Ich werde dich nicht lieben können. Niemals. Geh, Knochenhexe!
Morgan presste die Hände auf ihre Ohren, in der Hoffnung, Aithans Stimme auszublenden. Doch die Worte kamen nicht von außen. Sie saßen tief in ihr drin und zerrissen ihr Innerstes.
Aithan hatte ihr nicht richtig zugehört. Er hatte nicht … Sie sollte zurückkehren und ihm noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, dass sie nur egoistisch gewesen war, weil sie ihn nicht hatte verlieren wollen. Sie hatte ihn nicht betrügen wollen.
Ein paar Kriegern, die es bis zu den Toren des Schlosses geschafft hatten, musste sie ausweichen. Sie wollte nicht entdeckt werden. Wollte mit niemandem reden.
Ihr Herz pochte träge in seinem Käfig, als Morgan den dunklen Wald betrat, der gar nicht mehr so dunkel war. Die Glüher hatten sich verzogen und auch die Stocker, ehemalige Krieger, die aus dem verwunschenen Bach getrunken hatten, ließen sie in Ruhe. Aithan hatte mit dem Kuss der Prinzessin nicht nur ihren Bann gebrochen, sondern damit das Königreich von dem Fluch der Hexe befreit. Nach und nach, so schien es, erwachte es aus seinem Jahrhunderte andauernden Schlaf und vertrieb das Böse, das sich derweil in ihm eingenistet hatte. Selbst in der Dunkelheit der Nacht bemerkte Morgan das berauschende Grün der Baumkronen, die vorher in gedämpftem Braun getaucht gewesen waren. Einzelne Blüten streckten ihre Köpfe bereits gen Himmel in Erwartung der Sonne, die am nächsten Tag sicherlich das erste Mal seit langer Zeit den feuchten Boden mit seinen Strahlen beglücken würde.
Morgan rieb sich über ihre Arme und berührte dabei unwillkürlich die Wunde, die ihr von Cáel mit ihrem eigenen Beil zugefügt worden war. Sie schmerzte kaum, genauso wenig wie ihr gebrochener Wangenknochen oder die Platzwunde an ihrem Hinterkopf. Nur die Kälte machte Morgan zu schaffen. Allem anderen gegenüber war sie vollkommen abgestumpft.
Aithan hatte sie mit seinen verdammenden Worten mitten ins Herz getroffen und sie konnte nicht einmal wütend auf ihn sein. Sie fühlte bloß bodenlose Verzweiflung.
Seufzend setzte sie einen Schritt nach dem anderen über den feuchten Waldboden und blinzelte durch den stetigen Regen hindurch, von dem sie hier unter den Kronen besser geschützt war als noch in der verwunschenen Stadt.
Cáel und sie hatten Aithan den Wunsch gekostet. So sah die Wahrheit aus und ganz egal, wie sehr Morgan sich dagegen sträubte, sie würde sich nicht ändern.
Larkin, der Alphawolf der Schmuggler, sollte recht behalten. Er hatte sie immer davor gewarnt, auf ihre Gefühle zu hören. Sie verschlimmerten jede Situation und verschleierten das Urteilsvermögen eines jeden.
Wenn Morgan Aithan nicht ihr Herz geöffnet hätte, dann hätte sie nicht gezögert, ihm von Cáels Plänen zu erzählen.
Oder du hättest ihm selbst den Wunsch gestohlen, rief die altbekannte Stimme ihr in Erinnerung.
Sie umfasste ihren Oberkörper und überstieg ein riesiges Wurzelgebilde, das sich mehrere Fuß über den Boden erstreckte. Wo sollte sie nun hin? Durch den Wald und dann?
Das Zittern wurde schlimmer, sodass sich zu dem Prasseln des Regens das Klappern ihrer Zähne mischte. Ein Orchester des Versagens.
Ein Rascheln zu ihrer linken Seite ließ sie innehalten. Mit einer Hand wischte sie sich das feuchte Haar aus dem Gesicht und blickte angestrengt in die Richtung, aus der sie eine Gefahr vermutete. Waren doch noch Glüher zurückgeblieben, obwohl die Dunkelheit nicht mehr länger so undurchdringlich war? Würden sie sich nun über sie hermachen, in ihren Kopf dringen und sie Dinge sehen lassen, die nicht Wirklichkeit waren?
Angst zersetzte ihre Entschlossenheit und griff ihren Überlebenswillen an. Mutlos stürzte sie zu Boden, ließ sich auf ihre Knie fallen und grub die Hände in die Erde. Tränen vermischten sich auf ihren Wangen mit kalten Regentropfen.
Wann hatte sie aufgehört, auf ihre geschärften Sinne zu hören, und hatte sich stattdessen von falscher Sicherheit einlullen lassen?
In dem Augenblick, da sie sich entschieden hatte, im Lager an Aithans Seite zu bleiben. Sie war geblieben, anstatt ihre hart erkämpfte Freiheit zu nutzen und nach Yastia, der Hauptstadt von Atheira, zurückzukehren. Sie hatte in Aithans Aufmerksamkeit gebadet, hatte jedes seiner Worte förmlich in sich aufgesaugt, weil er sie gesehen hatte und nicht abgestoßen war. So war es ihr erschienen, bis er ihr seine wahren Gefühle ins Gesicht schmetterte.
Sie stieß einen lautlosen Schrei aus, spürte das Gewicht ihrer Beile auf dem Rücken und das Buch über Knochenmagie, dessen Kanten in ihren Bauch drückten.
Knochenmagie.
Geh, Knochenhexe!
Was hatte sie schon zu verlieren? Sie wusste, dass sie von hier wegmusste und obwohl der Fluch gebrochen war, lauerten noch immer Gefahren auf sie. Allein waren ihre Überlebenschancen gleich null, es sei denn, sie nutzte ihre Magie.
Magie, die nicht aus einer Laune heraus verboten war. Mit jedem weiteren Zauber gab man einen weiteren Teil von sich, seiner Seele auf. Morgan hatte sie bereits mehrmals angewandt und noch immer spürte sie die Auswirkungen. Ein dunkler Fleck, der sich nicht fortwischen ließ.
Sollte sie es trotzdem wagen?
Es wird Zeit, dir einzugestehen, dass die Dunkelheit ein Teil von dir ist.
Sie sprang auf und rannte aus dem finsteren Wald hinaus, stolperte und fiel mehrmals auf den schlammigen Boden, doch nichts vermochte sie aufzuhalten. Sobald sie die Lichtung betrat, auf der die Krieger aus dem Bach getrunken hatten, eilte sie zielstrebig auf den abgehackten Arm zu. Vor ein paar Stunden hatte sie die Macht eines Fingerknochens genutzt, um sie alle vor den Stockern zu retten, und jetzt würde sie die Überreste nehmen, um sich einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Um diese verdammten Wälder für immer hinter sich zu lassen!
Der Regen hatte das menschliche Fleisch durchweicht, sodass es sich in ihren Händen glitschig anfühlte, als sie es von den Stofffetzen befreite.
Sich auf den matschigen Boden kniend nahm sie einen ihrer übrig gebliebenen Dolche zu Hilfe und entfernte das Fleisch von den Knochen, die sie ordentlich neben sich legte. Die Elle und Speiche zerkleinerte sie mit ihrem Beil, damit sie problemlos in ihren Mund passen würden, sollte sie diese dafür benötigen. Vorerst legte Morgan sie zusammen mit den anderen Knochen bis auf einen in ihren leeren Proviantbeutel und schnürte diesen fest zu.
Mit Blut und Wasser an den Händen griff sie nach dem Buch der Knochenmagie, das ihre Spuren wie normales Papier aufnahm, um den Schmutz und die Feuchtigkeit dann verschwinden zu lassen. Fasziniert beobachtete sie eine Weile dieses sich wiederholende Schauspiel. Auch wenn sie gewusst hatte, dass dieses Buch besonders war, so hatte sie nicht angenommen, dass in ihm selbst Magie innewohnte.
Es wird Zeit.
Sie nickte zustimmend und las sich noch einmal die Passage durch, die für sie von Wichtigkeit war. Dann steckte sie das Buch zurück. Vorsichtig griff sie nach dem kleinsten Fingerknochen, den sie als einzigen nicht in ihren Beutel getan hatte, und schloss die Augen.
Sie öffnete sich der Knochenmagie, flehte die Hexe in ihr an, sie auszufüllen und zu beherrschen. Nur ein kleiner Teil scheute sich davor, sich selbst aufzugeben. Morgan erkannte wie aus weiter Ferne, dass es derjenige war, der von Cáel berührt worden war. Durch ihn hatte Cáel sie zurück in die Wirklichkeit gezerrt und nun würde sie durch ihn die Kontrolle behalten. Das hoffte sie zumindest.
Als die Hexe ihren Schädel aus der Erde schob, hatte sich die Kälte der Nacht bereits tief in Morgans Körper festgesetzt. Sie zitterte so unkontrolliert, dass sie mehrere Anläufe brauchte, bis sie den Knochen zwischen ihre klappernden Zähne geschoben hatte. Erst dann ließ sie sich in die Umarmung der Erde fallen.
Zum ersten Mal wehrte sie sich nicht, als sich ihre Kehle, ihre Nase und ihre Ohren mit dem Leben der Welt füllten. Ihr Körper reagierte jedoch instinktiv, versuchte sich mit unkontrollierten Bewegungen aus dem unterirdischen Gefängnis zu befreien, ehe sich der Schädel der Knochenhexe über Morgans eigenen legte.
Der Knochen löste sich gemeinsam mit der Erde auf. Morgan nahm einen tiefen Atemzug und dann flossen die Worte wie ein zurückgehaltener Strom aus ihrem Mund.
Zerteil mich. Zerteil mich. Zerteil mich.
Sie spürte, wie die Erde unter ihren Füßen zu beben begann und sie schließlich nach vorne fiel. Doch vor ihr befand sich nichts mehr außer Schwärze. Ihr Körper löste sich auf und wurde vom Wind in die Dunkelheit getragen, die sich in den verwunschenen Wald wandelte, zerteilte und einen anderen Abschnitt zeigte, bis sie zu der Lichtung wurde, auf dem sich ursprünglich Aithans Lager befunden hatte. Dort setzte sich ihr Körper aus den Millionen Teilen wieder zusammen und sie kam hart auf dem Boden auf, rollte zur Seite, ehe sie sich mit ihren zittrigen Armen abstützen konnte. Übelkeit übermannte sie und sie verlor sämtlichen Mageninhalt, ohne Atem schöpfen zu können. Sie glaubte fast, an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken zu müssen, bevor der Schwindel und das Würgen nachließen.
Kraftlos fiel sie auf ihren Rücken und genoss das Gefühl des prasselnden Regens auf ihren klammen Wangen. Auf ihrer Zunge haftete noch der bittere Geschmack von Magensäure, aber er ließ sich ignorieren. So sehr war Morgan von der Tatsache abgelenkt, dass ihr Vorhaben beim ersten Versuch geglückt war. Sie hatte die Kraft der Knochenhexe genutzt, um sich von einem Ort zum anderen zu … was genau war es gewesen? Im Buch hatte sie nur einen Teil der Passagen verstehen können, der andere war in einer Sprache verfasst, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie erinnerte Morgan weder ans Drarathische noch ans Idrelische. Das Wort, das jedoch wiederholt in mehreren Sprachen vorgekommen war, war zerteilen gewesen. Also nahm sie an, dass es das gewesen war, was sie gerade getan hatte.
Sie hatte sich zerteilt.
Während sie versuchte, sich für ein weiteres Zerteilen zu erholen, sah sie sich auf der verlassenen Lichtung um. Sie entzündete eine zurückgebliebene Fackel, stieg über hastig zusammengeworfene Zeltplanen, die zurückgelassen worden waren, und erreichte den Ort, an dem Cáel seine Erinnerungskiste vergraben hatte. Da diese Stelle des Öfteren von Windwern überquert wurde, achtete Morgan ganz besonders auf ihre Umgebung. Stetig näherte sie sich den roten Kugelkletten.
Schon von Weitem sah sie also, dass Cáel die Kiste bereits ausgegraben hatte. Wahrscheinlich hatte er ein besseres Versteck gefunden oder er hatte den Inhalt mit nach Vadrya genommen. So oder so, es gab für sie keinen Grund mehr, weiter im Regen auszuharren.
Die Knochenhexe regte sich, sobald die Fackel in den Schlamm fiel und mit einem Zischen erlosch. Ein weiterer Knochen, ein weiteres Niedersinken und Morgan ließ den Wald, der das verwunschene Königreich von dem angrenzenden Land Vinuth trennte, endgültig hinter sich zurück. Ihre Kraft ließ erst nach, als sie die Minen Pelias erreichte.
Pelia.
Diesen Ort hatte sie sich nicht bewusst ausgesucht, doch nun, da sie vor dem dunklen Berg stand und zu den Eingängen blickte, erkannte sie, dass es wichtig gewesen war, zurückzukehren. Sie hätte sich bloß etwas bedeckter halten und nicht mitten auf dem Vorplatz landen sollen.
Tagein, tagaus hatte sie in dieser Mine geschuftet. Zusammen mit Missa und Gertha war sie in den Schlund hineingegangen und hatte den Stein zerhauen, ohne jemals den Blick auf einen Diamanten zu erhaschen. Mit jeder weiteren Strafe in Form eines brennenden Eisens auf ihrem Rücken entfernte sie sich weiter von ihrer Menschlichkeit, bis nur noch ein Fetzen übrig blieb. Diesen nutzte sie, um Missa vor einem Verrückten zu retten, der besessen war von ihrem Haar. Als Belohnung musste sie seinen Platz als Tribut einnehmen und kurz darauf machte sie die Bekanntschaft mit den Nebelgeistern.
Noch vom Schwindel und der Übelkeit geschwächt, wankte sie vom Platz zu der Hütte, in der die Kommandantin Dorona wohnte.
Die Knochenhexe zog sich für den Moment zurück, als würde sie Morgans Bedürfnis spüren, sich allein umzusehen.
Morgan stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, als ein allzu bekannter süßlicher Geruch zu ihr herüberwehte. Der Regen war zu einem leichten Nieseln abgeschwächt, sodass Morgan problemlos dem Geruch folgen konnte.
Das ist der Geruch von Verwesung, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie presste ihren schmerzenden Unterarm eng an ihre Mitte. Noch wusste sie nicht, wie sie die Knochenmagie nutzen konnte, um Fleischwunden zu heilen, oder ob dies überhaupt möglich war, aber sie wollte sich nicht in ihrer Situation daran versuchen. Um ihren Wangenknochen müsste sie sich früher oder später allerdings kümmern, denn Schmerz schlich sich wie ein gemeiner Dieb an, um ihr früher oder später Verstand und Durchhaltevermögen zu stehlen.
Sie umrundete das feudale Gebäude und sah sich einer Zerstörung riesigen Ausmaßes gegenüber. Das gesamte Lager war verwüstet, niedergebrannt, auseinandergerissen worden. Überall lagen noch Leichenteile, manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, andere aufgedunsen und vergessen. Der Regen vermischte sich mit vergossenem Blut und verflüssigten Innereien.
Morgan würgte, doch ihr Magen war leer und sie musste der Übelkeit anders Herr werden. Sich von den leblosen Körpern abwendend, die auf den Wegen lagen, als hätten sie versucht zu flüchten, stolperte sie zu dem Haus der Kommandantin zurück.
Was war hier nur passiert? Wer war für diesen Massenmord verantwortlich?
Es schien keine Überlebenden zu geben und wenn Morgan richtiglag, musste der Überfall während der Abwesenheit der Wachen stattgefunden haben, die sie in ihrem Lager überrascht hatten. Ein paar von ihnen waren ihnen entkommen und wahrscheinlich hierher zurückgekehrt, aber hatten sie überlebt? Oder hatte das Monster ihnen aufgelauert, um auch sie zu verschlingen?
Kopfschüttelnd überstieg sie die Leiche einer Frau mit fehlendem Schneidezahn und ihr Herz setzte aus, als sie diese erkannte. Gertha. Die gackernde Kriminelle, die Morgan jedoch stets den Rücken freigehalten hatte. Zusammen mit Missa, die in wenigen Monaten freigelassen worden wäre. Auch sie befand sich zu großer Wahrscheinlichkeit unter den Toten.
In Gerthas Brust klaffte eine riesige Wunde, die ihr nur durch ein Schwert oder etwas Ähnliches zugefügt worden sein konnte. Sie musste auf der Stelle tot gewesen sein, der erschrockene Ausdruck noch auf ihrem aufgedunsenen Gesicht, während sie hilflos in den grau verhangenen Himmel starrte.
Morgan beugte sich hinab und schloss Gerthas Augen, bevor sie sich erneut aufrichtete und das Haus der Kommandantin betrat. Hier entzündete sie allein mit ihrer Magie eine Kerze. Sie wäre stolz auf sich gewesen, wenn sie noch etwas anderes außer Angst und Schmerz spüren würde.
Im Inneren herrschte die gleiche Verwüstung wie auf dem Vorplatz. Regale waren eingestürzt, Rechnungsbücher und Namenslisten lagen verteilt auf dem Boden, zerrissen und mit Fußspuren aus Schlamm bedeckt. Menschen. Es hatten also wirklich Menschen die Minen überfallen.
Aber warum?
Und … befand sich noch jemand hier?
Plötzlich von irrationaler Panik ergriffen, presste sie sich eng an die Wand und horchte auf etwas neben ihrem laut klopfenden Herzen. Doch abgesehen davon herrschte weiterhin unheimliche Stille.
Im nächsten Moment atmete sie erleichtert aus.
Die Knochenhexe hätte sie gewarnt, wenn sich ihr etwas näherte, das ihr gefährlich werden konnte. So eng war ihre Verbindung, da Morgan sie jeden Moment nutzen konnte. Sie würde nicht länger als nötig hierbleiben, sondern lediglich … einen Augenblick lang nach Antworten suchen.
Im Vorraum gab es glücklicherweise keine Leichen, nur ein paar Blutspuren, die in ein angrenzendes Schlafzimmer führten. Auf dem breiten Bett mit der mit gelben Blumen bestickten Überdecke lag die Kommandantin auf dem Rücken. Hand- und Fußgelenke waren mit Lederbändern an die Bettpfosten gefesselt worden, auf ihrem Gesicht sowie auf ihren nackten Armen und Beinen zeichneten sich mehrere oberflächliche Schnittwunden ab. Ihr Kleid bauschte sich um ihre Mitte und hatte gemeinsam mit der Decke jegliches Blut aufgesogen, das aus der schweren Wunde in ihrer Brust ausgetreten war.
Morgan harrte aus, betrachtete die Kommandantin und wartete auf die Genugtuung, die sich jedoch nicht einstellte. Sie empfand nichts für diese Frau, die es geliebt hatte, die Sklaven zu erniedrigen und von ihren Wachmännern schänden zu lassen, um sie anschließend den Nebelgeistern zu opfern. So wie Morgan. Nur so hatte sie herausgefunden, dass die Nebelgeister eine von Aithans Erfindungen waren, wodurch er neue Krieger rekrutieren konnte.
Die einzige Frage, die sich Morgan nun stellte, war, warum gerade die Kommandantin gefoltert worden war. Welche Informationen hatte sie preisgeben müssen? Entweder hatte sie ein rachsüchtiger Geist aus ihrer Vergangenheit eingeholt oder es war um die Sklaven innerhalb dieser Mine gegangen.
Als ihr klar wurde, dass Tote keine Antworten geben würden, drehte sie sich herum und schritt in den Vorraum zurück. Sie besah sich willkürlich ein paar Bücher und Listen, doch nichts besaß einen Wert für Morgan. Also verließ sie das Haus und geisterte ein letztes Mal über das Gelände der Minen.
So viele Leichen sie auch erblickte, sie alle waren Teil der Minen gewesen. Es gab keine Opfer seitens der Angreifer. Hatte es also wirklich keine gegeben oder waren sie fortgeschafft worden, um keine Spuren zu hinterlassen?
Es sollte dich nicht kümmern. Denk lieber darüber nach, was du jetzt tun sollst.
Die Stimme hatte recht. Morgan fühlte sich inmitten von Tod und Zerstörung vollkommen verloren.
Seufzend schritt sie durch das herausgerissene Tor, um dem Geruch von Verwesung zu entkommen, als der Regen wieder stärker wurde.
Sie setzte sich auf einen einsamen Felsen am Wegesrand, tropfte etwas Wachs von der Kerze auf den Stein und positionierte die Kerze darauf. Sie würde auch im Regen so lange brennen, wie Morgan es ihr befahl. Anschließend holte sie ein Fragment eines Mittelhandknochens aus ihrem Beutel hervor. Mit geschlossenen Augen legte sie sich dieses in den Mund.
Dieses Mal nutzte sie keinen Zauberspruch aus dem Buch, weil sie das instinktive Gefühl besaß, ihn nicht für ihren eigenen Körper zu brauchen. Sie spürte den gebrochenen Wangenknochen, der ein stetiges Pochen aussandte, das sie mit ihrer Seele einfing.
Die Knochenhexe regte sich, ergriff Morgans Körper, hüllte sie in Erde und bewegte ihren Mund, um Worte auszusprechen, die Morgan noch nie zuvor gehört oder gesagt hatte. Mit den Fingerkuppen strich sie sich über die Wange.
Es war, als würden Haut und Muskeln zerfallen, damit allein der geschundene Knochen zurückblieb.
Ihre Nervenenden brannten lichterloh und der Schmerz brachte Morgan einer Ohnmacht nahe, bis sich der Knochen unter der Anleitung der Hexe richtete. Haut und Fleisch füllten ihr Gesicht auf, der Schädel der Hexe löste sich von Morgans und sie rutschte den Felsen hinab.
Jegliche Kraft war aus ihren Gliedmaßen verschwunden und sie konnte sich nicht gegen die Bewusstlosigkeit wehren. Ihr Kopf sackte nach vorn und noch halb sitzend gab sie sich der Erschöpfung hin.