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Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017

Covergestaltung: Sarah Buhr

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN: 978-3-401-84020-8

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#2 – Keine Ausnahmen

Auf dem Rückweg herrscht angespanntes Schweigen. Unsere Schritte knirschen leise auf dem sandbedeckten Asphalt. Wir behalten jede Fassade und jede Kreuzung genau im Blick. Dieses Wappen war ganz offensichtlich eine Warnung. Und die Tatsache, dass seine Anhänger uns nicht schon in der Fabrikhalle aufgelauert haben – wo wir unbewaffnet mit dem Rücken zur Wand standen – beruhigt mich auch nicht wirklich.

Kaum haben wir die Treppe am Stadtrand von Celonia erreicht, stößt die APEC II zu uns. Casim Makash, der Anführer der zweiten autorisierten Plünderungseinheit Celonia – kurz APEC – ist ein guter Freund von Zevion. Er ist bekannt für seine wilde Entschlossenheit und eine unerschütterliche Ruhe, von der heute leider nicht viel zu spüren ist. Seine Gesten und hektisch geflüsterten Worte verraten mir alles, was ich wissen muss. Ashek und ich tauschen einen beunruhigten Blick und setzen unseren Weg schweigend fort. Nichts wie raus aus dieser Geisterstadt.

»Unheimlich ist das«, murmelt ein junges Mädchen aus der APEC II. Ich kenne sie nicht, aber sie versucht offenbar, mit uns Schritt zu halten. Ihre Freunde sind einige Stufen zurückgefallen, aber ihre skeptischen Blicke entgehen mir nicht. »Ihr habt das Wappen also auch gesehen?«

Aus ihren himmelblauen Augen spricht unbefangene Neugier, doch die Skepsis ihrer Freunde lässt mich darauf schließen, dass es nicht nur um das Wappen geht. Dass Ash und ich anders sind, ist schon lange kein Geheimnis mehr – und ich bin froh darüber, auch wenn die Reaktionen der Siedler sehr unterschiedlich sind. Ich versuche der Neugier mit Offenheit zu begegnen, Fragen zu beantworten, geduldig zu bleiben. Das zahlt sich fast immer aus und mitunter gelingt es mir, Interesse oder sogar Verständnis für die Ondine zu wecken. Schwierig wird es nur, wenn die Neugier in Feindseligkeit umschlägt – und das ist etwas, das meinem Bruder Ash leider ständig begegnet. Sie sehen in ihm das Wesen, das aus Nalanee kam, um unter den Menschen zu leben. Er sieht in ihnen das Volk, das für den Tod seiner Schwester verantwortlich ist. Zeeta, auch wenn sie nicht seine leibliche Schwester war, ist gemeinsam mit Ash in Nalanee aufgewachsen. Sie war ihm mindestens so vertraut, wie ich es heute bin. Vielleicht gelingt ihm deshalb nur ein halbherziges Lächeln, als er auf die Frage des Mädchens erwidert:»Natürlich haben wir das Wappen gesehen.«

Die Ruinen von Celonia sinken immer weiter in den Hintergrund, während wir Stufe um Stufe der großen Treppe erklimmen. Selten war meine Erleichterung beim Verlassen dieser Stadt so groß.

Was ist mir dir, Ash? Alles in Ordnung?, frage ich schließlich, obwohl ich genau weiß, dass gar nichts in Ordnung ist. Ich kann seine Nervosität spüren. Schuld daran sind nicht nur die Blicke der anderen, sondern vor allem das, was wir heute gesehen haben. Mein Bruder zuckt kaum merklich mit den Schultern.

Hast du dich nie gefragt, was wir eigentlich noch hier machen?, erwidert er. Sei ehrlich.

Wie meinst du das?

Ich meine diese … Leute. Und alles andere auch. Komm schon, als ob wir das nötig hätten.

Nach allem was er durchgemacht hat, kann ich ihm diese Worte kaum übelnehmen. Trotzdem treffen sie mich. Hier geht es nicht darum, etwas nötig zu haben, erinnere ich ihn. Wir helfen, so gut wir können.

Ash bleibt abrupt stehen und ich tue es ihm gleich. Emi, ich habe versucht zu helfen! Aber sie schauen mich immer noch an, als wäre ich ein Außerirdischer. Sein Kinn deutet kaum merklich in Richtung der anderen. Und weißt du was, vielleicht haben sie recht.

Warum das denn?

Er sieht mich an, durchbohrt mich fast mit seinem Blick. Weil wir anders sind. Das weißt du genau. Und weißt du, was das bedeutet? Wir können mehr als das hier. So viel mehr.

Sein Blick wandert den Fluss entlang. Ich nehme noch drei weitere Stufen, bis hinter der Stadt das Meer erscheint. Meinen ärgerlichen Blick sieht Ash nicht. Aber ich weiß, dass er meine Wut spüren kann.

Sag nicht, dass du vergessen hast, was wir sind, ermahnt er mich. Ich schweige, weil ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll. Manchmal habe ich das Gefühl, er will mich gar nicht verstehen.

Ich bin so aufgewühlt, dass ich den Freund des Mädchens nicht bemerke, der uns inzwischen eingeholt hat. Offenbar gehört auch er zu Makash und seinem Team. Er mustert uns mit einem abfälligen Blick, wischt sich dann den Schweiß von der Stirn und zieht seine Freundin weiter.

»Halte dich fern von denen«, murmelt er. Gerade so laut, dass wir es hören. Das Mädchen wirft ihm einen erschrockenen Blick zu. Doch ich bezweifle, dass er ihren halbherzigen Protest überhaupt wahrgenommen hat. Als ich mich zu Ashek umdrehe, verzieht der keine Miene. Doch ich höre seine Stimme in meinem Kopf. Deutlich und klar.

Was habe ich gesagt?

Ich hebe abwehrend die Hand. Ash, wir haben doch ganz andere Probleme. Unbekannte Diebe haben es auf unsere wichtigste Ressource abgesehen. Und wer weiß, auf was noch. Wir können das nur gemeinsam durchstehen. Und dazu brauche ich dich. Also bitte … Doch er hört mir schon wieder nicht zu. Stattdessen dreht er sich doch wirklich nach diesem Kerl und seiner Freundin um.

»Bleib stehen, und sag mir gefälligst ins Gesicht, was für ein Problem du hast!«, ruft er diesem Idioten nach. Natürlich hat der nur darauf gewartet, dass Ash auf seine Provokation eingeht. Egal ob Ondine oder Menschen, es gibt ein paar Dinge, die typisch für die Spezies Mann sind – ganz gleich, welchem Erdenvolk sie angehören, oder? Mit einem schweren Seufzer verschränke ich die Arme vor der Brust.

»Was für ein Problem ich habe?«

Sogar das Mädchen versucht jetzt, ihren Freund weiterzuschieben. Ich glaube, ihr ist die Situation genauso unangenehm wie mir. Aber dieser Kerl ist einfach stehen geblieben. »Dass wir dank euch feigen Idioten jetzt hier oben verrecken. Warum seid ihr nicht bei den anderen Fischköpfen geblieben? Dann hätten wir Calypso nie aufgeben müssen.«

Ich sammle meine innere Ruhe, in der Hoffnung, dass wenigstens ein Funke davon auf meinen Bruder überspringt.

Ash, vergiss es. Der hat doch keine Ahnung wovon er spricht. Bitte. Ich sehe ihm in die Augen, bis er meinen Blick erwidert. Lass dich nicht provozieren.

Ich versuche, es den Leuten nicht übelzunehmen. Sie sind verzweifelt, und die Verzweiflung schürt den Hass. Trotzdem ist es nicht leicht, Angriffe wie diesen über sich ergehen zu lassen. Vor allem nicht, wenn sie Ashek treffen. Er hat sich für das Leben an Land entschieden, nachdem die Ondine ihn als Köder für einen Krieg missbraucht und beinahe umgebracht hätten. Er ist nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Meinetwegen sollen die Menschen mir die Schuld an allem geben, wenn sie unbedingt einen Sündenbock brauchen. Immerhin war ich es, die zu Verhandlungen aufgerufen hat. Und ich stehe zu dem ausgehandelten Bündnis mit den Ondine. Dass diese Leute ausgerechnet meinem Bruder den Mut nehmen, gemeinsam mit seiner verbliebenen Familie ein neues Leben an Land zu beginnen, ist nicht fair. Wen wundert es da noch, dass Ashek sich verändert hat?

Innerlich scheint er noch immer mit sich zu kämpfen – meine Worte gegen die Beleidigungen dieses Möchtegerns abzuwägen, der umringt von seinen Freunden weiterzieht. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, greife nach dem Arm meines Bruders und ziehe ihn einfach weiter. Er lässt es geschehen und auf sich beruhen. Dieses Mal zumindest.

Als wir den Rand der Siedlung erreichen, überreiche ich Zevion wortlos unsere Ausrüstung. Wie ein ungeduldiges Kind warte ich auf meinen Lohn: Vier Proteinriegel, die ich eigentlich nicht verdient habe, so wie der Einsatz heute verlaufen ist. Wir sind trotzdem darauf angewiesen. Als Zevion uns jeweils nur zwei Riegel in die Hand drückt, wage ich kaum, mich zu beschweren. Doch Zevion ist mein fragender Blick nicht entgangen.

»Tut mir leid, Bloud. Anweisung von oben: Ab heute werden die Lebensmittel wieder strenger rationiert.« Er spricht mit gedämpfter Stimme. Eine tiefe Falte über seiner Nasenwurzel signalisiert Besorgnis. »Es gibt keine Ausnahmen«, fügt er hinzu und beugt sich dabei nah genug vor, um mir einen dritten Riegel unauffällig in die Tasche zu stecken. Ich nicke bloß, weil ich zu überrascht bin, um mich zu bedanken. Hat er das gerade wirklich getan? »Wir sehen uns morgen«, raunt Zevion mir zu, und wendet sich mit einem Zwinkern ab. Offenbar haben Ash und ich in den letzten Wochen gar keinen so schlechten Eindruck hinterlassen. Ich versichere unserem Einsatzleiter, dass wir pünktlich sein werden, und er wendet sich mit einem zufriedenen Nicken von mir ab. Während er weiter die Löhne verteilt, machen Ash und ich uns auf den Heimweg. Kaum sind wir hinter der nächsten Ecke verschwunden, stecke ich ihm meine beiden Riegel zu. Nur der dritte bleibt in meiner Jackentasche.

»Nimmst du die mit nach Hause?«, bitte ich ihn leise.

»Warum, was hast du heute noch vor?«

Ich setze ein unschuldiges Lächeln auf. Als ob er sich das nicht denken könnte. Und wir verabschieden uns mit einer flüchtigen Umarmung.

»Sag Jonaz einen Gruß von mir«, murmelt Ash und ich nicke. Dann drehe ich mich um und laufe los, am Rand der Siedlung entlang.

Im Licht der Abendsonne wirken die Kuppeln tatsächlich wie überdimensional große Seifenblasen, deren halbtransparente Oberflächen perlmuttfarben schimmern. Für diesen Effekt ist der Baustoff auf Nanofaserbasis verantwortlich, den wir auch in Calypso verwendet haben. Natürlich sind die Kuppeln im Seifenblasental viel kleiner als unsere ehemalige Heimat unter dem Meer. Wir hatten ja weder besonders viel Zeit noch Material, als wir hier oben angespült wurden. Stattdessen waren wir froh, ein paar der ausgemusterten Membranteile mitgenommen zu haben. Die Schwarzplünderer sorgten für Nachschub, ohne den wir den Bau der Siedlung nicht hätten vorantreiben können. Notdürftig zusammengeschustert erinnert so manche Kuppel zwar mehr an ein abstraktes Kunstwerk als an ein Zuhause. Aber immerhin haben diese Kunstwerke uns vor den schlimmsten Auswirkungen der letzten Gewitterstürme bewahrt. Ich erinnere mich nur zu gut an die unheimlichen Blitzschläge, die den nahegelegenen Waldrand in einen verkohlten Fransenteppich verwandelt haben. Hagelkörner, so groß wie Kinderfäuste. Je mehr Spuren diese Unwetter in unserer Siedlung und auf den Feldern hinterließen, umso größere Hoffnungen mussten wir auf die Überreste von Protena Industries setzen. Doch selbst die sind uns jetzt nicht mehr sicher.

Als ich endlich Jonaz‘ Kuppel vor mir sehe, bleibe ich einen Moment stehen, um durchzuatmen. In einiger Entfernung höre ich das Flüstern des Waldes, das sich mit dem Rauschen der Wellen vermischt. Dunkle Wolken sind über dem Strand aufgezogen. Das rote Licht der Sonne flutet unter ihnen hindurch und beschwört eine eindrucksvolle Stimmung herauf. Irgendwo weit hinter dem Wald grollt schon der erste Donner. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Unwetter die Siedlung erreichen wird. Spätestens morgen wird hier oben die Hölle losbrechen. Wieder einmal.

Die kleine Kuppel liegt unscheinbar und ruhig da. Weil Jonaz fast alles selbst reparieren kann, gehört sein Zuhause zu den schönsten in der Siedlung. Keine Planen und keine Bretter. Sogar das Flexigment funktioniert noch einwandfrei. Neben der Tür hat er ein Gerät angebracht, das er »TeleBox« nennt. Unser früheres Kommunikationsnetz mussten wir mit Calypso begraben. Und die wenigen Funkgeräte sind gemeinnützigen Diensten wie den beiden Teams der APEC vorbehalten. Letztendlich ist die TeleBox nicht mehr als ein recyceltes Diktiergerät, das dem Empfang von Sprachnachrichten in seiner Abwesenheit dient – obwohl es bei Jonaz häufiger die fehlende Zeit ist, die ihn davon abhält, an die Tür zu gehen. Er ist fast immer daheim. Von außen erkennt man das jedoch kaum, weil sein Leben sich vor allem im unteren Bereich der Kuppel abspielt, wo Jonaz ein Büro und eine Werkstatt eingerichtet hat. Ich drücke auf die Klingel, und einen Moment später schnellt schon das Flexigment nach oben. Er scheint mich erwartet zu haben. Im Eingangsbereich schlüpfe ich aus meinen Schuhen und folge dann dem Treppenbogen, dessen Stufen am Rand der Kuppel hinab in den unteren Teil führen. Jonaz sortiert hektisch seine Unterlagen, und ich lasse mir bewusst etwas mehr Zeit, um ihn zu betrachten. Sein weiches, helles Haar steht in alle Richtungen ab, und unter seinem Shirt zeichnet sich ein kräftiger Rücken ab. Jonaz schwimmt fast jeden Morgen, um die Arbeit am Schreibtisch auszugleichen, wie er selbst immer sagt. Als ich von hinten die Arme um ihn schlinge, nehme ich seinen vertrauten Duft wahr – und drücke ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Am liebsten würde ich ihn sofort mit aufs Sofa ziehen. Aber solange Jonaz noch keinen Haken hinter den letzten Punkt auf seiner Liste gesetzt hat, ist das leider ein Ding der Unmöglichkeit, wie meine Erfahrung gezeigt hat.

»Ist es wirklich schon so spät? Nicht zu fassen«, murmelt er und gibt mir einen flüchtigen Kuss. »Ich bin gleich bei dir.«

»Lass dir Zeit«, erwidere ich. »Dann gehe ich schnell noch duschen.«

»Eine hervorragende Idee«, brummt er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. Ich kneife ihn in den Nacken und Jonaz lacht. Er zieht mich an sich und gibt mir noch einen Kuss, bevor ich im Badezimmer verschwinde.

Fast zehn Stunden waren wir der Hitze und dem Staub dort draußen ausgesetzt. Ich mache mir keine Illusionen über den Zustand meines Körpers – und den damit verbundenen Geruch. So schnell es geht, schäle ich mich aus meiner Kleidung. Das frische Wasser tut unfassbar gut. Mit einem Schwamm schrubbe ich meine Arme, Beine und den Hals, bis unter dem Schmutz rosa schimmernde Haut zum Vorschein kommt. Die Mückenstiche sehen inzwischen aus wie eine ansteckende Krankheit. Ich versuche, den Juckreiz auszublenden und atme einmal tief durch, um mich zu entspannen. Der milde Duft von Algenseife vermischt sich mit heißem Wasserdampf. Nicht jeder findet diesen leicht salzigen Geruch angenehm. Aber mich erinnert er an Seegrasfelder, die sich in der Strömung wiegen – an die Stille tief unten im Meer, und an schillernde Fischschwärme, die lautlos durch das Wasser schießen. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie vor mir sehen: Diese magische Welt, so nah und so fern zugleich.

Ich spüle mein schulterlanges Haar noch einmal kräftig durch, dann stelle ich das Wasser ab und schnappe mir ein Handtuch. Wie gut, dass ich gestern frische Ersatzkleidung mitgebracht habe: Mein kuschelweiches Lieblingsshirt und die knielange Jogginghose liegen in der Schublade unter dem Waschbecken. Daneben finde ich einen Kamm und ein Rasiermesser. Seinem wuscheligen Haar und dem Bartwuchs nach zu urteilen, hat er allerdings weder das eine noch das andere in den letzten Tagen benutzt. Er kommt vor lauter Arbeit einfach nicht dazu.

Als ich das Badezimmer verlasse, hat er es noch immer nicht geschafft, sich vom Schreibtisch loszureißen. Jonaz wirft mir einen nervösen Blick zu und ich mache es mir auf dem alten Sofa gemütlich, in der Hoffnung, dass er bald nachkommt.

»Ist Noelle schon gegangen?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Sie hat vor drei Stunden Feierabend gemacht. Weil sie heute Morgen schon vor mir im Büro war«, fügt er rasch hinzu, als gäbe es daran irgendetwas zu rechtfertigen. »Keine Ahnung, wie sie das macht.«

»Tja, wahrscheinlich geht sie einfach früher ins Bett als du.« Jonaz sinkt in sich zusammen und seufzt. Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Nicht falsch verstehen«, füge ich schnell hinzu. Schließlich will ich ihn gar nicht kritisieren.

»Nein, du hast ja recht«, gesteht er. »Die Arbeit ist zu viel für uns beide. Und das merke ich auch.« Endlich schiebt er den alten Schreibtischstuhl beiseite, beugt sich über den Tisch, um die Lampe auszuknipsen und legt den Bleistift beiseite. Er wirft einen letzten langen Blick auf den Berg an Papieren, Tabellen und Kalkulationen, die vor ihm liegen. »Das hier ist wirklich nicht einfach. Aber wir müssen die Arbeit meines Onkels weiterführen. Er hat Jahre damit verbracht, verschiedene Baustoffe und Substanzen zu erforschen. Ich bin mir sicher, dass sein Wissen und seine Konzepte uns helfen können, hier draußen zu überleben.« Er weiß genau, was ich davon halte und wirft mir einen zerknirschten Blick zu. Ich war so froh, das Kapitel Balthazar Jenszen hinter mir zu lassen. Weshalb Jonaz und Noelle nun doch wieder in den Aufzeichnungen des alten Captains graben, anstatt eigene Ideen zu entwickeln, verstehe ich nicht. Die beiden sind wirklich gut – sie könnten etwas ganz Neues, Eigenes entwickeln. Aber Jonaz scheint da anderer Meinung zu sein. Als ich schweige, fährt er fort:

»Diese ganzen Vorurteile machen es nicht besser, Emi. Und damit meine ich nicht nur dich«, fügt er hinzu und deutet mit dem Kopf zur Decke. »Weißt du, was ich mir von denen da draußen anhören muss?«

»Hmm? Dass dein werter Onkel Jenszen gleich zwei Völker verraten und uns beinahe in einen Krieg gestürzt hätte?«, gebe ich zurück und versuche meinen Sarkasmus im Zaum zu halten. Genau wie Ash und ich, hat auch Jonaz unter den Anschuldigungen zu leiden – und im Fall Jenszen sind die nicht ganz unbegründet. Dieser Wahnsinnige hat genug Unheil für die nächsten zwei Jahrhunderte angerichtet. Einerseits finde ich, dass man Jonaz dafür nicht verantwortlich machen darf. Und andererseits verstehe ich nicht, warum er die Forschungen seines Onkels unbedingt weiterführen muss.

»Balthazar war vielleicht kein guter Mensch. Aber das bedeutet nicht, dass seine Arbeit genauso schlecht war«, beharrt Jonaz. »Er hat versucht, uns ein besseres Leben zu ermöglichen, Noemi.«

»Auf eine recht eigenwillige Weise«, widerspreche ich vorsichtig und füge hinzu: »Die letztendlich nicht besonders erfolgreich war.«

»Das mag sein. Aber er …« Jonaz holt kurz Luft, bevor er weiterspricht: »Mein Onkel wird Nalanee nicht lebend verlassen – wenn die Ondine ihn nicht längst hingerichtet haben. Jenszen hat für seine Taten bezahlt, Emi. Noelle und ich werden es besser machen – indem wir sein Wissen für uns nutzen.« In seiner Stimme klingt so viel Überzeugung mit, dass ich ihm am liebsten glauben würde. Aber dafür kannte ich Balthazar Jenszen zu gut. Und ich glaube nicht daran, dass aus seiner Forschung irgendetwas Gutes wachsen kann. »Sie ist wirklich eine große Hilfe«, fährt Jonaz fort. »Ohne Noelle hätte ich wahrscheinlich schon längst aufgegeben.«

Die Bemerkung versetzt mir einen kleinen Stich, auch wenn ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich weiß schließlich, wie Jonaz das meint. Noelle und er kennen sich schon eine ganze Weile und stehen sich sehr nahe. Nah genug jedenfalls, um ihn darüber hinwegsehen zu lassen, was Noelle uns angetan hat. Zeeta ist durch ihre Hand gestorben – auch wenn es ein schrecklicher Unfall war. Vielleicht wäre es nie so weit gekommen, wenn Noelle an Jonaz’ Seite geblieben wäre, anstatt ihn schwer verletzt in Nekaterra zurückzulassen. Ich weiß nicht, wie er ihr das verzeihen konnte. Vielleicht hat es mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit in den Straßen von Calypso zu tun – was die Sache für mich persönlich nicht besser macht. Egal, wie oft er beteuert, mit ihr gesprochen und alles geklärt zu haben. Egal, wie sehr er davon überzeugt ist, dass Noelle sich Mühe gibt, sich verändert hat … Was soll ich schon davon halten, dass die beiden sich in die Forschungsarbeit des Mannes hineinsteigern, der für den Untergang unserer Heimat verantwortlich war? Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die beiden Tag für Tag miteinander verbringen, während ich um jede Stunde mit Jonaz kämpfen muss.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt Jonaz und streicht sanft über meine Hand, die ich unbewusst zur Faust geballt habe. Ich nicke schnell und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Ich hasse dieses Thema. Die wenige Zeit die ich mit Jonaz habe, will ich genießen. Ich habe keine Lust zu streiten. Auch wenn es ein paar Dinge gibt, die zwischen uns stehen. Deshalb versuche ich, sie wegzuschieben. So gut es eben geht. Heute gelingt mir das allerdings nicht besonders gut.

»Jemand ist uns in Celonia zuvorgekommen«, erkläre ich, und komme damit auf ein viel wichtigeres Thema zu sprechen. Als Jonaz mich ansieht, verdunkelt sich sein Blick.

»Wie konnte das denn passieren?«

Ich gebe ihm die Kurzfassung. Meine Vision von blauen Funken und den Silhouetten menschlicher Körper lasse ich dabei aus. Als ich das Wappen an der Wand beschreibe, weiten sich seine Augen. Jonaz nimmt meine Hände in seine, als könnte diese Geste mich vor dem beschützen, was dort draußen lauert. »Zum Glück ist euch nichts passiert. Habt ihr eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Aber wenn es niemand aus unseren eigenen Reihen war, könnte diese Sache noch verdammt gefährlich werden. Für uns alle, für die ganze Siedlung«, stelle ich fest. »Sie fangen auch schon wieder damit an, die Riegel zu rationieren. Zum Glück hat Zevion es gut gemeint und mir eine spontane Lohnerhöhung verpasst«, ergänze ich und spiele damit auf den Extrariegel an.

Jonaz seufzt und lässt die Schultern sinken, ehe sich ein geheimnisvolles Lächeln auf seine Lippen schleicht. »Na, dann bin ich ja nicht der einzige, der einen guten Deal gemacht hat.« Fragend sehe ich ihn an, und Jonaz fährt fort: »Ich war gestern bei den Schwarzplünderern.« Das Lächeln auf seinen Lippen wird breiter, und als ich seinem Blick folge, entdecke ich zwischen sperrigen Materialproben, verschlossenen Kisten und seinem selbstgebauten Wohnzimmertisch ein verhülltes Gerät im Raum. Unter dem grauen Leinentuch zeichnet sich ein rechteckiger Kasten ab. Ich habe ihn für Arbeitsmaterial gehalten, wie fast alles hier unten, und deshalb gar nicht beachtet.

»Ich wollte ihn eigentlich hoch ins Schlafzimmer bringen, aber es hat Stunden gedauert, bis er anspringen wollte. Und dann hatte ich keine Zeit mehr.«

»Jetzt bin ich neugierig«, gestehe ich und setze mich auf. Jonaz lässt meine Hände los und rutscht vom Sofa. »Ist es ein Teleskop?«, rate ich, obwohl die Form nicht gerade darauf hindeutet. Ich habe keine Ahnung. Vor dem verhüllten Kasten bleibt er stehen und dreht sich zu mir um. »Knapp daneben. Aber einen Versuch hast du noch.«

»Hmm, dann vielleicht ein Aquarium?«

»Ja das wäre sicher spannend für dich«, erwidert er lachend. Ich zucke mit den Schultern, weil mir die Ideen ausgehen. »Okay«, gibt Jonaz sich geschlagen und lüftet vorsichtig das Tuch. Zum Vorschein kommt ein rechteckiger Kasten auf einem improvisierten Gestell.

»Oh! Ist das etwa …« Ungläubig springe ich auf. »Ein alter Projektor? Will ich wissen, was du ihnen dafür geben musstest? Das ist ja so was von illegale Ware.«

»Nicht, dass ich wüsste«, erklärt Jonaz betont unschuldig. Ich betrachte den Kasten aus der Nähe, fahre vorsichtig mit dem Finger über seine polierte, leicht verbeulte Oberfläche. Höchstwahrscheinlich haben die Schwarzplünderer ihn nach der Abriegelung von Calypso dort unten rausgeholt, obwohl die Bergung nicht überlebensnotweniger Güter gegen die strengen Auflagen verstößt, zu deren Erfüllung wir uns gegenüber den Ondine verpflichtet haben. Nicht überlebenswichtig scheint ihrer Meinung nach so ziemlich alles zu sein, was nicht mit der letzten Charge in den Produktionsstätten gefertigt wurde. Die Schwarzplünderer riskieren, vor das Gericht der Ondine in Nalanee gestellt zu werden – denn der Verstoß gegen die Auflagen steht unter Strafe. Jedes Verfahren verschlechtert das weiterhin angespannte Verhältnis zwischen den Völkern und riskiert das Friedensabkommen. In der Siedlung hingegen wird jeder gelungene Diebeszug heimlich gefeiert. Insbesondere wenn Schmuckstücke wie dieser alte Projektor auftauchen. Ich wette, er stammt aus einem der Lichtspielhäuser. Niemand hatte im Moment der Flucht die Möglichkeit, ihn mitzunehmen. Aber die voranschreitende Zeit führt den Siedlern immer deutlicher vor Augen, was sie zurücklassen mussten … mit der Erinnerung an alte Zeiten erwacht die Sehnsucht, und unter anderem machen die Schwarzplünderer genau damit ihr Geschäft.

»Er ist wunderschön«, flüsterte ich und begreife endlich, weshalb Jonaz trotz seiner Erschöpfung bis gerade eben noch arbeiten musste. Auch er hat sich wohl von sentimentalen Erinnerungen dazu verleiten lassen, die letzte Nacht über diesen alten Projektor zu reparieren.

»Und er funktioniert einwandfrei«, fügt er stolz hinzu. »Ich habe leider nur einen Film. Hoffentlich hast du ihn noch nicht gesehen.« Er legt einen kleinen Schalter an der Rückseite des Kastens um, und führt mich an der Hand zurück zum Sofa. Das Gerät springt leise schnurrend an, und ich lehne mich zurück. In meiner Erinnerung erwacht der Saal mit den roten Sitzen zu neuem Leben. Ich weiß nicht mehr, wie viele Samstage ich im Lichtspielhaus verbracht habe, mit meinen Freunden oder meinem kleinen Bruder, Beek. Ich habe es geliebt. Die schummrige Atmosphäre, den Geruch der alten Polstersessel und das salzige Popcorn. Jonaz befestigt das Leinentuch an der Wand und als die ersten Bilder erscheinen, spüre ich ein erwartungsfrohes Kribbeln im Bauch. Dieser Film lief vor etwa einem halben Jahr, kurz bevor wir uns kennenlernten. Damals hatte ich nur die Vorschau gesehen, und mir vorgenommen, den Film bald anzuschauen. Doch kurz darauf fing alles an – die merkwürdigen Vorfälle, das Unglück mit Beek. Ich begegnete Ashek, lernte Jonaz kennen und heuerte auf der Acheron an. Auf einmal war nichts mehr wie zuvor. Und Calypso steuerte auf einen Krieg zu, der unsere kleine Welt für immer verändern sollte. Ich kam nie wieder dazu, das Lichtspielhaus zu besuchen. Der Film ruft die Erinnerung an ein anderes Leben in mir wach – an eine andere Version meiner selbst, an eine andere Welt.

Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, lässt sich Jonaz neben mich in die Kissen fallen und legt seine Arme um mich. Ich komme wieder in der Gegenwart an, schmiege meine Wange an seine Schulter und schließe die Augen, genieße den warmen, vertrauten Geruch und spüre seinen Atem in meinem Haar. Seit ich die Kuppelstadt verlassen habe, ist Geborgenheit ein seltenes Gefühl geworden. Gemütliches Beisammensein, sich einfach mal fallen lassen. Luxus! Ein leises Knurren durchbricht den perfekten Moment. Ausnahmsweise habe ich damit nichts zu tun.

Jonaz zuckt entschuldigend mit den Schultern. »Tja. Von den Rationierungen bleibt eben niemand verschont.«

Da fällt mir etwas ein. Ich springe auf und hole meine Jacke. In der Tasche finde ich den dritten Riegel von Zevion. Ich hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, ihn einfach so einzustecken, da wir zuhause normalerweise alles teilen. Aber jetzt bin ich froh, etwas zu unserem Filmabend beisteuern zu können.

»Wir haben zwar kein Popcorn«, beginne ich und reiche ihm die Proteinration. »Dafür aber das hier!«

Jonaz mustert die Verpackung, dann hebt er den Blick und sieht mich erstaunt an. »Himbeere?«

Ich schnappe ihm den Riegel reflexartig aus der Hand um selbst nachzusehen. Tatsächlich! »Das ist mindestens genauso gut wie Popcorn«, stellt er zufrieden fest, während ich den Riegel in mundgerechte Stücke breche. Wir wissen beide, dass die Popcornzeiten vorbei sind. Für immer. Aber wir müssen nach vorne blicken. Neben all den Problemen, mit denen wir hier konfrontiert sind, gibt es eben auch noch Momente wie diesen. Momente, in denen mich ein absurdes Gefühl der Glückseligkeit beschleicht. Trotz allem. Oder vielleicht gerade deswegen. Bevor ich ihm das erste Stück in den Mund stecken kann, zieht Jonaz mich an sich. Ich protestiere lachend, und lande trotzdem direkt in seinen Armen.

Die erste Szene flackert bereits über den improvisierten Bildschirm, und ich schmiege mich an Jonaz. Versinke in seiner warmen Umarmung, entspanne die Schultern und lasse meinen Kopf auf seine Brust sinken. Der synthetisch-fruchtige Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus und innerlich schließe ich mit dem Tag ab. Ich vertreibe alle schlechten Nachrichten, unbekannten Feinde und merkwürdigen Visionen aus meinem Kopf und konzentriere mich nur auf Jonaz, mich selbst und die Leinwand. Solange der Film andauert, versinken wir in unserer eigenen Welt, und niemand wird uns hier finden: Im Keller einer kleinen Kuppel, über der sich das nächste Gewitter zusammenbraut. Umgeben von technischen Zeichnungen, Materialproben, Kisten – und neben mir Jonaz. Hier und jetzt ist die Welt in Ordnung. Zumindest für die nächsten sieben Stunden.

Für Nina
… und für alle, die zu neuen Ufern aufbrechen.

 

»Ich hätte mit 16 gern gewusst, dass das Einzige, was zwischen uns und dem Leben steht, die eigene Angst ist, und dass man sie nicht füttern darf, indem man ihr nachgibt. Ich hätte gern gewusst, dass es keine Veränderung gibt, ohne dass man dafür mit Angst bezahlen muss, und wie wunderbar glücklich und frei es macht, Dinge zu tun, vor denen man sich fürchtet.«
Cornelia Funke

#1 – Das Seifenblasental

»Ist das Ihr Ernst, General Bloud?« Mein Vater erwidert nichts. Schweigend und mit verschränkten Armen sitzt er da, während die Diskussion sich immer weiter zuspitzt. »Wir müssen unseren Fokus auf die Gewinnung der Rohstoffe setzen, wenn wir diese Siedlung retten wollen!« Seit Stunden geht das nun schon. »Nur so können wir wachsen! Das muss Ihnen doch einleuchten«, beendet der Vorsitzende der konservativen Partei seinen Vortrag.

»Wachstum kann nur da stattfinden, wo ein solider Nährboden vorhanden ist«, entgegnet mein Vater mit seiner ruhigen und kräftigen Stimme. Er stützt sich auf die Unterarme, und das hölzerne Pult knarrt unter seinem Gewicht. Das Holz ist so neu wie die Kuppel über unseren Köpfen. Wie fast alles hier in der Siedlung. »Und wenn die Bevölkerung keine Grundversorgung erhält«, fügt mein Vater hinzu, »wer fördert dann Ihre Rohstoffe, General Tosca? Möchten Sie das vielleicht selbst in die Hand nehmen?«

Dieser peinliche Denkfehler treibt dem sonst so standfesten General das Blut in den Kopf. Der Gedanke, dass jemand dreist genug ist, seinem Vorschlag zu widersprechen, und damit auch noch recht haben könnte, scheint ihm gar nicht zu gefallen. Was Tosca meinem Vater an Lebensjahren unterlegen ist, scheint er durch seine Motivation wieder wettmachen zu wollen. In Kombination mit seiner fehlenden Erfahrung führt das leider oft zu Diskussionen, die uns Zeit und Nerven rauben. Und die Tatsache, dass dieser junge General in hohem Maße von sich selbst überzeugt ist, macht es auch nicht besser. Ich seufze und ignoriere meinen knurrenden Magen. Selbst der Regierungskreis ist mit unserer Situation überfordert. Nichts ist mehr so wie noch vor wenigen Wochen. Keinem von uns fällt es leicht, das zu akzeptieren. Doch letzten Endes wird uns kaum etwas anderes übrig bleiben.

»Vergessen Sie Calypso«, fährt mein Vater fort. »Die Spielregeln haben sich geändert.«

»Darum geht es gar nicht«, verteidigt sich Tosca vehement. Er bekleidet dieses Amt erst seit wenigen Wochen, schlägt dafür – oder vielleicht gerade deswegen – aber schon einen recht harschen Ton an. »Wir werden nicht von unserem Kurs abweichen. Die Kalkulation verschiedener Szenarien hat ergeben, dass unsere Gemeinschaft gerade vom Fokus auf die Ressourcen profitiert. Erst der Bau einer neuen Kuppel über der Siedlung wird unser Überleben an Land sicherstellen.«

Seine Parteigenossen nicken im Gleichtakt. Frustriert stütze ich mein Kinn in die Hand und lasse den Blick hinauf zum transparenten Dach der Senatskuppel schweifen. Diese Konservativen. Sie sind immer einer Meinung. Und sie hören niemandem außer sich selbst gerne beim Reden zu. Geschlossen an einem Strang zu ziehen – das macht sie so stark. In unseren Reihen hingegen wird diese Besprechung wieder für endlose Diskussionen sorgen. Ich betrachte all die nachdenklich dreinblickenden Gesichter um mich herum und frage mich, was ich eigentlich hier mache. Seit ich die Verhandlungen zwischen Menschen und Ondine erzwungen und damit einen drohenden Krieg verhindert habe, scheint mein Vater große Hoffnung in meine politische Karriere zu setzen. In seinen Augen bringt das jede Menge Vorteile mit sich: Ansehen und ein gesichertes Auskommen zum Beispiel. Trügerische Sicherheit nenne ich das. Denn seit wir unsere alte Heimat Calypso hinter uns gelassen haben, ist rein gar nichts mehr sicher. Und auch der Regierungskreis trägt herzlich wenig dazu bei, dass sich daran etwas ändert. Es ist wirklich kaum auszuhalten. Hier wird den ganzen Tag geredet, beraten, abgestimmt. Und trotzdem dreht sich alles nur im Kreis. Es werden Kompromisse geschlossen und Entscheidungen erzwungen, mit denen am Ende niemand zufrieden ist. Ich weiß nicht, wie mein Vater das aushält. Er wirkt in letzter Zeit so abgespannt und erschöpft. Sein Haar hat einen verdächtigen Grauton angenommen, was meiner Mutter natürlich sofort aufgefallen ist. Aber er macht trotzdem weiter, schlägt sich Tage und Nächte um die Ohren, um eine Lösung zu finden. Er ist kaum daheim, genau wie früher. Mir entwischt ein Seufzer. Auch daran hat sich nichts geändert.

Die Zeiger der großen Uhr rücken auf die volle Stunde vor. Sie haben dieses Relikt aus dem alten Regierungskreis in Calypso gerettet. Keine Ahnung wie, denn das Ziffernblatt ist riesengroß und schwer. Allein der Stundenzeiger überragt einen ausgewachsenen Mann schon um ein paar Köpfe. Kaum hallt ihr vertrauter, archaischer Gong durch die ansonsten eher karge Senatskuppel, stehe ich schon mit geschulterter Tasche neben meinem Platz.

»Ich glaube, den Rest bekommt ihr auch ohne mich hin«, flüstere ich gerade so laut, dass nur mein Vater es hören kann. Die anderen Senatsmitglieder sind ohnehin viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken. Selten habe ich mich so fehl am Platz gefühlt. Auf Papas kritischen Blick antworte ich mit meinem charmantesten Lächeln. Ich weiß genau, dass er keine Diskussion mit mir anfangen wird. Nicht hier, vor allen anderen. Die Quittung bekomme ich frühestens heute Abend, zuhause. Mir bleibt also noch der halbe Tag, um nützlicheren Dingen nachzugehen – wie beispielsweise dem Plündern. Wenn ich Glück habe, erwische ich noch den Anschluss an meine Gruppe. Ich stürme aus dem Saal und gebe den Sicherungscode für das Flexigment ein. Die dreieckigen Segel aus Sicherheitsglas wurden inzwischen an der Außenhülle jeder Kuppel angebracht. Ein hydraulisches System zieht die Segel nach oben und senkt sie nach kurzer Zeit wieder, sodass die Eingangsbereiche der Kuppeln perfekt abgedichtet werden.

Unsere Mechaniker haben Wochen gebraucht, um einen Bruchteil der Stromversorgung wiederherzustellen, die in Calypso zur Verfügung stand. Aber es hat sich gelohnt, denn unsere Kuppeln sind dadurch nicht nur sicherer geworden: Jedes einzelne Flexigment erinnert an das große Schleusentor von Calypso – den ersten Ort, an dem diese Technik zum Einsatz kam. Sie stehen symbolisch für unseren Stolz, und die Hoffnung, eines Tages wieder die hoch entwickelte Zivilisation zu sein, die wir einst waren. Dass die Mechanik bei größeren Kuppeln etwas schwerfälliger läuft, ist ein kleiner Nachteil, der sich leicht umgehen lässt. Wenn mir, so wie heute, wieder einmal die Geduld fehlt, warte ich nicht, bis die grüne LED mir erlaubt, das gesicherte Tor zu passieren. Ich schlüpfe einfach unter dem Segel durch, sobald der Spalt breit genug ist. Normalerweise klappt das auch. Nur heute stolpere ich über ein unvorhersehbares Hindernis, das auf den Stufen unmittelbar hinter dem Durchgang lauert. Ich versuche auszuweichen und falle dabei fast die Stufen hinab. Bevor ich reagieren kann, springt das Hindernis auf, umschließt meine Taille fest mit beiden Händen – und mit einem Ruck stehe ich wieder auf den Beinen. Eine Mischung aus Überraschung und Besorgnis spiegelt sich in den goldbraunen Augen meines Gegenübers. Ich bin mir ziemlich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

»Was war das denn?«, wollen die Bernsteinaugen wissen und funkeln mich neugierig an. »Alles klar bei dir?«

»Ich glaube schon«, erwidere ich und mache einen Schritt zurück. »Und selbst? Warum lungerst du hier vor der Kuppel herum, wie ein …« Anstatt weiterzusprechen beiße ich mir auf die Zunge. Vielleicht sollte ich den Unbekannten nicht gleich beleidigen. Immerhin hat er mich gerade vor einem ziemlich heftigen Sturz bewahrt. Der Fremde scheint mir die unglückliche Wortwahl nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil. Meine Bemerkung sorgt für eine nachdenkliche Bewegung seiner dunklen Augenbrauen, die von einem charmanten Lächeln abgelöst wird. Auf einmal wird mir warm, obwohl der allmorgendliche Dunst noch immer über der Siedlung hängt. Die Sonne habe ich heute noch nicht gesehen, aber das Zifferblatt im Regierungskreis hat mir verraten, dass es schon fast Mittag ist. Wenn ich den Anschluss an meine Gruppe nicht verpassen will, sollte ich mich jetzt wirklich auf den Weg machen. »Also, eigentlich habe ich das nicht so … tut mir leid«, sage ich und versuche mich kurz zu fassen. »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass jemand hier sitzt.«

Er verschränkt die Arme vor der Brust. Sein Shirt sitzt nicht nur ziemlich gut – mir fällt sofort auf, dass es kaum getragen ist. Mein drei Monate alter, blassblau gestreifter Lieblingspullover, dessen Saum sich am Hals bereits aufdröselt, wirkt im Vergleich dazu schäbig. Ungetragene Klamotten gibt es in dieser Siedlung nicht mehr. Wie kommt man da an Kleidung, die nicht nur neu sondern auch noch fast maßgeschneidert wirkt? Mein Blick verweilt einen Moment zu lang auf seinen durchtrainierten Oberarmen, bevor mich eine leise Stimme daran erinnert, dass ich so etwas wie einen Freund habe. Verdammt. Auch wenn wir den offiziellen Status unserer Beziehung noch nicht benannt haben – wenn Jonaz andere Mädchen so anstarren würde, fände ich das mit Sicherheit nicht lustig.

»Wie heißt du?«, erkundige ich mich, weil ich diese Frage für unverfänglich halte. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

»Wow, kennst du etwa jeden einzelnen Menschen in dieser Siedlung?«, kontert der Unbekannte, immer noch schmunzelnd. »Beeindruckend.«

»Natürlich kenne ich nicht jeden einzelnen Menschen in dieser Siedlung«, antworte ich rasch und versuche nicht rot zu werden. Was natürlich prompt das Gegenteil bewirkt, ich spüre förmlich, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Das war’s dann wohl mit der Unverfänglichkeit. Was soll ich sagen? Dass ich mich an einen Kerl wie ihn ganz bestimmt erinnern würde, wenn wir uns schon einmal begegnet wären? Ich schätze, es ist Zeit zu gehen. Doch der Fremde streckt mir seine Hand entgegen.

»Mein Name ist Nicon.«

Ich erwidere den Handschlag. »Ein Spitzname?«, rate ich ins Blaue hinein.

»Genau, kurz für Nicarion«, erklärt er und verzieht das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Normal fanden meine Eltern langweilig.« Ich muss lachen.

»Ja, meine auch. Ich heiße Noemi.«

»Na, immerhin haben sie Geschmack.«

»Danke«, erwidere ich lachend. Die nächste Frage liegt mir schon auf der Zunge. Natürlich interessiert mich, was er hier macht und woher er kommt. Aber wenn ich mich nicht beeile, ziehen die anderen ohne mich los. Schweren Herzens verabschiede ich mich. »Nicon, ich muss weiter. Aber wir sehen uns. Würde mich jedenfalls freuen.«

»Und mich erst«, erwidert er grinsend. »Bis dann, Noemi.«