Peter Handke
Don Juan (erzählt von ihm selbst)
Suhrkamp Verlag
»Chi son'io tu non saprai«
Wer ich bin, du wirst es nicht erfahren
Da Ponte/Mozart
Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen. In mir hat er den eines schönen Tages gefunden. Seine Geschichte erzählte er mir nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person. So kommt sie mir jetzt jedenfalls in den Sinn.
Zu der Zeit kochte ich in meiner Herberge nah den Überresten von Port-Royal-des-Champs, der im siebzehnten Jahrhundert berühmtesten und auch berüchtigten Klosteranlage Frankreichs, vorübergehend nur für mich allein. Auch die paar Gästezimmer wurden damals Teil meines privaten Wohnbereichs. Alle die Winter- und die Vorfrühlingsmonate verbrachte ich mit solchem Wohnen, welches einzig aus Speisenzubereiten zum Eigengebrauch und aus Haus- und Gartenarbeiten bestand, hauptsächlich aber aus Lesen und zwischendurch auch Blicken aus dem einen wie dem andern der kleinen alten Fenster meiner Gaststätte, eines ehemaligen Pförtnergebäudes von Port-Royal-in-den-Feldern.
Schon längst auch lebte ich ohne Nachbarn. Und das lag nicht an mir. Nichts lieber als Nachbarn, und selber Nachbar zu sein. Aber die Idee der Nachbarschaft hatte versagt, oder war aus der Zeit geraten? An mir aber lag das Versagen im Spiel von Angebot und Nachfrage. Mein Angebot, als Wirt und Koch, war nicht mehr gefragt. Ich hatte als Geschäftsmensch versagt. Dabei glaube ich seit eh und je an das Leutezusammenbringende der Geschäfte wie an weniges sonst; an das belebende Gesellschaftsspiel von Verkauf und Kauf.
Im Mai ließ ich das Gärtnern im großen ganzen bleiben und schaute fast nur noch dem Wachsen oder Verkümmern des von mir gepflanzten oder gesäten Gemüses zu. So hielt ich es auch mit den Obstbäumen, den gleichfalls von mir bei meiner Übernahme des Pförtnerhauses und seiner Umwandlung in ein Wirtshaus vor einem Jahrzehnt gepflanzten. Rundgang um Rundgang von morgens bis abends durch den Garten des tief in das Plateau der Ile de France eingeschnittenen Bachtals, zu den Äpfeln, Birnen und Nüssen, mit einem Buch in der Hand, ohne daß ich sonst einen Finger rührte. Und auch das Kochen und Garen für mich selber betrieb ich in jenen Frühjahrswochen fast nur noch aus Gewohnheit. Der verwilderte Garten schien sich zu erholen. Neues, Fruchttragendes kam dazu.
Sogar mein Lesen sagte mir weniger und weniger. An dem Morgen des Tages, als Don Juan dann dahergeflüchtet kam, faßte ich den Vorsatz, daß es mit den Büchern fürs erste vorbei sein sollte. Obwohl ich gerade mitten in der Lektüre von zwei der auf Dauer vorausweisenden Zeugnisse nicht bloß der französischen Literatur und nicht bloß des siebzehnten Jahrhunderts war, Jean Racines Verteidigungsschrift für die Nonnen von Port Royal, und Blaise Pascals Angriff auf deren jesuitische Widersacher, beschloß ich von einem Augenblick zum andern, genug gelesen zu haben, zumindest für eine gewisse Zeit. Genug gelesen? Wilder noch war mein Morgengedanke: »Genug vom Lesen!« Dabei war ich mein Lebtag lang ein Leser gewesen. Koch und Leser. Was für ein Koch. Was für ein Leser. Ich verstand dann auch, warum die Raben seit einiger Zeit so wutentbrannt durch den Luftraum brüllten: Sie waren im Zorn über den Zustand der Welt. Oder den meinen?
Don Juans Kommen an jenem Maiennachmittag ersetzte mir mein Lesen. Es war mehr als ein bloßer Ersatz. Schon daß es um »Don Juan« ging, statt um alle die verschollenen spitzfindigen Jesuitenpatres aus dem 17. Jahrhundert, und auch statt um, sagen wir, Lucien Leuwen und Raskolnikoff, oder einen Mijnheer Pepperkorn, einen Señor Buendia, und einen Kommissar Maigret, empfand ich als einen befreienden Luftstoß. Zugleich bescherte mir Don Juans Kommen buchstäblich die innere Erweiterung und Entgrenzung, welche sonst nur das so aufgeregte (und aufgescheuchte) wie selige Lesen schaffte. Es hätte wohl ebensogut auch Gawein, Lanzelot oder Feirefiz, der Gescheckthäutige, der Halbbruder Parzivals ‒ der freilich nicht! ‒, sein können. Oder vielleicht dann noch der Fürst Myschkin. Doch es kam Don Juan. Und der hatte im übrigen nicht wenig von den genannten mittelalterlichen Helden oder Streunern.
Kam er? Erschien er? Eher stürzte und purzelte er mir über die Mauer, von der die zur Straße gelegene Front der Herberge ein Teil war, in meinen Garten. Es war in der Tat ein schöner Tag. Der Himmel hatte nach einem trübgrauen Morgen wie so oft über der Ile de France aufgeklart, und schien jetzt inständig weiterzuklaren, und klarte, und klarte. Die Nachmittagsstille war zwar wie immer trügerisch. Aber für den Augenblick jedenfalls herrschte sie vor; und wirkte. Schon lange bevor Don Juan in mein Blickfeld kam, war sein Keuchen zu hören. Als Kind auf dem Land hatte ich einmal einen Bauernburschen oder was er war auf der Flucht vor den Gendarmen erlebt. Er flüchtete auf einem Steig an mir vorbei bergauf, und von seinen Verfolgern waren vorderhand nur deren »Halt!«-Schreie zu bemerken. Heute noch sehe ich das Gesicht des Gejagten vor mir, rotgeschwollen, und seinen Körper, der wie geschrumpft ist, mit umso länger an ihm baumelnden Armen. Doch stärker geht mir nach, was mir von ihm im Ohr geblieben ist. Das war mehr und weniger als ein Keuchen. Es war auch mehr und weniger als ein Pfeifen, das ihm aus den Lungenflügeln brach. Zudem konnte von Lungen oder gar Flügeln keine Rede sein. Das Geräusch, das ich im Ohr habe, schallt oder stiebt von dem ganzen Menschen weg, und nicht etwa aus dessen Innerem, sondern von seiner Oberfläche; seinem Äußeren; von jeder einzelnen Hautstelle oder Pore. Und es kommt auch nicht von dem bestimmten Menschen allein, sondern von einer Mehrzahl, einer großen ‒ einer Überzahl, und nicht bloß im Verhältnis zu den spürbar ihm näherrückenden brüllenden Verfolgern, sondern auch zu den stillen ländlichen Naturdingen im Umkreis. Dieses Schwirren und Vibrieren, so klar es dem Gehetzten auch aus dem letzten Loch dringt, hat für mich etwas Übermächtiges behalten, als eine Art von Grundgewalt.
Sowie ich Don Juans Atmen hörte, fern am Horizont und zugleich schon ganz nah am Ohr, hatte ich auf der Stelle den Flüchtling von damals vor mir. Die einstigen Schreie der Gendarmen waren ersetzt durch die Geräusche eines Motorrads. Es heulte im Gasgeben rhythmisch auf und schien über Stock und Stein dem Garten ständig näherzukommen, anders als das Atmen, das diesen sofort ausgefüllt hatte und weiter ausfüllte.
An einer Stelle war die bejahrte Mauer ein wenig abgebröckelt, und da gab es eine Art Bresche, die ich absichtlich so gelassen hatte. Durch sie brach Don Juan Kopf über Hals herein in mein Anwesen. Vorausgeschnellt war ihm freilich eine Art von Speer oder Lanze. Im Bogen kam das Geschoß durch die Lüfte und bohrte sich zu meinen Füßen in das Erdreich. Die Katze, die daneben im Gras lag, blinzelte kurz und schlief dann gleich weiter, und ein Spatz ‒ welcher Vogel wäre dazu sonst imstande gewesen? ‒ landete auch schon auf der noch wippenden Lanze und setzte das Wippen fort. Die Lanze war in Wirklichkeit ein bloßer, vorne leicht zugespitzter Haselstock, wie man ihn sich überall in den Wäldern um Port Royal abschneiden konnte.
Jener seinerzeit von der Landgendarmerie Gejagte hatte keine Augen für mich gehabt. Blicklos, die Pupillen weißgebleicht im feuerroten Gesicht wie die eines gesottenen Fisches, war er an mir, dem Kind, vorbeigestampft (wenn ein Stampfen der Kraft, so der letzten). Von dem fliehenden Don Juan dagegen wurde ich gesehen. Schon wie sein Körper, Kopf und Schultern voran, nicht unähnlich dem Stock durch die Bresche geflogen kam, hatte er mich klar und groß in seinem Blick. Und obwohl wir zwei so zum ersten Mal aufeinandertrafen, erschien mir dieser Eindringling da augenblicklich vertraut. Ich wußte, auch ohne daß er sich vorzustellen brauchte ‒ wozu er ohnedies nicht imstand gewesen wäre, sein Atem ein einziges, sonderbares Singen ‒: Ich hatte Don Juan vor mir; und nicht »einen« Don Juan, nein, ihn, Don Juan.
Nicht oft, aber doch immer wieder in meinem Leben sind mir solche Wildfremden, gerade sie, auf den ersten Blick vertraut vorgekommen, und diese Vertrautheit hat jedesmal, ohne daß sie sich im Bekanntwerden eigens zu vertiefen brauchte, weitergeführt. Es war mit ihr etwas anzufangen. Während die (allzu wenigen) vorigen Male aber der jeweils andere mein Vertrauter geworden war, ging es mir beim Auftauchen Don Juans gerade umgekehrt: der erste Blick kam von ihm, und er machte gleich klar, die Rolle des Vertrauten für die Geschichte, die er loszuwerden hatte, sie war mir zugedacht.
Und es gab doch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Verfolgten von viel, viel früher und dem Don Juan von jetzt. Beide stifteten sie ein Bild von Festlichkeit. In der Tat war damals der japsende Bursche in jenem Sonntagsstaat dahergestolpert, in den die Landbevölkerung sich recht einheitlich für den Kirchgang kleidete. Und der Don Juan heute war auf seiner Flucht ebenfalls in einem Festtagsgewand, wenn auch einem speziellen, wie zu der blauen Maienluft passenden. Und darüber hinaus strahlte die Flucht einst wie die Flucht jetzt schon von sich aus eine Art Feiertäglichkeit aus. Nur daß das Strahlen um Don Juan von ihm selber kam, das um den Landburschen dagegen ‒ ja, wovon bloß? Von ihm persönlich jedenfalls hatte nichts ausgestrahlt, nichts und wieder nichts.
Hatte sich das Verfolger-Motorrad in dem stellenweise auch in der Gegenwart noch sumpfigen Talboden des Rhodon festgefahren? Der Motorlärm scholl von der immergleichen Stelle. Kein Gasaufdrehen dann mehr. Das Fahrzeug brummte gleichmäßig, fast friedlich, im Abstand. Don Juan und ich, wir stellten uns an die Mauermulde und schauten gemeinsam in die Gegend. Halb verdeckt von dem lichtgrünen Auwald saß ein Paar auf dem Motorrad, welches gerade wendete und zwischen den Erlen und Birken in langsamen Bögen abfuhr. Fortdauernd demnach die Asylgeltung der vormaligen Klostergründe von Port-Royal-in-den-Feldern. Bis über deren Grenze durfte niemand verfolgt werden. Wer diese Gründe betrat, und hatte er noch so Arges verbrochen, war fürs erste in Sicherheit. Außerdem war dem Blick des Paars anzusehen: Dieser Don Juan war nicht der, den sie verfolgt hatten. Den sie töten wollten, das war ein anderer. Vor allem die Frau war verwirrt. Der Mann winkte Don Juan zuletzt sogar freundschaftlich zu.
Wie es einem heutigen und/oder klassischen Motorradpaar entsprach, war dieses in Leder gekleidet, in schwarzes, und trug dazu Sturzhelme, die einander glichen wie eben nur Sturzhelme. Versteht sich auch, daß der offenbar jungen Frau auf dem Rücksitz die Haare unter dem Helm hervorwehten, und daß die Haare, so oder so, blond waren. Die beiden, Mann und Frau, hatten im Dahinfahren etwas von Geschwistern, gar von Zwillingen. Dem widersprach freilich, wie die Frau den Mann von hinten umschlungen hielt, und daß das Lederzeug sichtlich den völlig nackten Körpern anlag. Die zwei hatten es sich in Eile übergezogen, alle die Knöpfe, die Niet- und Reißverschlüsse standen offen, und was an dem Gewand auseinanderklaffen konnte, klaffte mehr oder weniger auseinander. Blätter, Grashalme, Reste von Schneckenhäusern (samt den Überresten der Schnecken) und Fichtennadeln hafteten auf dem halbentblößten Rücken des Mannes, nur auf seinem. Die Schulterblätter der jungen Frau wirkten fleckenlos weiß. Höchstens sahen wir jetzt momentlang einen bauschigen Pappelsamen an ihnen hängen ‒ und schon wieder weggeflogen. Kein Bruder und keine Schwester waren da losgeprescht, um Don Juan etwa zu stellen und zu vernichten. Ich wunderte mich über die Fichtennadeln auf dem Rücken des Fahrers, tief eingedrückt in seine Haut. Gab es doch nur Laubbäume in der ganzen Port-Royal-Gegend.
Das ziemlich breite und flache Gesicht Don Juans blieb noch eine Zeitlang gefleckt und machte mir leibhaftig den Feirefiz lebendig, wie ich jenen mit einer »Mohrin« gezeugten Halbbruder des Parzival damals beim Lesen des Chrétien de Troyes mir so bildlich vorgestellt hatte. Bloß zeigte sich Don Juan nicht schwarzweiß gescheckt wie sein Vorgänger, sondern rot-weiß, dunkelrot-weiß. Auch war das Muster auf das Gesicht beschränkt und zog sich nicht wie bei meinem Feirefiz über den ganzen Leib. Schon der Hals war frei davon. Schachbrettartig so die Gesichtsfläche der Rothaut vor mir. Groß, und gar nicht so trüb geworden von der Flucht, auch gar nicht so unlustig die Augen darin. Ich möge ihn als so wirklich wie nur etwas betrachten, sagte er zu mir, wobei er die Klinge des Springmessers in seiner Hand wieder einschnappen ließ. Und dann bedeutete er mir, er habe Hunger. Verschwitzt und ausgetrocknet, wie er war, verlangte es ihn nicht etwa zu trinken, vielmehr zu essen. Und indem ich, der Koch, ihm auf der Stelle etwas zubereiten ging, verstand ich ihn. Und wie dieser Mensch wirklich war! Ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache mich Don Juan an jenem Maiennachmittag bei den Ruinen von Port-Royal-in-den-Feldern ansprach. Wie auch immer: Ich verstand ihn, so oder so.
Alle meine Gartenmöbel hatte ich in einer Mauerecke zusammengeschoben und absichtlich verrotten lassen. So brachte ich dem Gast nun einen Stuhl aus der Küche. Er ging rückwärts auf diesen zu. An diesem ersten Tag der Woche, während der Don Juan bei mir blieb, glaubte ich noch, solch Rückwärtsgehen diene ihm dazu, eine Gefahr oder Bedrohung ‒ etwa durch das Motorradpaar ‒ im Auge zu behalten. Doch da schon merkte ich, daß er dabei ganz und gar keinen Späherblick hatte. Wohl erschien er mir wach, aber nicht wachsam. Auch äugte er weder nach links noch nach rechts oder über die Schultern, sondern sein Kopf zeigte in der Rückwärtsbewegung beständig geradeaus, in die Richtung, aus der er dahergelaufen war. Bei einem wie Don Juan hätte ich im übrigen erwartet, daß diese Richtung entweder der Westen war, mit den Schlössern der Normandie und den Klöstern, den weiter wirtschaftenden von und um Chartres, oder, noch eher, der Osten, mit der gar nicht so weiten ehemaligen Sonnenkönigsresidenz von Versailles, und am ehesten mit dem nicht so viel weiteren Paris. Er war aber gerannt und gestürzt gekommen in das Rhodontal über die Felder aus dem Norden, wo die neuen Städte der Ile de France lagen, Wohnblöcke um Wohnblöcke, in den Zentren fast nur Bürohäuser, die nächstgelegene dieser Neustädte mit Namen Saint-Quentin-en-Yvelines. Andererseits paßte zu solcher Richtung das motorisierte Lederpaar. Und gab es nicht zumindest einen Nadelbaum zwischen der Ville Nouvelle und den Ruinen der alten Abtei hier, einen besonderen: die einzelnstehende Zeder an einem Restwaldrand? Den prächtigsten und kräftigsten Aufwuchs in der ganzen Landschaft?