Planetenroman
Band 14
Der Killer von Terra
Mord in den Plejaden – ein TLD-Agent durchlebt die Hölle
Michael Marcus Thurner
Ende des 13. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung: In der Milchstraße haben nationalistische Strömungen zugenommen; auch die Menschheit ist davon nicht ausgenommen. Enttäuscht ziehen sich Perry Rhodan und die Zellaktivatorträger zurück und bauen auf dem Planeten Camelot eine neue Zivilisation auf.
Manche Menschen der Liga Freier Terraner streben nach größerem Einfluss in der Galaxis, der Geheimdienst wird in dieser Zeit stark ausgebaut. Unter Leitung von Gia de Moleon wird der Terranische Liga-Dienst zu einem Machtfaktor ersten Ranges.
Stendal Navajo ist ein junger Liga-Agent. Als er den Auftrag erhält, auf der unbedeutenden Kolonialwelt Tryop einen Mord aufzuklären, kann er nicht ahnen, dass er auch in ein politisches Wespennest stößt ...
Ein echter Weltraum-Thriller mit packenden Szenen!
Die Historie der Menschheit ist reich an kleinen und kleinsten Episoden, Geschichten von Menschen, die kurz im Brennpunkt der Öffentlichkeit stehen. Sie erregen Aufmerksamkeit, treffen im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen – und verschwinden dann wieder im Dunkel der Chronik. Nur selten erfahren wir, wer sie sind und woher sie kommen.
Ein solcher Fall ist Stendal Navajo. Am 1. Februar 1290 Neuer Galaktischer Zeitrechnung wird er zum Bürgermeister des terranischen Stadtteils Alashan gewählt, drei Monate nachdem es das Viertel durch die Geschehnisse um die Koalition Thoregon in die Weiten des Universums verschlagen hat.
Um diese Zeit ist bekannt, dass er Agent des Terranischen Liga-Dienstes war, bis er, nicht einmal drei Jahre vor seiner Wahl, diese Organisation verließ. Weitere Informationen über ihn sind kaum zu erhalten. Er hat nie erzählt, was ihn zu seinen Handlungen bewog, und seine Akten sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Erst lange nach dem Abschluss der Geschehnisse um Thoregon, lange nachdem Stendal Navajo als Bewohner der Nation Alashan in der Galaxis DaGlausch gestorben war und auch die seinerzeitige TLD-Chefin Gia de Moleon nicht mehr unter den Lebenden weilte, wurden einige der ihn betreffenden Dateien freigegeben.
Die Ereignisse, die dazu führten, dass Stendal Navajo den TLD verließ, führen uns zurück in die Anfänge der Thoregon-Zeit, zurück in das späte dreizehnte Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Neben persönlicher Tragik werfen sie ein Schlaglicht auf eine Galaxis, eine Menschheit im Umbruch – eine Menschheit, die sich nach dem Rückzug der Zellaktivatorträger auf der galaktischen Bühne neu zu positionieren versucht. Und dies mit teilweise zweifelhaften Mitteln ...
(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 13. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 14.1.1, Leben im Zwielicht: 1287–1288 NGZ)
Vergangenheit
Der Attentäter hatte sein Opfer im Visier. Er zielte auf den Kopf und krümmte langsam den Zeigefinger der rechten Hand um den Abzug der Hochenergiewaffe. Kurz bevor er auslöste, rückte er mit der Stützhand ein wenig nach unten.
Nach nicht einmal einer Sekunde ließ er den Abzug wieder los, behielt aber das Auge am Infrarotvisier, das ihm sein Opfer optisch nahe heranbrachte. Es war zusammengebrochen und hielt sich schmerzerfüllt die Seite, ungefähr in Hüfthöhe. Ein Blutfleck wurde unter den zusammengepressten Händen des Mannes sichtbar und breitete sich aus.
Ruhig und ohne Hast packte der Attentäter das Gewehr weg, richtete sich auf und näherte sich pfeifend dem Opfer, das in mehr als einhundert Meter Entfernung vor einem luxuriösen Dach-Appartement lag.
»Ein schöner Abend zum Sterben, Otmar«. Der Schütze hockte sich nieder und suchte den Blickkontakt zu Otmar Leo, dem Weinhändler von Olymp.
Leo hatte die Augen geschlossen, Tränen rannen über sein Gesicht. Er krümmte sich zusammen; sein Mund bewegte sich, als wollte er etwas sagen.
»Lass es sein, Otmar.«
Die Stimme des Attentäters wirkte sanft. »Es tut weh, nicht wahr? Du weißt nicht, was passiert ist? Du bist verwirrt? Du Armer ...«
Er strich seinem Opfer die Haare aus der Stirn und wischte die Schweißtropfen ab.
»Dabei ist heute dein Glückstag, mein Lieber. Stell dir vor: Ich mache dich über Nacht zum Star! Du bekommst eine einzigartige Rolle in einem einzigartigen Stück. Es kann gar nichts schiefgehen, überlass alles nur mir. Ich habe das Drehbuch geschrieben, ich führe Regie, und ich sorge für die Besetzung.« Der Attentäter kicherte. »Selbst die Tricktechnik stammt von mir. Einmalig, nicht wahr?«
Er räusperte sich, stand auf und umkreiste Otmar Leo, ohne in seiner Rede innezuhalten.
»Bevor wir beginnen, muss ich allerdings noch etwas loswerden, Leo. Es ist eine verdammte Schweinerei von dir, die Sicherheitsvorkehrungen dermaßen zu vernachlässigen. Das ist eine Beleidigung für mich! Ein paar altmodische Vid-Kameras, drei Security-Robots der miesesten Bauart und billige Bewegungsmelder, made on Ferrol.«
Der Attentäter wirbelte herum und deutete mit der rechten Hand auf den Verletzten, wütend und über alle Maße erregt.
»Du hast mich beleidigt, Leo! Schwer beleidigt! Und ich schätze es nicht, wenn mein Handwerk derart herabgesetzt wird.« Er atmete schwer.
»Aber ich verzeihe dir. Ich werde großzügig sein. Du bereitest mir ein paar vergnügliche Minuten, und die Geschichte ist vergessen, nicht wahr, Leo?«
Blitzschnell zog der Attentäter ein Vibratormesser aus dem Hosenbund, fixierte die rechte Hand des Opfers auf dem Boden und schnitt ihm den Daumen oberhalb des ersten Gelenkes ab.
Otmar Leo schrie auf – er brüllte, was seine Lungen hergaben. In einer verzweifelten, durch den Schmerz verursachten Kraftanstrengung konnte er den Griff um sein Handgelenk lösen. Noch immer tobend, versuchte er wegzurobben.
Sein Peiniger richtete sich auf, umrundete ihn wiederum mit tänzelnden Schritten und trat ihm lächelnd in die verwundete Seite.
»Schrei nur, Leo. Das habe ich gern. Wir sind ganz allein unter meinem Akustik-Schirm. Und glaube mir, du wirst noch viel mehr schreien, bevor unser Stück zu Ende ist. Schade, dass du den Applaus nicht hören wirst.«
Er betätigte seinen Syn-Sender und begann zu tanzen ...
Stendal Navajo sichtete dokumentarische Berichte, die sich mit Projekt Camelot beschäftigten. Wieder einmal.
Das Verschwinden Perry Rhodans und anderer Unsterblicher von der politischen Bühne beschäftigte den Terranischen Liga-Dienst über alle Gebühr. War es gesunkenes Interesse an Politik, waren es andere Umstände, war es ein Auftrag von ES, der sie von der Erde vertrieben hatte?
Stendal wusste es nicht, und im Grunde genommen war es nicht sein Bier. Er hatte bloß Berichte zu analysieren, die sich mit den überall auf Terra aus dem Boden sprießenden Rekrutierungsbüros für Projekt Camelot beschäftigten.
»Hyperwissenschaftler, Techniker, Statiker, Nexialisten, Biologen ... Camelot dörrt uns aus«, sagte er.
»Wie bitte?« Kurt Datschew stopfte sich einen Musenkuss in den breiten Mund und zerkaute genüsslich die Vurguzzschokoladenhülle.
»Ich frage mich, was diese Camelot-Leute von uns wollen. Und wohin all das Fachpersonal gelangt, das sie rekrutieren.«
»Wir ahnen, dass Rhodan dahintersteckt. Und Atlan. Und Homer Adams. Das Dreigestirn politischer, militärischer und wirtschaftlicher All-Macht. Haha! Ganz schön doppeldeutig, nicht wahr? All-Macht ...«
»Ist schon gut«, brummte Stendal. Er wandte sich wieder seinen Analysen zu. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er sich mit diesem Thema beschäftigen musste. Die leistungsfähigen Syntrons des Terranischen Liga-Dienstes wussten weitaus besser mit einem derart komplexen Thema umzugehen. Viel lieber hätte er sich seiner eigentlichen Aufgabe gewidmet: der Koordination von mehr als achtzig Agenten im Außendienst.
Kurt würgte rasch sein Essen hinunter, legte seinen mit Fußballresultaten gefüllten Lesewürfel beiseite und gab sich mit einem Mal geschäftsmäßig. Der Interkom meldete sich.
Stendal lächelte. Kurt hasste es, während seiner Zehn-Uhr-Pause gestört zu werden. Sosehr er den rundlich gebauten Kollegen auch mochte – in mancherlei Beziehung verhielt er sich wie ein Beamter aus prähistorischen Zeiten.
Er kümmerte sich nicht weiter um Kurt und widmete sich stattdessen wieder seinen Berichten. Je schneller er damit fertig wurde, desto rascher konnte er sich um Logistik und Basisaufbau der neuen TLD-Filiale auf Anthres V kümmern ...
»Wie bitte?«, hörte er Kurt entsetzt aufschreien.
Stendal drehte sich ihm zu. Sein Freund wich seinen Blicken aus. Er war leichenblass geworden, schwitzte und stammelte ins abgedimmte Akustikfeld des Koms.
»Was ist los, Kurt?«, fragte der Agentenführer.
Datschew reagierte nicht. Drehte sich beiseite. Nuschelte vor sich hin, zu leise für die Ohren seines Kollegen. Um nach einer Weile die Verbindung zu kappen und geradeaus vor sich hin zu starren.
Mit einem Ruck drehte er sich ihm zu. »Stendal«, sagte er, »hör mir zu; es tut mir leid, die Nachricht überbringen zu müssen, aber ... aber ...«
»Es geht um Otmar. Nicht wahr?«, unterbrach Stendal ihn. Sein Herz – es hatte aufgehört zu schlagen, so fühlte es sich zumindest an. Er spürte eisige Kälte im Magen, es wurde ihm von einem Moment zum nächsten übel.
»Es ist so ...«
Stendal schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sag endlich, was los ist!«, brüllte er.
»Otmar ist aufgetaucht. Er ... wurde gefunden. Tot. Hingerichtet.« Datschew ordnete umständlich einige Unterlagen. Dann stand er auf, wandte sich einem größeren Holoschirm zu.
Er wagt es nicht, mir ins Gesicht zu blicken ...
»Er wurde in seinem Hotel auf Tryop ermordet. Besser gesagt: hingerichtet. Aber sieh's dir selbst an.«
Der Holoschirm erwachte zum Leben. Er zeigte einen Bericht voller Zahlen und Daten – und mehrere Bilder.
Der Agentenführer besaß einen starken Magen. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er Dinge zu sehen bekam, deren Anblick andere Leute dauerhaft geschädigt hätten. Er konnte damit fertig werden. Doch das hier ...
Das Gesicht des großen, hageren Halbalbinos verlor den letzten Schimmer von Farbe. Stendal zog einen Stuhl heran und ließ sich schwer hineinfallen. Ein Meer von Rot beherrschte den größten Teil der Abbildung. Abgeschnittene Gliedmaßen, Hautfetzen, Innereien und Blut fügten sich zu einer abscheulichen Melange. Kaum vorstellbar, dass dies jemals ein Mensch gewesen war. Das ... ist Otmar, das ist Otmar, dröhnte es in seinem Bewusstsein. Würgend rappelte er sich hoch und rannte in Richtung der Nassräume.
Der Spaß, den er und Otmar letzten Sommer gehabt hatten! Der gemeinsame Urlaub auf Cinque V, die vielen gemeinsamen Stunden, die harmonische Beziehung danach, ihre Pläne ... All das war dahin.
Als Stendal eine halbe Stunde später in seinen Arbeitsraum zurückkehrte, erschreckte ihn der eigene Anblick, der sich ihm in einer spiegelnden Fläche darbot: Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, ein großer Teil seines Overalls war fleckig und mit Wasser bespritzt. Er überwand den Schock rascher, als er geglaubt hätte. Dennoch fühlte er sich so schlecht wie selten zuvor.
»Was für ein ... Tier ist zu so etwas fähig?«, fragte er.
»Niemand weiß es, Stendal«, sagte Kurt leise. Er hatte sich mittlerweile durch den Bericht gearbeitet und Notizen gemacht. »Die Informationen wurden von den lokalen Behörden Tryops hierher übermittelt, nachdem sie festgestellt hatten, dass Otmar Bewohner Terras ist ... ich meine, war. Seine Leiche wurde gestern Abend in der Hotelsuite gefunden, in der er seit Wochen gewohnt hatte. Ein paar Kleinigkeiten seiner Ausrüstung fehlten, dazu ein geringer Betrag an Bargeld. Ein Raubmord ist auszuschließen. Es gibt bis jetzt keinerlei Spuren oder Hinweise. Man meint, dass es ein Einzeltäter gewesen sein muss.«
»Hast du schon einen Spezialistentrupp zusammengestellt? Welche Priorität hast du ihnen gegeben? Sind sie schon abgeflogen? Wer leitet die Aktion?«
Möglichst emotionslos stellte Stendal die Fragen, wie sie ihm in den Sinn kamen. Es war selbstverständlich, dass die Einsatzagenten des LFT so wenig Risiken ausgesetzt wurden, wie sich im Rahmen ihrer Aufträge erreichen ließ. Kam es dennoch zu einem Unfall – oder wie in diesem Fall zu einem Mord –, setzte der Terranische Liga-Dienst alles daran, die Ursachen so rasch und so gründlich wie möglich aufzuklären. Und wen die erbarmungslose Maschinerie des besten Geheimdienstes der Galaxis erst einmal im Visier hatte ... nun, der sollte die Minuten und Stunden zählen, die er noch in Freiheit verbringen durfte.
Kurt krümmte sich.
»Stendal, ich tue alles, was getan werden muss. Ich ziehe die besten Leute zusammen, die momentan zur Verfügung stehen. Garhad, Enko und noch ein paar andere. Aber ...«
»Aber?«
Kurt zögerte mit einer Antwort.
»Was aber, Kurt?«
»Es ist Gia«, presste Kurt Datschew hervor. »Sie genehmigt keinen Einsatz. Sie meint, dass keine Priorität gegeben sei und sich die lokalen Ordnungstruppen um den Vorfall kümmern sollten. Unsere Leute seien momentan zu sehr gebunden.«
Kurt kramte wieder in seinen Unterlagen. »Da sind ihre Anweisungen. Sie verweist auf circa ein Dutzend Brandherde, auf einen bevorstehenden Schlag gegen die Galactic Guardians, auf einen Einsatz in der Eastside. Außerdem ... Halt! So warte doch!«
Stendal hörte nicht mehr, was ihm Kurt Datschew nachrief. So schnell ihn seine langen Beine trugen, eilte er zum Antigravlift. Diesmal brachte Gia das Fass zum Überlaufen.
»Achtundneunzigstes Stockwerk! Prioritätstransport!« schrie er in den leeren Aufzug, der in diesen Bereichen anstelle von Antigravs genutzt wurde.
Während er in die Tiefe hinabsank, sah der TLD-Agent die blutigen Teile des zerlegten Körpers seines Freundes vor seinen Augen. In seinem Mund spürte er den schalen Geschmack des Erbrochenen. Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht, und ihn fröstelte. Doch über all diesen Empfindungen hing ein Gefühl, das er selten zuvor so intensiv gespürt hatte: Hass.
»Warte! Gia ist in einer Trivid-Konferenz! Du kannst doch nicht einfach so reinplatzen!«
Stendal achtete nicht auf die dralle Brünette, die ihn im Vorzimmer der TLD-Chefin aufhalten wollte. Er schob sie grob beiseite, gab auf ihrem Multi-Terminal einen nur wenigen Leuten bekannten Kode ein und schlüpfte durch den sich öffnenden Eingang zum Allerheiligsten. Schwer atmend stürzte er zum Schreibtisch, hinter dem Gia de Moleon gerade konzentriert mehrere Holos betrachtete.
Das Jaulen einer Alarmsirene erklang, und mehrfach gestaffelte Schutzschirme bauten sich rings um den Arbeitsplatz der Chefin des Terranischen Liga-Dienstes auf.
Sie hob den Kopf. »Was zum Teufel ...«
»Ja! Was zum Teufel ist hier los?« Stendal brüllte. »Einer unserer besten Männer stirbt im Einsatz, und unsere Chefin lehnt es ab, Nachforschungen zu betreiben? Ist das deine Vorstellung von Solidarität?«
Emotionslos lehnte sich Gia de Moleon zurück. Mit einem Fingerschnippen desaktivierte sie die Holos und bedeutete den hereinstürmenden Sicherheitstruppen in ihren aktivierten SERUNS, den Raum wieder zu verlassen.
Gia wirkte nach der ersten Überraschung kühl wie immer. »Setz dich, Stendal!«
»Ich will mich verdammt noch mal nicht setzen! Ich will aus deinem Mund hören, dass du es ablehnst, den Mord an Otmar Leo zu klären. Einem unserer besten Männer. Ein Mann, der seinen Arsch für die Liga riskiert, während du hier wie eine fette Spinne im Netz sitzt!«
Gia presste ihre Lippen aufeinander, bis sie einem blutlosen weißen Strich ähnelten.
Die Augen ihres Agenten zeigten unverhohlen seine Abneigung. Sie sollte wissen, was er von ihr und ihrem Führungsstil hielt. Er galt als ruhig, fast steif, und er hatte Gia niemals Gelegenheit gegeben, sich über ihn zu beschweren. Doch jetzt ...
Sie griff in eine Schüssel, holte eine Nuss heraus und knackte sie. Eine kleine, aber bewusste Geste, um die Spannung zu entschärfen.
Und es funktionierte. Stendals Blick flackerte. Er wusste mit einem Mal wieder, wo er sich befand: im Allerheiligsten des Terranischen Liga-Dienstes, im achtundneunzigsten Stockwerk unterhalb der Erde, dessen Existenz in der breiten Bevölkerung ein von Legenden umranktes Geheimnis darstellte. Er hatte ein gutes Dutzend Gesetze, Vorschriften und Sicherheitsbestimmungen gebrochen, als er hereingestürmt war. Fahrig ordnete er seine fast weißen Haare.
»Setz dich, Stendal!«, wiederholte die Liga-Chefin ihre Aufforderung mit sonorer Stimme. Sie schaltete mit einer kurzen Handbewegung die schützenden Hochenergieschirme ab. »Um auf deine Vorwürfe zurückzukommen: Ich kannte Otmar Leo. Ich weiß, was er für uns leistete. Ich weiß, dass er dein Freund war. Ich weiß auch, dass es nicht gerechtfertigt scheint, wenn wir nicht versuchen, den Mord an ihm aufzuklären. Fakt ist aber, dass wir Prioritäten setzen müssen. Die Milchstraße gleicht einem Hühnerhaufen. Alle laufen wild gackernd durch die Gegend und versuchen, ihre eigenen Interessen zu wahren. Und uns bleibt in diesem bunten Treiben die undankbare Aufgabe, die Hühner wieder einzufangen und sie auf ihre Nester zu setzen.« Leiser fügte sie hinzu: »Auch wenn sie fünf Minuten später wieder frei herumlaufen.«
Gia stand auf. Sie trug ein graues Kostüm, die halblangen graumelierten Haare waren streng nach hinten gekämmt, und ihr Schritt wirkte leicht schleppend, als sie hinter ihrem Arbeitstisch ein paar Schritte auf und ab ging.
»Aber was muss ich dir das alles erzählen, Stendal! Du kennst diese Spielchen ohnedies. Perry Rhodan ist verschwunden. Er hat auf Terra ein Machtvakuum hinterlassen, in dessen Sog die merkwürdigsten Dinge geschehen. Die politischen Entscheidungskörper der Liga Freier Terraner und der TLD verspüren mehr Druck als jemals zuvor.« Gia räusperte sich. »Das Zauberwort in dieser verdrehten Welt heißt: Effektivität! Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren.«
»Willst du sagen, dass ein Menschenleben nicht das Wesentlichste ist?«
»Du weißt, worauf ich hinauswill, Stendal! Ich rede von einer Galaxis, du von einem Toten! Vieles, über das ich zu entscheiden habe, beeinflusst das Leben von Milliarden von Lebewesen. Und manche dieser Entscheidungen sind mir keineswegs sympathisch. Aber ich muss sie treffen!«
Gia hatte ihren Rundgang beendet und ließ sich wieder in den Sessel fallen, der die zarte Frau fast zu schlucken schien.
»Und in diesem Fall – angesichts der vielen drohenden Gefahren gegen Terra und seine Verbündeten – bin ich der Meinung, dass wir es uns nicht leisten können, ein Team unserer besten verfügbaren Leute abzuziehen, um einen – versteh mich bitte nicht falsch! – einen einfachen Mord aufzuklären.«
Stendal schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Gia! Das war einer unserer Männer im Einsatz. Ein Mensch, der für seine – besser gesagt: unsere Ideale gestorben ist! Wir wissen nicht, was passiert ist, wie es passiert ist und warum es passiert ist. Und wir überlassen es irgendwelchen hinterwäldlerischen Beamten, diese Fragen zu beantworten?«
»Du bist nicht vollends informiert, scheint mir. Laut den Berichten von Tryop ist ein Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als TLD-Agent unwahrscheinlich. Es war ein brutaler Mord, ja. Aber das Opfer schien willkürlich ausgewählt. Würdest du das Dossier kennen, wüsstest du, dass Tryop keine besonders angenehme Welt ist. Mord und Totschlag sind dort an der Tagesordnung. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns in die inneren polizeilichen Angelegenheiten eines anderen Planeten einzumischen. Otmar hatte den Auftrag, im Rahmen seiner Tarnung mögliche geheimdienstliche Aktivitäten der Arkoniden oder des Forums Raglund aufzudecken und nebenbei einen allgemeinen Bericht über Tryop zu verfassen. Seine Ermordung steht in keinem Zusammenhang mit diesem Auftrag! Punktum!«
Stendal schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Gia, du brichst mit den ungeschriebenen Regeln des Liga-Dienstes! Wir müssen alles tun, um diesen Mord aufzuklären. Ich will hier nicht abgedroschene Phrasen vom Korpsgeist bemühen, aber um der Moral willen: Stell ein Einsatzteam zusammen!«
»Ich sagte nein!« Die Stimme der alten Frau klang unerbittlich.
»Du wirst dir den Zorn deiner Mitarbeiter zuziehen, Gia! Diese Entscheidung wird niemand verstehen.«
»Ich verlange von meinen Untergebenen kein Verständnis, sondern Gehorsam! Solange ich auf diesem Stuhl sitze, sind meine Anweisungen zu befolgen. Ich habe meine Beweggründe auch nicht zu rechtfertigen, ich entscheide. Wem dies nicht passt, der kann den Liga-Dienst verlassen. Willst du das, Stendal?« Gia zeigte das Lächeln eines Raubtieres. »Willst du vielleicht gar zu den unsterblichen Narren auf ihrem geheimnisumwitterten Planeten namens Camelot überlaufen? Möchtest du das wirklich?«
Stendal Navajo kannte ihre Sicht der Dinge in dieser Angelegenheit. Die Unsterblichen, insbesondere Perry Rhodan und Atlan, waren Dornen in ihrer Haut. Und dass sie es bislang nicht geschafft hatte, Camelot zu entdecken, schmerzte Gia umso mehr.
»Du weißt, dass ich mit Rhodan nichts am Hut habe«, sagte Stendal. »Ich liebe die Arbeit hier.« Er atmete tief ein. »Lass mich den Mord allein untersuchen!«
»Du? Stendal, bleib ernst. Du bist ein guter – ein sehr guter! – Mann. In der Koordination. Aber für solch eine Aufgabe fehlen dir Erfahrung und Durchsetzungsvermögen.«
»Denk nach, Gia! Erstens ist es für mich ein persönliches Anliegen, diesen Mord aufzuklären. Zweitens bin ich leichter zu entbehren als ein ganzes Einsatzkommando. Und drittens: Keiner im Hause würde es verstehen, wenn du Otmars Tod ohne Reaktion zur Kenntnis nähmst.«
Mit seinem Angebot hatte er Gia eine goldene Brücke gebaut, und nur allzu rasch ergriff sie die Möglichkeit, einen ihrer härtesten Kritiker für eine Zeit lang aus ihrem Blickfeld zu verbannen.
»Gut, Stendal. Keiner soll mir nachsagen, ich sorgte mich nicht um meine Leute. Ich setze dich hiermit in den Rang eines Agenten Klasse zwei. Du agierst unabhängig und hältst Hyperfunkkontakt mit uns in vorgeschriebenen Abständen. Sobald du etwas herausfindest, benachrichtigst du uns. Um es unmissverständlich zu formulieren: Es gibt keinen privaten Rachefeldzug, keine Vendetta. Hast du mich verstanden?«
Stendals helle Augen maßen Gia de Moleon mit Verachtung. »Ja, ich habe verstanden. Ich finde diesen Mörder und liefere ihn der Gerechtigkeit aus. Guten Tag!«
»Syntron, hast du das Gespräch aufgezeichnet?«
»Selbstverständlich, Gia!« Leichter Vorwurf schwang in der rauen, maskulinen Stimme mit.
»Gut. Ich denke, es ist an der Zeit, etwas zu riskieren. Stell mir eine Verbindung nach Tryop her ...«
Der TLD-Tower spiegelte als Bauwerk des dreizehnten Jahrhunderts NGZ den architektonischen Zeitgeist der Terraner wider. Zweckmäßigkeit stand im Vordergrund. Von außen wirkte das flache, rechteckige Gebäude alles andere als spektakulär. Ähnlich wie im HQ Hanse, dem terranischen Regierungssitz, spielte sich das Leben tief im Inneren der Erde ab. Zigtausend Menschen arbeiteten und lebten im Tower, der einer autonomen Stadt glich.
Noch immer schwer geschockt vom Tod seines Lebensgefährten, betrat Stendal Navajo einen Antigravlift, der ihn nach oben und ins Freie bringen würde. Fester, undurchsichtiger Boden und Wände aus Formenergie wurden dem Benutzer nur vorgespiegelt. Außer dem Gefühl der Sicherheit bot diese erfrischende Variante kühnen, modernen Baustils den Benutzern auch die Gelegenheit, mit anderen Besuchern oder Agenten zu plaudern – was in herkömmlichen Antigravliften nur eingeschränkt möglich war.
Stendal murmelte ein kurzes »Guten Morgen« in Richtung des Mannes, der in der dreiundvierzigsten Etage zustieg. Er kannte den Kerl mit dem zernarbten Gesicht flüchtig; er war in einer Verwaltungsabteilung tätig.
Der Mann – war sein Name nicht Roog oder so ähnlich? – roch unangenehm nach Alkohol, war unrasiert und hatte einen Overall an, der vor Schmutz starrte.
»Na, Albino, war's schön in der Tretmühle? Hast du gut auf deine lieben kleinen Schäfchen aufgepasst?«
Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein: Der Bursche hieß Sholter Roog und war schon bei verschiedensten Anlässen unangenehm aufgefallen. Ein Wunder, dass ihn die sonst als kompromisslos geltende Gia de Moleon nicht schon längst rausgeschmissen hatte. Hatte er nicht mit der Aufklärung des Attentates auf Reaktor dreizehn in Terrania-West zu tun gehabt, vor etwa sechs Jahren?
»Du redest nicht mit mir, Albino? Bist wahrscheinlich Gias Schoßhündchen!«
Es hatten schon ganz andere Kaliber versucht, Stendal wegen seiner blassen Haut und des schlohweißen Haares zu beleidigen. Er war Halbalbino und hatte sich mit dem Spott über den genetisch bedingten Pigmentschaden längst abgefunden. Er war selbstbewusst genug, auf seine Andersartigkeit stolz zu sein.
Sholter zog eine halb volle Flasche dunkelgrünen Vurguzz hervor, nahm einen kräftigen Schluck daraus und bot sie Stendal an. »Ist ein Hänsl-Spezialverschnitt. Komm schon: Trinken wir auf Gia, die hässliche alte Hexe, die Hüterin dieses ganz besonderen Verlieses!«
Stendal erinnerte sich nun: Sholter hatte, zusammen mit einer jungen Agentin namens Fee Kellind, einen gefährlichen Wahnsinnigen ausgeschaltet, von dem der Albino nur noch den Spitznamen Schattenmann behalten hatte. Sholter war damals, im Jahr 1282 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, wegen verantwortungslosen Vorgehens im Zusammenhang mit dem Fall aus dem Dienst entlassen worden. Kurz darauf hatte er bei einem Attentat in seiner Wohnung Hände und Füße verloren. Gewebe- und Knochenschädigungen waren so gründlich gewesen, dass sie durch künstliche Glieder ersetzt werden mussten.
Sholter Roog hatte sich psychisch von diesem Anschlag, der unaufgeklärt geblieben war, nie mehr erholt. Die hässliche alte Hexe, wie sie Sholter nannte, hatte ihm in einem seltenen Anfall von Mitgefühl einen Bürojob im Tower verschafft. Doch der verkrüppelte und verbitterte Ex-Agent hatte selbst diese Geste in die falsche Kehle bekommen: Seiner Ansicht nach wollte ihn Gia de Moleon nur quälen.
Stendal versuchte, höflich zu bleiben, obwohl sein Nervenkostüm mehr als strapaziert war. »Lass den Unsinn, Sholter! Nimm eine Ausnüchterungspille und melde dich vom Dienst ab. In dem Zustand bist du nicht zurechnungsfähig.«
Der Aufzug hielt in der obersten Etage. Der Agentenführer stieg hastig aus. Er bemühte sich, dem Betrunkenen zu entkommen.
Aber Sholter Roog schien erst richtig auf Touren zu kommen. Er lief hinter Stendal her und packte ihn an der Schulter. »Ich bin sehr wohl zurechnungsfähig, Blasser! Jawohl, ich habe einen über den Durst getrunken, und, jawohl, ich bin nicht besonders in Form. Aber ich weiß ganz genau, was ich sage. Und ich sage: Diese de Moleon ist eine Hexe! Eine Witwenmacherin! Weißt du, wie viele gute Agenten sie schon auf dem Gewissen hat? Wie viele Leute sie lächelnd in ihr Verderben geschickt hat? Ein Nicken von ihr und wir springen! Eine Geste von ihr und wir gehen in den Tod! Der Teufel ist sie, der Teufel in Terras Vorzimmer!«
»Jetzt reicht es, Sholter!« Ruhig schlug ihm Stendal die Hand von seiner Schulter. Der Betrunkene verlor das Gleichgewicht. Mit beiden Händen packte sein Gegenüber ihn am Kragen des Overalls und stieß ihn gegen eine Wand.
»Jetzt hör mir gut zu, du kleines Stück Scheiße«, zischte Stendal, mühsam beherrscht. »Gia ist unsere Chefin und verantwortlich für mehr als dreißigtausend Agenten auf der Erde und in der Milchstraße. Und für sie zählt jedes einzelne Leben, sogar das eines besoffenen Idioten, wie du es bist. Und jetzt« – er sah, dass sich TARAS des Sicherheitsdienstes näherten, und lockerte den Fixiergriff –, »jetzt nehmt ihr diese Jammergestalt mit und seht zu, dass sie möglichst schnell wieder nüchtern wird.«
Sholter hatte verständnislos zugehört. Die Roboter nahmen den Betrunkenen mit einem leichten Fesselfeld in die Mitte und führten ihn kommentarlos in Richtung des Aufzuges, hinab ins Hospital im neunundzwanzigsten Stockwerk.
Bevor sie in der wartenden Kabine verschwanden, drehte sich Sholter nochmals um und brüllte: »Du weißt, dass ich recht habe! Sie ist eine Witwenmacherin! Sie ist der Teufel! Sieh mich an, was sie aus mir gemacht hat! Wenn du bloß wüsstest, was sie mit anderen gemacht hat ...«
Die Tür schloss sich.
Stendal Navajo straffte seinen Körper und betrat das Freie. Es war ein prachtvoller Morgen in Terrania, doch er hatte keine Augen für die Schönheit des Frühlings.
Er musste mit dem Tod seines Freundes fertig werden. Und jetzt hatte er auch noch die Chefin des Terranischen Liga-Dienstes wider besseren Wissens verteidigt.
Denn Sholter Roog hatte recht. Gia de Moleon war ein Teufel.
Vergangenheit
Die Frau öffnete die Tür ihres Privatgleiters und stemmte ihren Oberkörper gegen den Wind. Sandkörner erzeugten die übliche Kakophonie an Entladungsgeräuschen, als sie sich in ihrem Energie-Körperschutz verfingen und wie winzige Glühwürmchen verbrannten. Silvane Lamberg war die Geräuschkulisse gewohnt. So sehr gewohnt, dass sie sie gar nicht mehr bewusst wahrnahm.
Sie eilte die wenigen Stufen zu ihrem Stelzenhaus hoch. Es dunkelte bereits. An der Energiegrenze der Westseite hatte sich bereits wieder eine Sanddüne aufgebaut, die von den Außendienst-Robotern viermal wöchentlich entfernt wurden musste. Der endlose und dennoch gleichmütige Zorn eines ganzen Planeten war gegen die Bewohner gerichtet, die sich hochmütig als dessen Beherrscher bezeichneten.
»Öffnen.«
Die dienstbaren Geister der Haussyntronik erkannten ihre Stimme, öffneten den Energieschirm und die Haustür. Alles erwachte zum Leben. Lichter gingen an, Musik erklang, angenehme Wärme empfing sie.
Silvane seufzte wohlig, nachdem sie ihren Schutzschirm abgeschaltet und die kleine Steuerungskonsole in eine Ecke geworfen hatte. Sie ließ sich in ihr Lieblingssofa fallen, schleuderte die zwar hübschen, aber verdammt unbequemen Schuhe von sich und bog den Kopf entspannt nach hinten.
Sie musste all die unangenehmen Gedanken verdrängen. Sie mochte diesen Gerem nicht, der seine Idee gegen ihre Bedenken innerhalb von Plej-Media durchgebracht hatte. Man hatte sie eiskalt überstimmt, als Sentannen von Macht und Reichtum – vor allem von Reichtum! – gesprochen hatte.