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Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Tag eins
Tag elf
Tag zwölf
Tag vierzehn
Tag siebenundzwanzig
Tag dreiundvierzig
Tag sechsundvierzig
Tag achtundvierzig
Tag neunundvierzig
Tag fünfzig
Tag einundfünfzig
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PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2748
Die Himmelsscherbe
Ein Terraner auf einer fremden Welt – auf der Suche nach dem Weg nach Hause
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1516 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße seit nunmehr zwei Jahren unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Seine Angehörigen behaupten, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen.
Welche Auswirkungen die Atopische Ordo haben kann, erfährt Perry Rhodan in der Galaxis Larhatoon. Sie ist die Heimat der Laren – dieses Volk herrschte vor über eineinhalb Jahrtausenden eine beträchtliche Zeitspanne in der Milchstraße. Auch in der Menschheitsgalaxis regieren faktisch längst die Atopischen Richter und treiben die Regierungen der galaktischen Völker vor sich her.
An einem unbekannten Ort erwacht derweil ein Mensch, den die meisten bereits abgeschrieben haben. Sein erstes Ziel in der neuen Welt ist DIE HIMMELSSCHERBE
Rowdy Yates – Ein Mensch erwacht und sucht nach seinen Erinnerungen.
Der Redselige Ostrateus – Der Redselige redet von Erinnertem.
Omye – Als Frau ist sie von Natur aus eigentümlich.
Zafelloyk – Der Ruppige findet jemanden, der ihm glaubt.
Gleißende Helligkeit. Dann Schwärze, wie sie dunkler nicht sein konnte. Es war nicht bloß die Abwesenheit von Licht; es war der allumfassende Eindruck, von einem Nichts umgeben zu sein – und selbst ein Nichts zu sein. Zwar mit Masse versehen, doch frei von allem Gefühl, wer und was er war.
Er empfand das Gewicht einer ganzen Welt, das auf seinen Schultern lastete, ihn zerdrückte, ihn zerquetschte. Er wurde zerrissen und zerfetzt und wieder zusammengefügt, um diesen Kreislauf des Grauens ein weiteres Mal durchmachen zu müssen. Zehnmal pro Sekunde, tausendmal pro Sekunde.
Was, zur Hölle, war eine Sekunde? Im Nichts existierten keinerlei Vergleichsmöglichkeiten.
Hölle ... Angesichts dessen, was er derzeit durchmachte und empfand, erschien ihm der Vergleich mit diesem Konzept eines Ortes, an dem endlose Bestrafung stattfand, als durchaus passend.
Wer war er? Sein Name war ebenso vergessen wie alles, das ihn betraf. Vielleicht hatte er einst Gliedmaßen gehabt, womöglich einen Kopf und Merkmale, die ihn als Säuger oder Insektoiden auswiesen. Er konnte sich nicht sicher sein. In dem Wirrwarr seiner Gedanken fanden sich keinerlei Hinweise auf seine Körperlichkeit.
Er wurde hin- und hergezogen, als bewegte er sich zwischen Scheitelpunkten einer Schwingungskurve. Die Wellentäler hinab, die Hügel hinauf, immer wieder und immer von Neuem. Es war kein Ende des wilden Ritts abzusehen, der allerdings keine Übelkeit bereitete, weil, wie er irgendwann feststellte, er selbst diese Amplitude war. Er war ein dünner Faden aus Nicht-Materie, der von einem Ende des Universums zum nächsten geschickt wurde, um gleich darauf wieder die Rückreise anzutreten, quer durch ein unbekanntes Raum-Zeit-Gefüge, malträtiert von Einflüssen, die er nicht begriff und die er mit seinen eingeschränkten Sinnen nicht erfassen konnte.
Was er sah, fühlte und begriff, ergab gewiss Sinn, aber dieser Sinn lag jenseits aller Worte. Dies alles war neu und unbekannt für ihn, trotz seines reichhaltigen physikalischen Grundlagenwissens. Also reiste er weiter, vor und zurück, vor und zurück. Ließ Licht und Schatten über sich ergehen, Wärme und Kälte, Ausdehnung und Zusammenziehen.
Er suchte nach einem Bezugspunkt, der ihm Halt bot inmitten eines entropischen Chaos – und ergriff ihn. Es war ein Laut, der ihm zwar bekannt vorkam, den er aber vorläufig nicht einzuordnen vermochte. Es dauerte einige satte Ewigkeiten, bis er zu dem Ton den dazugehörigen Begriff fand, und er hätte gelacht, wenn er die dafür notwendige körperliche Konsistenz gehabt hätte.
Denn er hörte ein Gequake. Es klang mal schauerlich unmelodisch, dann wieder wie der lieblichste Gesang, mit dem jemals ein Kröterich eine Kröte bezirzt hatte.
Nun war es gut. Er hatte seine Realität wiederentdeckt. Er wusste, dass er ein Mensch war. Dass er auf Reisen war. Dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Und dass er, sobald er erwachte, den Namen Rowdy Yates tragen würde.
*
Er setzte sich ruckartig auf. Er war schweißgebadet, alles tat ihm weh. Sein Herz schlug heftig, das Atmen fiel ihm schwer. Und erst die Beine ...
Rowdy blickte an sich hinab. Die Beine waren in einem spitz zulaufenden Winkel eingeklemmt wie Pommes frites in einer Tüte. Mühsam zog er sie an seinen Oberkörper und massierte die nackten Füße so lange, bis das Gefühl der Taubheit verschwand.
Schweißperlen tropften auf ein kotzgrünes Laken und eine kotzgrüne Decke, lavendelfarbene Wände grenzten seinen Blick ein.
»Ich bin in einem Farben-Albtraum gefangen«, sagte Rowdy leise, verstummte aber gleich wieder angesichts des grässlichen Klangs seiner Stimme. Sie war heiser und kraftlos und keinesfalls so, wie er sie in Erinnerung hatte.
Umdrehen. Umblicken. Den Raum nach Gefahrenpunkten und Ungewöhnlichem absuchen. So hatte er es gelernt, so war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Alles war ungewohnt, aber nicht so, dass er Sorge empfand. Der Raum hatte die Form eines gleichschenkligen Dreiecks. In einem der Winkel stand das Bett, eingekeilt und nicht auf seine körperlichen Bedürfnisse ausgerichtet.
Er wälzte sich daraus hervor und trat sachte auf einen flauschigen Teppich. Auf einen pfirsichfarbenen Teppich wohlgemerkt, in dem seine Füße tief einsanken und ... und ... massiert wurden.
Rowdy winkelte die Beine rasch wieder an und zog sich auf das Bett mit der überaus weichen Matratze zurück. Die Liegestätte war wie ein Rettungsboot. Ein Refugium an einem unbekannten Ort, dessen Farbenvielfalt ihm Unwohlsein bereitete. Das Zimmer war anders als das, was er gewohnt war. Rowdy fühlte viel lieber einen festen, Halt gebenden Boden unter seinen Füßen und nicht dieses flauschige Etwas, das in ihm das Gefühl auslöste, bergab zu rutschen.
Wer war er tatsächlich? Warum wusste er über sich nicht viel mehr als diesen belanglos klingenden Namen? Wo waren seine Erinnerungen geblieben, warum wirkte seine Umgebung so fremd auf ihn? Und wieso fand er so viele Vergleiche aus seiner Erinnerung, aber nicht die Erinnerung selbst?
Ihn fror. Er wischte sich weiteren Schweiß von der Stirn und sah sich um. Eine Schiebetür an der gegenüberliegenden Wand führte aus dem Zimmer, Einrichtungsgegenstände waren keine zu sehen.
Das Licht ... es änderte sich. Aus einem weißen Grundton wurde allmählich etwas, das an ein Himmelblau erinnerte.
Es war grässlich. Es bereitete Kopfschmerzen und machte Rowdy umso deutlicher, dass er nicht an diesen Ort gehörte.
Er wagte einen erneuten Versuch, stellte sich auf die Beine und ignorierte das Kribbeln in seinen Zehen, während er auf die Tür zuging. Sein Schritt war unsicher, und er geriet bereits nach wenigen Metern in Atemnot. Offenkundig hatte er längere Zeit geschlafen und war längst nicht in der Lage, sein körperliches Potenzial voll auszuschöpfen.
Ein Knauf, dreieckig, musste nach links und dann nach rechts gedreht werden, um die Tür zu entriegeln und zur Seite schieben zu können. Dahinter lag ein weiterer, größerer Raum. Die Wände entfernten sich in Verlängerung des Schlafzimmers weiter von ihm. Die gesamte Wohnung war in Dreiecksform ausgestaltet, spärlich eingerichtet und von einer Farbmischung, die Rowdy an seinem Verstand zweifeln ließ. Minzgrüne Wände. Eine Decke, in zart gehaltenem Rosa. Dottergelbe Leisten, die einen pinkgelben Teppich fixierten. Ein Sofa, dessen Bezug er mangels eines besseren Farbbegriffs als Kloakenbraun in seinem Kopf abspeicherte. Es stand zu seiner Rechten und war das einzige Möbel in diesem Wohnzimmer.
Rowdy tat weitere Schritte, wie magisch von drei Säulen angezogen, brusthoch und dreieckig, die im Zentrum des Raums standen. Geflissentlich ignorierte er dabei das einzige Fenster im Raum, links von ihm, das mit dunkelgrünem Flor abgedeckt war. Dem Außen würde er sich später widmen. Zuerst wollte er den Geheimnissen im Inneren der Wohnung auf die Spur kommen.
Auf den drei Säulen ruhten geschlossene Terrarien, in denen sich winzige Lebewesen tummelten. Langsam und vorsichtig trat Rowdy auf das linke Behältnis zu. Das Glas spiegelte kaum und erlaubte ihm daher einen ausgezeichneten Blick aufs Innere. Auf winzige Froschartige, deren Leiber fast so farbenfroh wie das Interieur der Wohnung gezeichnet waren. Symmetrische Muster und Formen gaben ihnen Zeichnungen, die mit denen irdischer Schmetterlinge vergleichbar waren.
Fasziniert sah Rowdy zu, wie die Tiere dann und wann einen Sprung taten, von einem Stein zum nächsten, um sich mit den Saugnäpfen auf ihren breiten Beinchen daran festzuhalten und nach einer Weile erneut mit blitzschnellen Sätzen woandershin zu wechseln.
Rowdy nahm die Tiere näher in Augenschein. In den großen, schwarzen Pupillen tanzten winzige Schneepünktchen auf und nieder. Die Mäuler waren an den Winkeln nach oben geschwungen und gaben den Froschähnlichen eine Mimik, als wären sie über ihn, den Beobachter, höchst amüsiert. Und die Wangen, rot und orange, gaben den Gesichtern einen zusätzlich clownesken Anstrich. Eines der Tiere quakte ihn an und zeigte Rowdy eine blutrote Zunge, und hätte er nicht just in diesem Moment blinzeln müssen, hätte er schwören können, dass ihm der Frosch mit einem Auge zuzwinkerte.
Und dann ... war einer von ihnen weg. Einfach so. Als hätte es ihn niemals gegeben.
Ein neues Wort mit bekanntem Klang tauchte in seinem Kopf auf: Teleportation. Es bezeichnete einen distanzlosen Schritt, der mit Hilfe einer höherdimensional wirkenden Gabe vollzogen werden konnte.
Sorgfältig betrachtete Rowdy das mittlere Terrarium und zählte 25 dieser merkwürdigen Frösche – einer davon besaß dieselbe Rückenzeichnung wie jenes Tier, das sich eben scheinbar aufgelöst hatte. Es musste einen Teleportationssprung von etwa einem Meter getan haben und saß nun ruhig da, völlig entspannt. Es riss das Maul weit auf und quakte ihn an. Es klang wie Gelächter und so, als hielte ihn das Tier für einen ahnungslosen Deppen.
Irrte er sich? War er unaufmerksam gewesen und hatte er die Bewegung des Frosches übersehen? Litt er gar unter Halluzinationen oder geistigen Aussetzern? Angesichts des seltsamen Traums und seiner Gedächtnislücken musste er auch mit einer dieser Möglichkeiten rechnen.
Nach einer Weile hatte er sich an den Fröschen sattgesehen. Dies war ein Rätsel, das sich ihm vorerst nicht erschloss. Vielleicht waren die Tiere Nahrung, vielleicht Spielzeug, ein Blickfang, Teile eines bio-architektonischen Konzepts, Gesellschafter oder gar Freunde des eigentlichen Wohnungsinhabers – er wusste es nicht. Für Rowdy stand fest, dass er selbst jedenfalls fremd in dieser Umgebung war.
Er wandte sich dem Fenster zu und tastete den Flor ab. Das Material war hauchdünn und fühlte sich warm an. Er schob das Tuch zögernd beiseite. Wollte er denn wissen, was sich da draußen befand? Rowdy hatte plötzlich Sehnsucht nach dem Bett. Die wenigen Schritte hatten ihn müde gemacht, die Beinmuskulatur fühlte sich übersäuert an, und das Stehen bereitete ihm gehörige Schwierigkeiten.
Nichts da! Er hatte sich niemals gehen lassen, war ein höchst aktiver Mensch gewesen und hatte sich Widernissen stets frontal gestellt. Dafür war er bekannt gewesen, damit hatte er stets andere Menschen für sich eingenommen.
Das Fensterglas war ebenfalls grün getönt, der Ausblick durch Nebelbänke und heftigen Schneefall getrübt. Doch was Rowdy sah, bewies ihm, dass er recht hatte: Er gehörte nicht an diesen Ort. Die Wesen, die sich entlang schmaler, gewundener Wege bewegten, ähnelten ihm zwar vage, waren aber doch ganz anders. Denn sie hüllten sich in dicke Felle, die über den Schultern und am Rücken besonders stark gepolstert waren. Sein eigenes Spiegelbild hingegen, vom Glas dank des trüben Lichts im Freien reflektiert, zeigte ihm einen Terraner mit Bartstoppeln, kurz geschnittenem Haar und einem leichten Bauchansatz, der ihn augenblicklich rot anlaufen ließ. Und der weitere Erinnerungen zurückbrachte.
»Von wegen Rowdy Yates«, grummelte er und zog den Bauch ein. »Bei diesem Luxuskörper ist es nicht länger zu verkennen, dass ich Reginald Bull bin.«
*
Sein Unterbewusstsein hatte einen in tiefster Vergangenheit begrabenen Namen aus seinem Geist hervorgezogen und hatte ihn vor Selbstverlorenheit geschützt. Bull verstand den Mechanismus nicht, der da gewirkt hatte, und er war ihm auch völlig gleich. Hauptsache war, dass er so rasch wie möglich die Kontrolle über sein Leben zurückerhielt. Rowdy Yates war die Figur einer Westernserie namens »Rawhide« gewesen, die er als junger Mann mit Begeisterung verfolgt hatte. Clint Eastwood hatte die Rolle des Cowboys Rowdy Yates gespielt. Unter Sergio Leone hatte er in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts Spaghetti-Western gedreht, um dann, nach der Mondlandung und dem Aufeinandertreffen mit den Arkoniden, beinahe vollends in der Versenkung zu verschwinden.
»Schade«, sagte Bull zu sich selbst, »er war ein guter Mann. Aus ihm hätte mal ein ganz Großer werden können. Ein Star. Aber Hollywood hatte in den Siebzigern fürs Western-Genre nichts mehr übrig und erst recht nichts für kantige Typen wie Eastwood. Wer Perry Rhodan hat, benötigt keine weiteren Helden.«
Seine Stimme klang eingerostet. Er betonte Wörter falsch, als hätte er jahrelang im Koma gelegen und müsste das Sprechen neu erlernen.
Nicht, dass sein Leben durch das Auftauchen dieser neuen Erinnerung einfacher wurde, ganz im Gegenteil. Das Rätsel seiner geheimnisvollen Unterkunft blieb. Es stellte sich die Frage, wie er vom zerfallenden Raumschiff JULES VERNE hier hergefunden hatte.
»Vielleicht sollte ich diese Höllen-Theorie tatsächlich in Betracht ziehen«, murmelte er.
Die Frösche in den Terrarien hinter ihm waren wohl derselben Meinung. Sie hoben zu einem Quak-Konzert an, das rasch an Lautstärke und Intensität gewann und dann abrupt wieder endete.
»Jaja, lacht nur über mich.« Bull drehte sich nicht nach den Tieren um. Was dort draußen vor sich ging und was zu sehen war, interessierte ihn weitaus mehr.
Eben schob sich eine Sonne zwischen den Nebelbänken hervor. Sie wirkte diffus, als triebe feinster Nebel vor der Scheibe, und kleiner als Sol. Das Licht, das sie hervorbrachte, erzeugte den Eindruck einer nahezu monochromen Welt. Nur da und dort zeigten sich Farbtupfen: blaue, grüne, rote und gelbe Häuser mit dreieckigen Grundflächen und senkrecht hochgezogenen Wänden, auf denen Flachdächer ruhten.
Die Gebäude waren allesamt eingeschossig. Zumindest jene, die er sehen konnte. Sie waren über hügeliges Gelände verteilt, und womöglich hätte er noch mehr entdecken können, wenn nicht erneut einsetzende Schneeschauer seine Sicht eingeschränkt hätte. Bewohner, die mit eng um den Körper gezogenem Mantel durch das Gestöber stapften, hatten gehörig Mühe, sich gegen stärker werdenden Wind zu stemmen.
»Also schön, Bully. Du machst eine Situation wie diese nicht das erste Mal durch. Du wachst in einem fremden Bett in einer fremden Gegend auf und starrst auf Gestalten, die dir bloß vage bekannt vorkommen.« Er grinste. »Erinnere dich; damals, als du bei deiner Cousine Marylin in Buffalo Springs übernachtetest und deinen ersten Whiskey-Rausch hattest, war es ganz genau so. Mit dem klitzekleinen Unterschied, dass das schlafende Mädchen neben dir im Bett noch fremdartiger aussah als diese Geschöpfe da draußen.«
Hinter ihm quakte es belustigt.
»Im Vergleich zu den Scherereien, die du mit Marylins erwachender Freundin und ihren puritanischen Eltern hattest, die dich augenblicklich als Schwiegersohn akquirieren wollten, sollte dies hier eine Kleinigkeit sein. Immerhin musst du nicht in Unterhosen durch die Stadt flüchten, verfolgt von einem schießwütigen Vater, der dir Schrotladungen hinterherjagt.«
Er sah an sich hinab.
»Oha. Ich muss mich korrigieren. Es dürfte doch ein klein wenig komplizierter sein als gehofft. Von einer Unterhose ist diesmal nichts zu sehen.« Sehnsüchtig blickte er sich um. »Und von Whiskey leider auch nichts.«
*
Die karmesinrote Eingangstür war im rechten Winkel der Wohnung, die Sanitäranlagen dagegen in der linken Ecke, und die würde er zuallererst aufsuchen. Bevor er sich auf eine Erkundungstour begab, musste er Körper und Geist beleben.
Es dauerte nicht lange, bis Bull die Funktion der meisten Geräte durchschaut hatte. Er nahm einige Schlucke Wasser. Es war kalt, roch harzig und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Sollten der Flüssigkeit Stoffe beigemengt sein, die seinem Metabolismus schadeten, würde er auf die Heilungskräfte seines Zellaktivators vertrauen, wie so oft.
Nicht ganz so einfach verlief die Nutzung der Toilette: Auch dort hatten die unbekannten Erbauer Wert auf die Verwendung der ungewöhnlichen Dreiecksform gelegt, und es dauerte eine Weile, bis er sich mit der Anlage arrangiert hatte. Der Kopf der Dusche ließ Wasser in ungewöhnlicher Menge und mit viel zu starkem Druck herabrauschen, auch blieb die Temperatur unter den von LFT-Welten gewohnten Standards. Doch das waren Nebensächlichkeiten, die Bull kein Kopfzerbrechen bescherten, ganz im Gegenteil. Diese Dinge beschäftigten seinen Geist und ließen ihn vorerst nicht weiter über die größeren Dinge nachdenken, mit denen er konfrontiert war. Noch immer fehlte ihm die Erinnerung daran, wie er an diesen Ort gekommen war, und allem Anschein nach würde sich diese Lücke nicht so ohne Weiteres schließen lassen.
Bull hatte sich im Weißen Raum der JULES VERNE aufgehalten, dem letzten Refugium eines zerfallenden Raumschiffs, und hatte mit dem Tod gerechnet. Dann war eine Stimme laut geworden. An den exakten Wortlaut des Gesagten konnte er sich nicht mehr erinnern. Sein Bewusstsein war erloschen, er war vermeintlich gestorben. Um nun wieder zu erwachen.
Die Eindrücke blieben vage. Womöglich waren die Erinnerungslücken der Tatsache zu verdanken, dass die JULES VERNE in ein Schwarzes Loch gezogen und vernichtet worden war. Aus Gründen, die unklar blieben, hatte er diesen Prozess überstanden und dabei Vorgänge miterlebt, die mit herkömmlicher Physik und Hyperphysik zu erklären waren.
»Bin ich bloß ein Glückspilz, ein Gustav Gans der Weltraumfahrt, oder hat mir jemand geholfen, aus dem Schwarzen Loch zu entkommen?«
Er beendete die Dusche und drehte das Wasser ab. Ein Teil der Wand neben der Duschtasse war perforiert. Neugierig legte er seine Rechte gegen die Fläche – und fühlte augenblicklich eine sanfte Sogwirkung, die umso stärker wurde, je fester er sich gegen die Wand presste.
Bull verstand. Er fühlte, wie sich jener Teil, an den er sich lehnte, an seinen Körper anpasste, ihn massierte – und dabei Feuchtigkeit absaugte. Es dauerte nicht lange, dann war er trocken. Bull drehte der Wand nun seine Vorderseite zu und ließ das merkwürdige Verfahren ein weiteres Mal über sich ergehen. Es kostete Bull eine gewisse Überwindung, sich auf diese fremdartige Technologie einzulassen. Doch er hatte im Laufe seines langen Lebens genügend Erfahrungen gemacht, um sie einordnen zu können und zu wissen, wann ihm Gefahr drohte und wann nicht.
Wenn ich zum Beispiel an den boirkrynischen Kochchirurgen denke, der mir neue Körperöffnungen schneiden wollte, um Wurmgelege darin anzusiedeln ... Die Tierchen hätten mir während der folgenden drei Wochen bei jeder Nahrungsaufnahme das Gefühl höchster Ekstase vermittelt, um dann abzusterben und als dicke, fette Egel ausgeschieden zu werden.
Bull löste sich endgültig von der Wand. Er fühlte sich erfrischt, er duftete nach ätherischen Ölen. Und er war nackt. Völlig nackt. Das seltsame Gerät hatte ihm, ohne dass er es bemerkt hatte, vom Hals abwärts jedes einzelne Körperhaar epiliert, sehr zum Amüsement der Frösche, die vergnügt vor sich hin zu quaken begannen, als er das Wohnzimmer betrat.
*
Bull klopfte gegen die Scheibe des mittleren Terrariums. Die Tiere ignorierten ihn diesmal. Sie taten ihre Sprünge, klatschten mal gegen Glasscheiben, landeten dann wieder aufeinander, um zu Klumpen mit ineinanderverschränkten Gliedern zu werden und dabei energischer als vorher Laut zu geben.
»Habt ihr euren Spaß, meine kleinen Freunde? Ich sage euch aus eigener Erfahrung, dass es anstrengend wird, sobald mehr als drei Beteiligte mit im Spiel sind. Aber ihr ... hm ... ihr dürftet einige Erfahrung mit diesem ... hm ... Klumpensex haben. Ich werde euch nicht länger stören.«
Bull wandte sich verschämt ab. Er hatte das Gefühl, etwas gesehen zu haben, das ihn nichts anging.
»Und was nun, kleiner Mann? Schnee und Sturm sind keine idealen Voraussetzungen, um die Umgebung zu erkunden. Gibt es hier keinen Kleiderschrank? Keine Auswahl an farbenfrohen Stoffen, meinetwegen auch Dreieckstücher, die ich mir um den Körper schlingen kann? Ein Paar Schuhe wäre auch nicht schlecht.«
Es gab nicht viel zu entdecken in dieser nüchtern eingerichteten Zweckwohnung. Gewiss gab es Funktionen, die er noch nicht durchschaute. So etwa vermittelten die Bodenteppiche das Gefühl von Lebendigkeit. Womöglich ertasteten sie seine Körperfunktionen und kontrollierten ihn. Einige merkwürdige Leisten durchzogen den großen Wohnraum. Sie lagen kreuz und quer und waren vielleicht Teil eines weiter gespannten Orientierungssystems, das Bull noch nicht begriffen hatte. Auch die schrillen Farbkombinationen, von denen er umgeben war, mochten für die hiesigen Bewohner eine besondere Bedeutung besitzen.
Bull fröstelte. Er war versucht, ins Bett zurück zu schlüpfen, um weiterzuschlafen. Trotz seines Zellaktivators fühlte er ungewohnte Müdigkeit.
»Nichts da!« Er stampfte auf und nahm das Brennen in Fersen und Fußballen mit Verwunderung zur Kenntnis. War der Teppich mit seinen Emotionen nicht einverstanden? – Er würde sich daran gewöhnen müssen. Bull war nie sonderlich pflegeleicht gewesen. Das eine oder andere Mal hat man mich sogar als kratzbürstig bezeichnet. Hmpf!
Die fünftausendste oder sechstausendste in meinem Leben ...