag es nicht, wenn ich meine Pläne ändern muss.«

Ungeduldig trommelte Tante Grace mit ihren Fingern auf dem Lenkrad herum. Abwechselnd blickte sie auf die Uhr und auf die rote Ampel. Als diese auf Grün umschaltete, fuhr Grace etwas zu forsch an.

Ich war vier gewesen, als wir das erste Mal fliehen mussten. Erschreckend genau erinnerte ich mich an das Gesicht meiner Tante, als sie in mein Zimmer trat, während ich gerade mit einer Puppe spielte. Ihr sorgenverhangener Blick hatte mich nicht weiter irritiert – schließlich sah sie immer etwas nachdenklich aus.

»Ivory, ich muss mit dir reden.«

»Was ist?« Übermütig ließ ich Layla Purzelbäume schlagen. Zu ihrer Geburtstagsfeier hatte ich ihr ein feines rosa Seidenkleid angezogen.

»Du hast Layla noch nicht gratuliert!«, rief ich.

»Das mach ich später, Schätzchen, versprochen. Aber könntest du Layla vielleicht für einen Moment weglegen?«

Enttäuscht sah ich meine Tante an.

»Du hast aber gesagt, dass …«

»Es ist wirklich wichtig. Gib mir ein paar Minuten.«

»Na schön.« Wenig begeistert legte ich Layla in ihr Bett.

»Setz dich doch bitte mal zu mir, Ivy«, bat meine Tante.

Mühsam stand ich auf und ging zu dem blauen Sessel. Grace fasste mich unter den Armen und zog mich auf ihren Schoß.

»Ich muss etwas sehr, sehr Wichtiges mit dir besprechen, Ivy. Versprichst du, dass du mir gut zuhörst?«

Ich nickte.

»Na schön, Schätzchen. Weißt du … wir werden bald auf eine lange Reise gehen …«, begann sie.

»Ich kann dir noch nicht sagen, wo es hingeht und wann … ob … wir wieder nach Hause können, aber … Ivy, ich habe dir doch mal die Geschichte von dem Mann im Park erzählt, oder?«

Wieder nickte ich.

»Was … was hat dieser Mann gemacht, Ivy?«

»Er hat einer Frau sehr wehgetan«, antwortete ich artig.

»Ja, das hat er.«

Tante Grace schwieg einen Moment. Dann schaute sie mich wieder an.

»Ivory, dieser Mann war böse. Ich habe dir damals gesagt, dass er dir nichts anhaben kann, und auch wenn ich nicht gelogen habe, muss ich dir nun etwas sagen. Es … auf der Welt gibt es Menschen, die meinen es nicht immer gut. Die Männer, von denen ich rede, kennst du nicht. Sie haben dich bisher nicht besucht.«

»Sind sie böse?«

Langsam nickte Tante Grace.

»Ja. Sie sind böse.«

»Auf mich?« Erschrocken riss ich den Mund auf.

»Ja, Ivy, leider. Diese Männer sind sehr böse auf dich.«

Ich sah, wie Tante Grace ihre linke Faust vor den Mund presste und leise zu schluchzen begann.

»Weinst du?«, fragte ich und streckte meine Hand nach ihrem Gesicht aus. Doch Grace schüttelte energisch den Kopf.

»Tut mir leid, Ivy. Ich … ich war mit den Gedanken woanders.«

»Warum sind die Männer böse?«, hakte ich nach.

Tante Grace seufzte und legte die Arme um mich.

»Ich habe gehofft, dass du nicht so früh lernen musst, wie ungerecht die Welt manchmal ist.«

»Ich habe aber nichts Böses gemacht!«, platzte es da aus mir heraus. Plötzlich hatte ich eine irrsinnige Angst, bestraft zu werden, sodass ich meine Zunge nicht mehr zügeln konnte.

»Ich … wirklich! Ich war nur in meinem Zimmer und habe mit Layla gespielt! Wirklich. Tante Grace, du musst mir glauben!«

»Ach, Ivy, du hast doch gar nichts gemacht«, beteuerte sie und schüttelte traurig den Kopf.

»Gerade das ist ja das Ungerechte an der Sache. Du selbst hast diese Männer nie gesehen, und doch … werden sie böse zu dir sein, wenn sie dich finden.«

Ein Schauer der Angst kroch meinen Rücken hinauf. Gänsehaut benetzte meine Haut und ich begann zu frieren.

»Genau deshalb müssen wir von hier weg, Ivory. Diese Männer dürfen nicht wissen, wo du bist. Verstehst du, dass wir auf eine Reise gehen müssen?«

Langsam nickte ich.

»Können die Männer mir dann noch was Böses tun?«, fragte ich ängstlich und verkroch mich unter dem weiten Oberteil meiner Tante. Im Verborgenen streichelte sie mein Gesicht.

»Nein, Schätzchen. Natürlich nicht. Wenn wir erst einmal sicher sind, können sie dir nichts mehr anhaben.«

Erleichtert atmete ich aus. Meine Tante hob ihren Pullover an und lächelte vorsichtig.

»Wir werden noch heute Abend losfahren.«

»Darf ich Layla mitnehmen?«, fragte ich ungeduldig.

»Natürlich!«, bestätigte meine Tante.

»Am besten packe ich schon mal ein paar deiner Kleider zusammen. Und Schuhe … die brauchst du natürlich auch.«

Tante Grace setzte sich einen Moment zu mir. Sie war sehr leise, und als ich sie anschaute, standen Tränen in ihren Augen.

 

»Kannst du mal schauen, ob wir da vorn abbiegen müssen, Ivy? Ich habe es auf den Zettel geschrieben.«

Mit einer umständlichen Bewegung deutete Grace auf ein zusammengefaltetes Stück Papier, welches im Beifahrerfach untergebracht war. Ich nahm es heraus und las die entsprechenden Ortsnamen vor. Schon im ersten Drittel unterbrach sie mich.

»Okay, dann müssen wir hier auf dem Highway bleiben. Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass wir noch nicht vom Weg abgekommen sind!«

Wir fuhren nur wenige Meter, da setzte meine Tante erneut an.

»Du bist so schweigsam, Ivory. Geht es …«

»Ich will nur schlafen«, konterte ich. »Ich bin heute Nacht spät ins Bett und will Schlaf nachholen.«

Bevor Grace etwas entgegnen konnte, drehte ich mich auf die Seite und schloss provisorisch die Augen. Nie im Leben würde ich unter diesen Umständen einnicken können. Aber das musste sie ja nicht wissen.

Auszug aus dem Dunklen Buch

21.01.1994–30.8.1998: New Haven, Connecticut

31.08.1998–03.03.2000: Waterbury, Connecticut

05.03.2000–16.05.2002: Cleveland, Ohio

17.05.2002–07.07.2003: Louisville, Kentucky

08.07.2003–12.01.2004: Anderson, Indiana

14.01.2004–18.10.2008: Thornton, Colorado

19.10.2008–04.04.2010: Dallas, Texas

05.04.2010–24.12.2010: Phoenix, Arizona

25.12.2010–30.12.2010: Albuquerque, New Mexico

31.12.2010–12.07.2012: Santa Fe, New Mexico

14.07.2012–29.01.2013: Kearney, Nebraska

Ab 01.02.2013: Greenville, Mississippi

Kapitel 2

Des Moines war groß, unübersichtlich und hässlich. Unzählige Wolkenkratzer reihten sich dicht an dicht aneinander und verliehen dem Himmel eine bedrohliche Farbe. Es gab wenige Grünflächen – und wenn doch, waren diese von Menschen angelegt. Parks, Golfplätze und Rasen zum Fußballspielen.

Tante Grace fuhr mittlerweile langsamer. Ihre Hektik hatte sich gelegt, Panik ergriff von ihren Augen nicht länger Besitz. Wir waren an unserem Ziel angekommen. Dies beruhigte sie offensichtlich.

Schon nach wenigen Minuten hatte ich es satt, aus dem Fenster zu schauen. Menschenmassen überquerten kontinuierlich die Straßen, blickten entweder stur auf den Boden oder gehetzt auf ihre Armbanduhr. Es wimmelte von Anzugträgern in den Dreißigern.

»Viele bekannte Persönlichkeiten stammen aus Des Moines«, sagte meine Tante und klang dabei wie eine Reiseleiterin.

»Bill Bryson ist hier geboren, genauso wie Anthony Parker oder Thompson Ferguson. Der Flughafen ist unweit des Stadtzentrums. Außerdem gibt es hier viele Museen, die dir bestimmt gefallen werden.«

Museen? In meinem Lachen lag Hass.

Seit wann besuchte man Museen dort, wo man zu Hause war?

»Unsere Wohnung liegt nicht weit vom Zentrum entfernt. Mit dem Bus wirst du leicht in die Innenstadt kommen, vielleicht sogar zu Fuß. Wusstest du, dass dein Vater auch einmal hier im Urlaub war?«

Für einen kurzen Moment wurde ich hellhörig.

»Ja?«, fragte ich, wenn auch zögernd.

»Ja. Das war lange bevor er deine Mutter kennengelernt hat. Er hat diese Stadt immer als offenherzig und sehr vielseitig beschrieben.«

Grace’ Lächeln war alles – nur nicht ansteckend.

»Wie wir wissen, hatte mein Vater nicht die beste Menschenkenntnis«, zischte ich und schaute wieder aus dem Fenster. Eine ältere Frau nahm auf einer Parkbank Platz und streichelte ihren haarigen Hund liebevoll. Schließlich blickte sie sorgenvoll in den Himmel, der auch hier von dunklen Regenwolken behangen war.

»Geh nicht so hart mit ihm ins Gericht, Ivy«, versuchte Grace zu schlichten. »Dein Vater hatte es nicht immer leicht und musste zeit seines Lebens Entscheidungen treffen, die Konsequenzen mit sich gebracht haben. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er es jemals böse gemeint hat.«

»Man muss Menschen nicht in Schutz nehmen, nur weil sie ein schweres Schicksal haben. Jeder ist für seine Entscheidungen selbst verantwortlich, und er hat ein paar Fehler zu viel gemacht.«

Während wir an einer roten Ampel hielten, seufzte Grace.

»Was hättest du an seiner Stelle getan, Ivory?«, fragte sie dann und blickte mich besorgt an.

»Das, was von mir verlangt wird. Meine Pflicht.«

»Ivory, du wirst irgendwann lernen, dass es Situationen gibt, in denen man nicht immer rational handeln kann. Dein Vater hat damals jemanden getroffen …«

»Und deshalb verzeihst du ihm? Weil er sich verliebt hat? Grace, ich bitte dich! Man wird sich doch selbst unter Kontrolle haben! Mein Vater wusste genau, dass es ein Fehler war, sie aus ihrer Welt zu lassen!«

»Aber er war blind vor Liebe und konnte nicht mehr klar denken.«

»Er hätte diese Hure niemals ansehen dürfen!«

»Ivy, bitte!«

Ich schloss die Augen und drehte mich weg, bevor Grace sehen konnte, dass sich mein Gesicht in eine verbitterte Fratze der Wut verwandelt hatte. Der Jähzorn war mein ärgster Feind, seit ich denken konnte. Alle anderen Gefühle konnte ich kontrollieren, aber die Wut erwischte mich schlagartig. Bisher hatte ich kein Rezept gegen sie gefunden.

»Wie lange brauchen wir noch?«, fragte ich, als mir Grace’ enttäuschter Blick auffiel. Immer, wenn ich sie so sah, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Sie hatte es nicht verdient, Zielscheibe meiner Launen zu werden. Sie hatte mich aufgenommen, als kein anderer da gewesen war. Dafür schuldete ich ihr weit mehr als ein bisschen Freundlichkeit.

»In einer Viertelstunde müssten wir da sein.«

»Und …« Verzweifelt suchte ich nach weiteren Fragen, die ich stellen konnte. Fragen, die sie davon ablenkten, über meine Kommentare nachzudenken.

»Habe ich mein eigenes Zimmer?« Die Frage war nicht nur dumm und unreif, sie klang zudem gar nicht nach mir. Ivory, die sich sonst in fremde Betten legte, ohne vorher die Räume anzuschauen, wollte nun wissen, ob sie in einer Stadt, die sie nicht kümmerte, einen Platz für sich hatte, den sie sowieso nach kurzer Zeit wieder würde verlassen müssen.

»Ja. Natürlich. Wir haben uns doch darauf geeinigt, dass jeder von uns Privatsphäre braucht.«

Noch immer schaute Grace starr geradeaus.

»Das ist … schön.« Ich rang mir ein unglaubhaftes Lächeln ab.

»Ivory, du musst nicht krankhaft versuchen, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Vielleicht ist es besser, wenn wir in der Wohnung erst mal für uns sind, bevor es Abendessen gibt.«

Wenig überzeugt nickte ich. So jähzornig ich auch war – mein Bedürfnis nach Harmonie war größer. Ich hasste es, wenn meine Tante wütend auf mich war. Trotzdem hielt mich Grace’ Mimik davon ab, noch etwas zu sagen. Mit gemischten Gefühlen nahm ich die vielen Straßen zur Kenntnis, die alle gleich aussahen.

»So. Das hier müsste es sein.«

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als der Transporter vor einem unscheinbaren Backsteinhaus stehen blieb.

»Wir räumen die Sachen ein, dann werde ich das Auto verstecken gehen.«

Stumm nickte ich.

»Welcher Stock?«

»Erster.«

Müde von der Fahrt öffnete ich die schwere Tür.

»Hast du schon den Schlüssel?«

»Nein. Wir sollen bei einer Nachbarfamilie klingeln. Den Monroes. Anscheinend hat der Vermieter ihnen alles gegeben.«

Ich ging auf das Haus zu, dankbar, etwas tun zu können.

 

Die Monroes bewohnten die erste Etage des Hauses. Ich musste zweimal klingeln, ehe eine quäkende Stimme durch die Sprechanlage hallte.

»Ja?«

»Ich bin Veronica Sevens. Meine Mutter und ich sind neu hierher gezogen.«

»Sie sind wegen der Wohnung da?«

»Ja.«

»Kommen Sie hoch. Mein Mann wird Ihnen den Schlüssel geben.«

Beherzt drückte ich gegen die stabile Tür. Ein Summen ertönte und ließ mich eintreten. Ich schaute mich im Treppenhaus nicht um. Zu oft hatte ich schon die unpersönlichen Verbindungen der einzelnen Wohnungen gesehen. Schnell stieg ich die Treppen zum ersten Stock hinauf und sah, dass die Tür bereits offen stand. Ein dicker, griesgrämig aussehender Mann in einem weißen T-Shirt wartete auf mich.

Immer, wenn ich einem Fremden nahe kam, blieb mein Herz für einen Moment stehen. Ich konnte nichts dagegen tun – diese Reaktion war ein Teil von mir geworden wie meine verschlossene Art und der Jähzorn. Mittlerweile konnte ich die Schatten schnell erkennen, ein paar Blicke genügten, um sie einzuordnen. Und doch stockte mir jedes Mal der Atem, wenn ich einem Fremden so nah gegenüberstand, ohne dass ich mit Sicherheit wusste, welcher Natur er war.

Da ist nichts an seinem Hals.

Unbemerkt atmete ich aus.

»Hier haben Sie das Ding. Und wenn der Vermieter noch mal glaubt, uns belästigen zu müssen …«

Angewidert schaute ich auf die dicken Wurstfinger des Mannes, zwischen denen er eine Ansammlung von drei Schlüsseln hielt. Gab es eine Möglichkeit, sie zu bekommen, ohne seine Hände berühren zu müssen?

»Na, worauf warten Sie? Sie wollen doch den Schlüssel, oder?«, blaffte er unfreundlich.

»Sicher.« Ich biss die Zähne zusammen und zog ihm den Bund aus der Hand. Verstohlen wischte ich mir die Finger an meiner Hose ab.

»Ich hoffe, ihr seid nicht so laut wie die Vormieter. Den ganzen Tag haben sie rumgeschrien und sich dann auch noch Musiker genannt!«, schimpfte der Mann vor sich hin. Ich lächelte nervös.

Scheppernd ließ er die Tür ins Schloss fallen. Ich ging mit dem Schlüssel in der Hand herunter ins Erdgeschoss. Wortlos reichte ich meiner Tante den Bund.

»Das ging ja schnell«, kommentierte sie und stellte die erste Kiste schnaufend auf den Boden. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen.

»Sind unsere Nachbarn nett?«

Ich zog die Augenbrauen hoch und verzichtete auf jegliche Erwiderung. Stattdessen half ich meiner Tante, die anderen Kartons auszuladen.

Unsere Wohnung war klein. Ich spürte die Enge schon, als ich im dunklen Flur stand. Grace und ich passten nicht aneinander vorbei. Einer von uns musste sich in der Schräglage positionieren, sodass der andere durchgehen konnte. Das zweite Manko stellte das nicht vorhandene Licht dar. Man fühlte sich wie in einer Dunkelkammer. Wahrscheinlich würde selbst um die Mittagszeit die Sonne kaum durch die winzigen Fenster scheinen.

»Packst du schon mal aus, Ivy? Dann kümmere ich mich solange um das Auto.«

»Klar. Versteck es nicht zu weit weg, es wird bald dunkel.«

Tante Grace lächelte.

»Aus dir ist ein gutes Mädchen geworden, Ivy.«

Ich zuckte mit den Schultern und schob nacheinander meine drei Kartons in die Nische, die ich fortan bewohnen würde. Das Mobiliar war übersichtlich – ein Bett, ein Schrank, ein Tisch. Ich hatte nicht mehr erwartet. Seufzend öffnete ich den Deckel der ersten Kiste. Wie oft war ich nun schon genau in dieser Situation gewesen? Einpacken, auspacken, so ging es mein Leben lang. Blindlings legte ich meine Kleidung in den Schrank, drapierte die wenigen Bücher, die ich besaß, auf dem Schreibtisch, gleich neben der weißen Engelsfigur. Nachdenklich schaute ich sie an. Der Engel war etwa so groß wie eine ausgestreckte Hand und unheimlich genau ausgearbeitet. Bis in die kleinsten Details schien er fehlerlos zu sein. Vor allem die Flügel raubten mir immer wieder den Atem. Wie solche Muster auf Porzellan möglich waren, konnte ich mir nicht erklären. Ich hing mein Herz nicht an materielle Dinge – und doch würde ich mich nie von diesem kleinen Engel trennen, der eingeknickt auf einem Stein saß und weinte. Diese Figur war das Einzige, was mich an meine Mutter erinnerte. Am Tag des Unfalls hatte sie mir ein Polizist in die zitternden Hände gedrückt. Seitdem behandelte ich die Skulptur wie meinen größten Schatz. Zärtlich fuhr ich über das Porzellan.

Langsam ging ich auf den Spiegel zu, welcher in der Mitte des Kleiderschranks angebracht war. Ich würde eine Decke brauchen, um ihn abzuhängen.

 

»Ich habe einen guten Platz für den Transporter gefunden. Unweit unseres Hauses ist ein kleiner Wald. Da habe ich ihn geparkt. Falls ich in den nächsten Tagen etwas Besseres finde, werde ich ihn noch einmal wegfahren.«

»Okay.«

»Hast du schon angefangen, auszupacken?«

Ich wusste nicht, wieso ich mich um einen beschwingten Tonfall bemühte.

»Ja. Ich bin sogar fast fertig.«

»Wie gefällt dir dein Zimmer?«

»Es ist … übersichtlich.«

Grace nahm neben mir in der Küche Platz. Sie schaute mich so lange an, bis ich beschämt den Blick senkte.

»Ivy … wieso trägst du deine Haare nie mehr offen? Sie sind so wunderschön …«, flüsterte sie. Vorsichtig griff sie nach der langen Strähne, die sich aus meinem Zopf geschlichen hatte. Schnell nahm ich sie und verstaute sie im Haargummi.

»So ist es praktischer«, entgegnete ich nur.

»Es ist wirklich schade. Ich glaube kaum, dass dir jemand widerstehen könnte, wenn er dich in deiner vollen Pracht sehen würde.«

Ein Stich fuhr durch mein Herz.

»Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird.«

»Ach, Ivy.« Grace seufzte. »Du musst nur noch zwei Jahre durchhalten. Dann hast du es geschafft.«

»Ich weiß.«

»Nach dieser Zeit bist du eine freie Frau. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du kannst noch einmal umziehen … oder hierbleiben. Du kannst Karriere machen, heiraten, Kinder bekommen … was immer du willst.«

Während ich an die Zukunft dachte, die Grace mir ausmalte, legte ich den Kopf schief. Ich sah mich in verschiedenen Bildern, aus verschiedenen Perspektiven, aber keine schien recht zu passen.

»Sag mir, was willst du machen, wenn du frei bist?«

»Ähmm …«

Ich war überfordert. Mein ganzes Leben hatte sich nur um diese eine Sache gedreht. Gedanken an eine mögliche Zukunft erlaubte ich mir nicht.

»Du musst doch irgendwelche Träume haben!«

Ja, die hatte ich. Und sie waren beängstigend. Jede Nacht rissen sie mich aus dem Schlaf und brachten mich dazu, mir die Hand vor den Mund zu pressen. Damit ich nicht schrie. Damit Grace nicht wusste, dass die Angst auch in mir wohnte.

»Keine Ahnung.« Ich blieb unbestimmt.

»Mh.« Grace sah mich kritisch an.

»In der Schule hast du doch Biologie sehr gemocht, nicht wahr?«

»Es … war eines der besseren Fächer«, gab ich nach einem Zögern zu.

»Nun ja«, fabulierte meine Tante, »du könntest dich an einer der Unis einschreiben und Naturwissenschaften studieren.«

Ja, das könnte ich. In einem anderen Leben, mit einem anderen Namen und einer anderen Perspektive könnte ich es.

»Deine Mutter hat sich zu ihrer Zeit auch sehr für die Umwelt interessiert, Ivy. Sie wäre sicherlich stolz auf dich.«

Betreten schaute ich Grace an, unfähig, etwas zu sagen.

»Wie auch immer, Schätzchen. Ich packe nun meine Sachen aus. Wenn du willst, kannst du ja solange etwas lesen oder fernsehen.«

Lächelnd verließ sie das Zimmer. Ich schlang die Arme um meinen Körper, weil ich mich urplötzlich schrecklich einsam fühlte.

Auszug aus dem Dunklen Buch

Oh, welch Schatten hängt über Embonis,

seit Wolken die Sterne vertrieben.

Oh, welch Trauer umgibt unser Land,

seit Gras nicht mehr wachsen kann.

Oh, welch Hass liegt in der Luft,

seit Liebe im Keim erstickte.

Ein Märchen aus alter Zeit

erzählt noch von einstiger Pracht.

Wie können Worte Wahrheit werden?

Wenn selbst Liebe Lügen kennt?

– frei nach »Das Ende der Dinge« von Raymond Hill –

Kapitel 3

Heute habe ich das erste Mal einen von ihnen aus nächster Nähe gesehen. Es kam mir komisch vor, denn ich habe immer gedacht, dass mir ihr Anblick Angst machen wird. Aber so war es nicht. Als meine Tante mich hart am Arm packte, um mich von ihm wegzuziehen, war mein Blick gebannt auf ihn gerichtet. Ich hatte mir die Schatten immer größer vorgestellt, gruseliger und mächtiger. Stattdessen war der Mann klein und wirkte auch bei näherem Hinsehen kaum angsteinflößend. Im Gesicht meiner Tante stand die Angst; schnell führte sie mich durch die wenig bevölkerten Gassen. Ich weiß, was ihre überstürzten Schritte zu bedeuten haben.

Eigentlich soll ich in diesem Moment meine Sachen zusammenpacken, aber ich bin wie gelähmt. Schon wieder umziehen. Doch warum wundert es mich? So ist es immer. Kaum hat meine Tante einen der Schatten gesehen, ist es vorbei. Ich verstehe ja, dass wir kein Risiko eingehen dürfen, aber das ständige Umziehen belastet mich. Mir kommt es vor, als käme ich nie irgendwo an. Als geht meine Reise immer weiter, ohne ein Ende zu nehmen.

 

Zornig riss ich die dicht beschriebenen Blätter in kleine Stücke. Der Stapel war zu groß, um ihn auf einmal vernichten zu können, weshalb ich immer mehrere Seiten zusammen aufnahm und zerstörte. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Ich wollte die Wörter nicht mehr lesen. Ich wollte nicht mehr an mein Leben denken, das aus nichts anderem bestand als aus der Flucht. Damals hatte ich geglaubt, dass es mir helfen würde, alles niederzuschreiben. Heute wusste ich, dass verfasste Worte für immer bestanden und man die Trauer nur begraben konnte, wenn man einfach vergaß.

Noch etwa zwanzig Seiten, dann war es geschafft. Mit Distanz schaute ich auf den Boden, auf dem sich die Schnipsel stapelten. Ich sollte sie besser fortschaffen, bevor meine Tante skeptisch wurde. Etwas zu schwungvoll ging ich in die Hocke. Der Karton auf dem Schreibtisch geriet ins Wanken und stürzte neben mir auf den Boden. Fluchend klaubte ich die Sachen zusammen und verstaute sie wieder im Innenraum der Schachtel. Dabei geriet mir sein Brief in die Hände. Wie üblich begannen meine Finger zu zittern, als ich auf das graue Kuvert schaute. Wie üblich erschienen seine Worte noch bevor ich eine Chance hatte, mich emotional auf sie vorzubereiten.

Denn heute ist dein 16. Geburtstag, Ivory. Und heute sollst du alles erfahren.

Hilflos presste ich mir die Hand gegen den Magen. Obwohl ich diesen vermaledeiten Brief auswendig kannte, schaffte er es immer wieder, mich dort zu treffen, wo es am meisten wehtat. Ich biss die Zähne zusammen und verstaute ihn zwischen zwei Buchrücken. Heute würde ich mich nicht verlieren. Heute würde ich standhaft bleiben.

Du hast sicherlich viele Fragen. Ein paar von ihnen kann ich dir beantworten.

Vehement ignorierte ich die Stimme meines Vaters. Blindlings griff ich nach einem der Bücher und schlug es auf. Manchmal half es, zu lesen. Manchmal vertrieb das die Stimmen im Kopf.

Lies diesen Brief mit Sorgfalt, er wird dir helfen. Bewahre ihn auf, bis du seinen Inhalt auf allen Sprachen der Welt wiedergeben kannst. Du darfst ihn nicht verlieren.

»Verdammt«, zischte ich leise vor mich hin und schlug das Buch zu. Es gab nur zwei Möglichkeiten, seine Stimme loszuwerden. Die erste war, dass ich mich dem, was er zu sagen hatte, stellte. Die zweite war, dass ich rausging und rannte, bis mein Körper kurz vorm Zerreißen war. Bis in mir für nichts mehr Platz war denn für meinen Schmerz.

Ich griff nach meiner Jacke.

»Wo willst du hin, Ivy?« Meine Tante kam aus der Küche.

»Ich … mache mich ein bisschen mit dem Ort bekannt.«

»Aber in einer halben Stunde gibt es Abendessen.«

»Ich brauche nicht lange. Wirklich.«

Ich wusste nicht, was den Ausschlag gab, aber sie ließ mich gehen. Ein kalter Wind überraschte mich, als ich vor die Tür trat. Ich bereute es, keinen Schal mitgenommen zu haben.

Es war nicht leicht, gleichzeitig zu rennen und sich die Umgebung einzuprägen. Oft musste ich zwischendurch stehen bleiben und mein Augenmerk auf Straßenschilder richten, um nicht die Orientierung zu verlieren. Doch wenigstens kam ich auf andere Gedanken. Und das bedeutete, dass ich abgelenkt war und mein Vater nicht länger meine Vorstellungen bevölkerte. Auf einer Parkbank blieb ich sitzen. Lange würde ich nicht hier draußen bleiben. Die Finsternis war schon zu spüren. Mit ihren Schatten vertrieb sie die letzten Pigmente des grauen Himmels. Von Natur aus war ich kein ängstlicher Mensch. Doch die Dunkelheit hatte mir schon immer auf eine bestimmte Art und Weise Angst gemacht. Ich wusste, dass diese Sorge kindisch war, doch konnte ich nichts dagegen tun. Gerade wollte ich mich auf den Rückweg begeben, als mich jemand an der Schulter fasste.

»Hey, kannst du mir sagen, wo die Seventh Road ist?«, fragte ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter sein musste. Sie sprach laut, um den Verkehr hinter uns zu übertönen.

»Ich bin neu hier und finde mich nicht zurecht.«

Sie hatte lange, blonde Haare, die sie offen trug. Ihr Gesicht war aufgeschlossen, das Lächeln freundlich.

»Tut mir leid«, entgegnete ich. »Aber ich bin selbst erst seit heute hier.«

»Wirklich?« Sie grinste mich schief an und nahm neben mir Platz.

»Na so ein Zufall. Was führt dich her?«

»Ähh …« Ich war nicht gut darin, mir aus dem Stegreif Ausreden auszudenken. Noch weniger gut war ich darin, zu fremden Menschen eine Beziehung aufzubauen. Ich hatte verlernt, was es hieß, jemanden kennenzulernen.

»Meine Tante … Mutter hat einen neuen Job gefunden.«

»Und woher kommst du?«

Abwartend schaute ich das Mädchen im karierten Rock an.

Erzähle nie jemandem deine wahre Geschichte, Ivy. Es ist viel zu gefährlich.

»Ich komme aus Greenville«, sagte ich.

»Und du?«

»Kentucky«, entgegnete sie. »Mein Vater hat neu geheiratet.«

»Oh.«

Ich war unheimlich schlecht darin, angemessen zu reagieren.

»Ich komm damit klar, falls du das meinst«, half mir das Mädchen auf die Sprünge.

»Serena ist eigentlich ganz okay. Falls du an das Bild der bösen Stiefmutter denkst, liegst du falsch. Sie gibt sich wirklich Mühe. Meine neuen Schwestern sind es eher, die mir zu schaffen machen.«

Scheu lächelte ich sie an und schalt mich gleichzeitig für meine eigene Unfähigkeit. Wie musste ich denn auf sie wirken?

»Wie heißt du überhaupt? Ich bin Caitlin, aber Lynn ist mir lieber.«

»Ivory.«

Verdammt.

»Ähmm … ich meine …«

»Das ist ein schöner Name. Ungewöhnlich, aber er hat was. Wie auch immer: Schön, dich zu treffen, Ivory.«

Übermütig streckte sie mir ihre Hand entgegen, die ich zögernd ergriff.

»E…benfalls.«

»Wir werden sicher gute Freundinnen. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch jemanden gibt, der neu hier ist.«

Ich spürte, wie Hitze meine Wangen besiedelte. Ich war gewohnt, mich abzuschotten und mein Leben fernab von allen anderen zu führen. Zwar mied ich die Menschen nicht, aber es war sicherer, ihnen mit Abstand zu begegnen.

Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schaute ich auf den Boden.

»Wo wohnst du?«

»Das … klingt bescheuert, aber ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?« In Lynns Gesicht kämpften Belustigung und Misstrauen um die Oberhand.

»Das heißt … ich weiß nicht genau, wie die Straße heißt. Wir sind gerade erst angekommen, und ich habe mir nur den Weg gemerkt.« Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern.

»Ich glaube, ich mag dich«, platzte es da übermütig aus Lynn heraus. Irritiert sah ich sie an.

»Du hast irgendwas an dir, was nicht ganz von dieser Welt ist.«

Wie recht du hast.

»Und das finde ich irgendwie … gut. Ich mag außergewöhnliche Menschen.«

»Ich soll außergewöhnlich sein, nur weil ich nicht weiß, wo ich wohne?«

»GENAU das meine ich!«, schrie Lynn vergnügt und klatschte in ihre Hände. »Du bist so direkt. Aber auf eine lustige Art und Weise. Irgendwie sympathisch.«

Lustig? Sympathisch?

So wirkte ich auf andere Menschen? Ungläubig schüttelte ich den Kopf, entgegnete aber nichts.

»Was machst du heute Abend, Ivory?«

»Wie bitte?«

»Was du heute Abend vorhast. Vielleicht können wir ja was zusammen machen«, schlug sie vor.

Ich schüttelte den Kopf, noch bevor ich mir dessen bewusst war.

»Oh. Schade.«

Es versetzte mir einen Stich, als ich sah, wie getroffen sie war. In Lynns Gesicht stand Enttäuschung. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen.

»Ich muss heute Abend meiner Mutter beim Auspacken helfen. Deshalb geht es nicht. Vielleicht morgen?«

Ivory, wieso tust du das? Du hast dir doch vor Jahren geschworen, keinen Menschen näher als fünf Meter an dich heranzulassen!

»Super! Passt mir sogar besser. Hast du dein Handy mit, dann kann ich dir meine Nummer geben?!«

»Ich … habe kein Handy«, entgegnete ich entschuldigend.

Nun sah sie mich an, als wäre ich eine Sensation.

»Kein Handy?«

»Nein.«

»Wow. Das würde ich nicht schaffen. Okay, dann gib mir deine Telefonnummer … ach, die weißt du ja wahrscheinlich auch noch nicht.«

Nachdenklich kaute Lynn an ihren Fingernägeln und sah sich um.

»Warte mal kurz.«

Mit einer Mischung aus Neugier und Überraschung sah ich, wie sie auf eine Gruppe Jugendlicher zuging. Es dauerte nicht lange, da kam sie mit einem Stück Papier und einem Stift zurück. Strahlend schrieb sie eine Zahlenkombination darauf.

»Das ist meine Handynummer. Ruf mich doch einfach morgen Nachmittag mal an, dann machen wir was aus. Okay?«

Zögernd nahm ich den Zettel entgegen. Es wäre besser gewesen, abzulehnen. Es wäre sicherer gewesen, sich wieder in das Schneckenhaus zurückzuziehen. Es wäre klüger gewesen, die Beziehung abzubrechen, bevor sie sich festigen konnte. Aber als ich in Lynns aufgeschlossenes Gesicht blickte, brachte ich es einfach nicht übers Herz, ihr abzusagen.

»Okay«, meinte ich stattdessen.

»Wunderbar! Ich freu mich! Aber nun muss ich weiter fragen, wo diese dumme Straße ist, die ich schon seit einer Ewigkeit suche.«

Mit diesen Worten verschwand sie. Ich blickte Lynn hinterher, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont war. Dann schaute ich auf das Blatt Papier, das sie mir gegeben hatte. Das hier – so wurde mir augenblicklich bewusst – war mehr als nur ein einfacher Zettel. Er stellte die Möglichkeit dar, an einem fremden Ort Wurzeln zu schlagen. Er gab mir die Chance, so zu tun, als hätte ich ein normales Leben. Für eine gestohlene Sekunde gab ich mich der Illusion hin.

Aber dann kamen sie. Pünktlich wie immer. Sie erlaubten mir nicht, meine Bestimmung aus den Augen zu verlieren. Sie holten mich immer und überall in die Realität zurück, die ein grausames Höllenfeuer war.

Komm zu uns, Ivory. Du musst uns helfen. Embonis braucht dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit.

Verzweifelt presste ich die Hände gegen die Ohren, obwohl ich wusste, dass die Stimmen aus meinem Kopf kamen. Vor vielen Jahren hatten sie sich in meine Gedanken genistet. Schon lange war ich nicht mehr fähig, sie zu ignorieren. Man sagte, dass jeder Mensch über das, was ihn beschäftigte, selbst entscheiden konnte, aber das stimmte nicht. Nicht ich kontrollierte die Stimmen. Die Stimmen kontrollierten mich.

Du hast es versprochen. Du musst uns helfen, sonst sind wir auf ewig verloren. Ivory, hab ein Herz und hilf uns.

Die Stimmen kamen in unterschiedlichen Höhen, in unterschiedlicher Intensität und Lautstärke. Manchmal vernahm ich nur ein Summen, an einem anderen Tag waren sie laut und klar zu verstehen. Aber eines hatten sie immer gemein: Sie klangen traurig. Traurig, niedergeschmettert und verzweifelt. Alles in mir sträubte sich dagegen, ihnen nicht zu antworten. Oftmals musste ich mir die Hand vor den Mund pressen, um nichts zu sagen. Denn sobald ich etwas entgegnete, wussten sie, wo ich war. Diesen Fehler hatte ich einmal begangen. Nie wieder würde ich so dumm sein. Die Schatten waren geniale Schauspieler, perfekt darauf abgestimmt, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.

Unsere Kinder dürfen nicht sterben. Sie müssen überleben. Du selbst müsstest doch am besten wissen, was es heißt, anders zu sein.

Mir standen Tränen in den Augen, als ich unser Haus erreichte. Wie lange würden mich die Schatten heute bedrängen?

Auszug aus dem Dunklen Buch

Sobald die Decessaren das Tor passieren, können sie die Menschenwelt betreten. Bis auf eine Narbe am Hals unterscheiden sie sich nicht von dem wahren Homo sapiens. Kein Sterblicher wird je erkennen, dass die Decessaren anderer Natur sind. Es ist nicht schwer, die Gestalt der Menschen anzulegen, da sie der unsrigen sehr ähnlich ist. Manchmal macht nicht das Aussehen den Unterschied, sondern das, was man fähig ist, zu tun.

Kapitel 4

»Wie war dein Ausflug, Schätzchen?«, fragte Tante Grace beim Abendessen. Akkurat zerkleinerte sie das Roastbeef und schob es Stück für Stück in ihren Mund. Der Geruch von Pellkartoffeln und brauner Soße stand im Raum. Meine Tante war eine fabelhafte Köchin, doch heute bekam ich keinen Bissen herunter. Lustlos stocherte ich im Gemüse herum und schaute stur auf meinen Teller.

»Nanu, hast du keinen Appetit?«, fragte meine Tante und entlockte mir einen kleinen Seufzer. Für meinen Geschmack war sie ein bisschen zu aufmerksam. Unentschlossen zuckte ich mit den Schultern.

»Ich habe wirklich keinen Hunger«, gestand ich mir ein.

»Aber das verstehe ich nicht! Du warst den ganzen Tag unterwegs, und sonst magst du mein Roastbeef doch so sehr. Oder schmeckt es dir heute nicht?«

Dafür hätte ich es probieren müssen.

»Doch, doch«, beteuerte ich schnell. »Es ist wirklich fabelhaft, Grace. Ich … habe nur wirklich keinen Hunger.«

Obwohl meine Tante es dabei beließ, durchbohrte ihr Blick mich förmlich. Ich machte mich auf meinem Stuhl kleiner.

»Wie findest du die Stadt?«, fragte sie auf einmal.

»Sie ist … sehr groß. Ich habe zwar ganz gut zurückgefunden, aber … es kommt mir alles ein bisschen unübersichtlich vor.«

Grace lächelte.

»Hast du jemand Nettes getroffen?«, fragte sie dann, weil sie es immer tat. Weil sie in jeder verdammten neuen Stadt dieselbe Frage stellte und bisher auch immer dieselbe Antwort erhalten hatte.

Grace, ich habe aufgegeben, Freunde zu suchen. Ich werde sie ja doch alle wieder verlieren.

Ich fühlte mich unwohl, als ich antwortete.

»Ja.«

»Ja?« Ruckartig schoss der Kopf meiner Tante nach oben. Ihre Mimik war zwischen Freude und Unglauben angesiedelt.

»Ja. Ich habe ein Mädchen getroffen. Sie heißt Caitlin und ist auch neu nach Des Moines gekommen.« Schüchtern spielte ich mit der Gabel und schob das Essen von der einen auf die andere Seite des Tellers.

»Aber das ist ja großartig!«, rief Grace und klatschte in die Hände. »Ich habe dir doch immer wieder gesagt, dass du früher oder später Freunde finden wirst!«

Ich lächelte unsicher und schob die erste Gabel voll Roastbeef in meinen Mund. Es rutschte meinen Gaumen hinunter, ohne dass ich seinen Geschmack zur Kenntnis nahm.

»Du warst viel zu lange allein, Ivy.«

Ohne etwas zu erwidern, griff ich nach der bauchigen Wasserflasche und schüttete etwas von ihrem Inhalt in mein Glas. Langsam trank ich einen Schluck und sah Grace an. Einen Moment lang stutzte ich und kniff die Augen zusammen. Sie sah so … glücklich aus.

»Ich kann mich nur zu gut an den Tag erinnern, an dem du mir mitgeteilt hast, dass es sich nicht mehr lohnt, etwas mit Gleichaltrigen zu unternehmen. Ich weiß, dass deine Situation schwierig ist, aber das heißt noch lange nicht, dass man sich isolieren muss.«

Sie beobachtete mich aufmerksam.

»Wollt ihr euch mal treffen, du und Caitlin?«

»Ja.« Noch einmal schob ich die Kartoffeln von links nach rechts.

»Sie hat mir ihre Handynummer gegeben und gesagt, dass ich sie morgen anrufen soll.«

»Wunderbar. Weißt du schon, was du mit ihr unternehmen möchtest?«

»Ich weiß gar nicht, ob ich mich wirklich melden soll«, flüsterte ich und senkte den Kopf. Ich wollte Tante Grace’ enttäuschtes Gesicht nicht sehen. Allein die Stille wog schon eine Tonne.

»Ivy«, sagte sie nur. Bloß ein Wort – doch lag in ihm all die Traurigkeit, die sie nicht unterdrücken konnte.

»Vielleicht … können wir ja irgendwo etwas zu Abend essen gehen. Oder ich besuche sie zu Hause …«, startete ich einen lahmen Versuch.

»Das ist eine schöne Idee, Ivy«, entgegnete Grace und klang schon wieder heiter.

Schließlich wechselte sie das Thema.

»Ich werde mich morgen früh auf die Suche nach einer neuen Anstellung begeben.«

Grace arbeitete als ausgebildete Krankenschwester. Es fiel ihr nie schwer, eine neue Stelle zu finden oder sich in eine Gesellschaft einzugliedern. Mit ihrer offenen, freundlichen Art fand sie schnell Verbündete. Grace brauchte den Kontakt zu anderen Menschen wie ein Blinder seinen Stock zum Gehen.

»Weißt du, Ivy, ich könnte mir vorstellen, dass das unsere letzte Wohnung ist«, mutmaßte sie plötzlich. »Wir haben es schon mehrmals über zwei Jahre in einer Stadt ausgehalten, ohne dass die Decessaren auf uns aufmerksam geworden sind. Nun sind wir auf der Zielgeraden. Wir müssen lediglich noch zwei Jahre …«

Ich fiel ihr ins Wort. »Zwei Jahre sind verdammt lang, Grace, wenn man bedenkt, dass jede Sekunde etwas passieren kann. Du hast schon in Greenville gesagt, dass es auf Dauer ist, und nun sind wir hier.«

Stumm schenkte Grace sich neues Wasser ein.

»Glaubst du nicht, dass die Schatten jetzt erst recht Gas geben? Sie werden alles tun, um mich zu bekommen. Sie werden ihre Armeen verdoppeln und …«

»Du weißt genau, dass das nicht geht, Ivory«, unterbrach mich Grace. Ihr Mund hatte sich in einen schmalen Strich verwandelt. »Sie können keine neuen Schatten aus Embonis ordern, das Tor ist zu.«

»Bisher haben ja auch die alten gereicht, um uns immer wieder zu finden«, murmelte ich und fügte hinzu:

»Danke für das Essen, Grace, aber ich würde jetzt gern schlafen gehen. Es war ein langer Tag.«

Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern schob den Küchenstuhl nach hinten und stand auf. Wie eine stumme Anklage blieb mein voller Teller auf dem Tisch stehen. Auf dem Weg in mein Zimmer griff ich nach der alten Decke, die im Flur auf einem Schränkchen lag. Notdürftig überdeckte ich den Spiegel und hasste mich für den Moment, in dem ich einen kurzen Blick auf mein Gesicht erhaschte. Seit mittlerweile vier Jahren hatte ich meine langen, schwarzen Haare nicht mehr offen getragen. Meistens band ich sie hinten zu einem Dutt zusammen, versteckte sie manchmal zusätzlich unter einer Mütze.