9783747201220.jpg

 

 

 

LOGO-ARS-VIVENDI-RSch-ebook.jpg 

 

 

Klaus Schamberger

Früher war alles früher

Neue Nürnberg (und Fürth fei auch) Geschichten

 

 

 

ars vivendi

 

Die Beiträge in diesem Band sind in Buchform bisher überwiegend unveröffentlicht; einige davon sind bisher gänzlich unveröffentlicht, einige bereits in Zeitungen, Magazinen oder anderen Medien erschienen (s. Quellenverzeichnis).

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Februar 2020)

 

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: Karin Roth, nach Motiven von Toni Burghart

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0167-1

 

Inhalt

Früher war alles früher

Lauter Reden

Unser Kulturhauptstädtlein

Nürnberg und drumrum

Im Strafraum

Das weiß der Himmel

Der Weihnachtskäs

Quellenverzeichnis

 

 

Früher war alles früher

 

Vorläufige Memoiren, ­oder: ­Was bisher geschah

Das ist ja wohl das Allerdoofste: Vor einem extrem leeren Blatt Papier kauern, das es gar nicht gibt, sondern bloß virtuell, und befehlsgemäß über sich selber fein ziselierte Memoiren schreiben. Der Sigi Sommer, den ich nach wie vor für ein größtes Licht im schwarzen Gewerbe halte, hat seinerzeit die Leser sinngemäß Folgendes wissen lassen: Wenn wer, der früher die Tinte nicht halten hat können, anfängt, von leeren weißen, momentan zu füllenden Blättern zu faseln und auch noch schriftlich, dem seine Sonne geht demnächst ziemlich unter. Und mit dieser nicht sehr verheißungsvollen Damoklesweisheit vom Blasius im Gnack hock ich jetzt da und warte, bis sich mein Zweifingersystem einschaltet.

Was soll ich denn auf das weiße virtuelle Blatt draufblödeln? Dass ich beim 8-Uhr-Blatt als wandelnder Aprilscherz eingestellt worden bin? Weil mich der Herr Verlagsleiter Hermann Scherdel am 1. April 1969 in die Winklerstraße als Volontär einbestellt hat? Ein Volontär ist, wenn man sich zwei Jahre lang die Finger wund schreibt über Sachen, von denen man keine Ahnung hat. Anschließend ist man Redakteur. Als Redakteur schreibt man dann ebenfalls über Sachen, von denen man keine Ahung hat, allerdings mit nicht mehr so ganz wunden Fingern und mit dem gravierenden Unterschied, dass man wesentlich mehr Geld verdient. Damals 900 Mark, was heute 450 Euro sind. Nicht in der Stunde, sondern monatlich. Man darf jedoch nicht verschweigen, dass 1969 ein Bier ein Fuchzgerla (50 D-Pfennig) gekostet hat und ein Flachmann Chantré, welchen der Redaktionsbote Dr. Mabuse nach Einbruch des Nachmittags in großen, undurchsichtigen Packpapiertüten vom Käse-Waltl herantransportiert hat, zur Inspiration, zwei D-Mark. Dass früher ein Redakteur nach Feierabend gegen 22 Uhr nüchtern das Anwesen an der Winklerstraße verlassen hat, ist meines Wissens nicht vorgekommen. Ähnliches könnte auch für Volontäre gelten.

Was soll ich jetzt noch auf das Blatt Papier schreiben, welches Gott sei Dank nicht mehr gänzlich leer ist? Wie ich Filmkritiker war? Oder Lokalreporter? Oder Gerichtsreporter? Oder Nordbayernreporter? Oder Club­reporter? Ungefähr in der Reihenfolge. Oder wie ich meine Sonntage in wunderbar nach Grüner-Bier, Stumpen und Salem No. 6 duftenden Vereinsheimen der C-Klasse verbracht und zum Beispiel beim SV Unterreichenbach ein lebenslängliches Stadionverbot erhalten habe, weil in meinem hervorragend darniedergeschriebenem Spielbericht gestanden ist, dass in Unterreichenbach immer die Gäns auf den Platz scheißen, sodass der Mittelstürmer auf der Gänsescheiße ständig beziehungsweise unständig ausrutscht und niemals ein Tor erzielt.

Oder muss in meinen trüben Erinnerungen drinstehen, wie ich einmal einen Club-Präsidenten grob verunglimpft habe? Dass er ein inhumaner Hoiloidl ist, weil er seine Spieler und Trainer so ähnlich behandelt wie die in seinem Konzern hergestellten Produkte, nämlich wie Fußabstreifer. Daraufhin hat der neben Fußabstreifern auch Teppiche webende Präsident einen Anzeigendauerauftrag in Höhe von 250.000 Mark gestrichen, und der bereits erwähnte Verlagsleiter Hermann Scherdel hat mich in sein Büro zitiert und gefragt, ob das mit den Fußabstreifern notwendig war. Ich habe wahrheitsgemäß geantwortet: »Ja.« Und der Verlagsleiter hat gesagt: »Dann is die Sache erledigt.«

Es waren teilweise sehr schöne Zeiten. Mit dem Roth habe ich mich schon nach ein paar Wochen irgendwie wieder arrangiert, und auch das Stadionverbot in Unterreichenbach ist eines Tages aufgehoben worden. Einmal habe ich den damals schon längst in Bangkok weilenden Ex-Club-Mittelstürmer Günther Glomb nach sorgfältigen Recherchen sterben lassen. Er ist in seinem Restaurant in Thailand nämlich erstochen worden. Gott sei Dank lebt er heute noch und hat es mir damals nicht besonders übel genommen.

Mein Zweifinger-Handwerk, das nur zu einem kleinen Teil ein Kopfwerk ist, hab ich mir, wie schon angedeutet, beim Sigi Sommer in München abgeschaut. Der Rest ist mir von folgenden Kollegen beigebracht worden (vermutlich unvollständig): Fritz Huck, Fritz Schleicher, Wulf Weidner, Norbert Neudecker, Wolfgang Hahl, Werner Behringer, Rudolf Schwinn, Rainer Faupel, Uwe Zimmer, Inge Fleischmann. Die gute Ausbildung hat dazu geführt, dass ich jetzt Großvater und Rentner bin und einige leere virtuelle Blatt Papier lang immer noch Nebenerwerbsrandsteindichter bei unserer Heimatzeitung.

Jetzt auf einmal würde mir noch viel einfallen. Wie wir einmal unsere Schreibmaschinen in die Pegnitz geschmissen haben, oder wie der Leo Loy und ich einmal den Mehrbereichs-Promi Josef G. Mudlagk erfunden und ihn hin und wieder in die Zeitung hineingeschrieben haben. Obwohl es ihn, außer in unseren Köpfen, gar nicht gegeben hat. Manchmal benützen wir, außer unseren zwei Fingern, halt doch auch den Kopf. Und jetzt ist das Blatt Papier bereits voll.

 

Bresssagg-Eis mit Husdnbombomgschmagg

Infolge der Erderwärmung, die ja laut dem Kaiser von America analog zu ihm selber eine ins Hirn implantierte Fata Morgana ist – also infolge dieser nicht existierenden Erderwärmung kocht uns momentan, wie der Nürnberg-Fürther Ein- bis Zweiheimische zu sagen pflegt, das Oorschwasser. Jenes Gewässer also, welches durch die Sonnenbescheinung auf unserem Gniedleinskopf entsteht, sich seinen Weg über Hals, Buckel, Hüfte bahnt und im Sammelbecken des erwähnten Oorsch zu einem derartigen Strom anschwillt, dass man meint, man sitzt irrtümlich im Schweinauer Kuhweiher oder in der Fürther Gaggalas-Quelle. In beide Feuchtgebiete soll man sich aber nicht hineinsetzen, denn das eine, den Schweinauer Kuhweiher, gibt es nicht mehr, und das andere, die Gaggalasquelle, riecht gottserbärmlich.

Vielmehr soll man sich, kurz bevor das Oorschwasser kocht, in eine Eisdiele hineinsetzen. Sie bietet nicht nur eine relative Coolness, sondern auch sehr interessante Dialoge zwischen Eis-Dealer und einem nach Abkühlung lechzenden Kunden. Die Ausschweifungen solcher Dialoge haben ihre wesentliche Ursache in der neuen Angebotsvielfalt im Fruchteiswesen.

Zum besseren Verständnis der Angebotsvielfalt g’schwind eine kurze Retrospektive in die Anfänge der hiesigen Eiszeit: Etwa in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hat man für ein sogenanntes Zehnerla (= 0,05 Euro) ein Häuflein halbgefrorenes Elend auf einem Babberdeggl erhalten, das nach nix geschmeckt hat. Im Abgang einigermaßen kalt. Einige Jahre später hat uns das während der langen Winterabende in der Nürnberger Nordstadt in Heimarbeit hergestellte Schdeg­gerlas-Eis der Firma Jopa des Sommers mehr oder weniger erfrischt. Die Produktionsstätte der Gebrüder Schöller hat dann mehrfach gewechselt, auch ihren Inhaber, und befindet sich heute teils an der Kreuzung Bucher Straße/Nordring zu Nürnberg, teils in Auflösung. Ob sich die gewissen Konzernherrschaften innewohnende Seelenkälte in einem Zusammenhang mit dem auch ziemlich kalten Eis befindet, weiß man nicht. Manchmal sind diese Chef-Verscherbler ja zusätzlich sehr unverfroren, eine Eigenschaft also, die sich mit Eis überhaupt nicht verträgt.

Und jetzt also die Eisvielfalt. Während die weitgehend großkonzernunabhängigen Eisdielen noch vor einigen Jahren von einer ziemlichen Überschaubarkeit ihres Angebots geprägt waren (Vanille, Zitrone, Erdbeer, Nuss, Schoggolood), greift jetzt auch da Gott sei Dank ein Angebot Raum, dessen Ende noch lange nicht abzusehen ist.

Stellen wir uns also zur besseren Anschaulichkeit dieser Entwicklung einen Herrn mittleren Alters vor, hellbraune Plastiksandalen, dampfende Perlonsocken, wohlgeformte, aus dem kurzen Hosenbein sich herauskringelnde Krampfadern, T-Hemdlein mit der Aufschrift »University Sports Club Memphis Tennessee«, am Kochkopf eine auch Baseball-Cap genannte, zitronengelbe Kühlerhaube. Dieses mittelfränkische Gesamtkunstwerk federt eines schönen, knapp plus vierziggradigen Sommertages wippender Wampe und kochenden Oorschwassers in eine Eisdiele hinein, deutet auf ein kleines, mit irgendwas Grünem angefülltes Edelstahlwännlein und fragt den diensttuenden Eiskratzer: »Wos issn des dou??« Und erhält sodann die Antwort: »Kaktusfeige, Kürbis, Kiwi! Wievill Kugln? Becher odder Waffl?« Der Kurzhosentrapper weiter: »Und des dorddn?« »Büfflmozzarella-Basilikum!« Der Schnellkochkopf: »Ich will ka Worschd­weggla, ich will a Eis! Wos issn des dorddn in der driddn Reihe es fümbfde vo links? A Bresssagg-Eis, odder wos?!« Der Eisverkäufer: »Butterkeks mit Brombeere und Husdnbombomgschmagg.« Um sogleich auf ca. fünfzig weitere Eissorten verweisend fortzufahren: »Schlumbf-Eis, Schbaggeddi, Ingwer. Dou driimer Donauwelle, Käskoung-Eis, Flummi, Maracuja-Stechapfl-Rhabarber, und dou vorna hommer unsern Renner momendan – Drüffl-Ingwer-Zimtbflaume-Nougat-Cola. Odder wolln S’ läiber ein Umbalumba-Eis mit Käskoung-Odeur, im Abgang Tutti-Frutti und Red Bull und leichte Tannine vo After Eight?« Auf After Eight antwortet der von der Vielfalt angenehm überraschte Kunde: »Du miich aa!« und entschwindet, nicht ohne einen leichten Überdruck aus seinem prall gefüllten Dampfhöslein abzulassen.

Infolge der Flucht aus der sehr gut sortierten Eisdiele kommt er nicht mehr in den Genuss weiterer Kreationen, die hierorts allen Ernstes ersonnen worden sind: Gurken-, Schnittlauch- oder Rote-Rüben-Eis, gefrorene Leckerbissen mit Bratwurst- oder Biergeschmack. Der Tag wird aber hoffentlich nicht fern sein, an dem sich die Offerten der unermüdlichen Eisgeschmackskreateure ins Uferlose ausweiten – von A wie Armleuchtereis über B wie Baggschdaakees bis zu Z wie Zirbelholz-Gefrorenes, auf Wunsch auch als Furnier mit frischer Sägspänfüllung. Wenn das der Theo Schöller noch erlebt hätte! Der tät’ wahrscheinlich so weit ausschbodzn, dass er ins Guinness-Buch der Rekorde neikommt. Und wenn jetzt immer noch wer schwitzt: Ich empfehle zum einen die sich mit blöden Eiserfindungen Gott sei Dank in angenehmen Grenzen haltende Eisdiele Val Gardena in der Äußeren Bayreuther Straße Nummer 103 in Nürnberg, zum anderen ein Schdamberla Schlehengeist on the Rocks. Rocks sind in dem Fall keine Felsen, sondern Eisbröggala, die man ohne Weiteres in Richtung Oorsch­wasserbach einleiten kann. Genau dort könnte sich der Trump, sollte es ihm wider Erwarten doch zu heiß werden, dann seine Zunge kühlen. Noch einen schönen Summer in der Ziddy!

 

Schreib halt über irgendwas!

An Geschichten aller Art, von blöd bis bedenklich das ganze Programm, hab ich seit Jahrzehnten nie einen Mangel. Einziges Problem: Wenn ich sie, die Geschichten, hinschreiben soll. Es verläuft dann ungefähr so: Jemand ruft an oder schickt einen Drohbrief oder eine Luftpost des Inhalts »Schreib halt was über Bier!« Oder über Frühlingsgefühle oder über Weihnachten oder über den Club oder über das Glück oder über das Pech. Irgendwas halt, möglichst 150 Zeilen lang, Abgabetermin vorvorgestern. Dieser Tage hat mir die meiner Seele nicht sehr fernstehende Frau Ilse Weiß nicht direkt drohend, aber dennoch hinsichtlich irgendwelcher bereits in Fäulnis übergehender Ausreden gnadenlos mitgeteilt, es möge gefälligst was sein übers Fliegen und den Nürnberger Airport, ich könne mir schon denken wie geartet, eventuell sogar leicht tendenziös, aber in Teilen auch graziös, fein ziseliert; ich könne mir im Grunde genommen alles erlauben, bloß keinen Zeitverzug. Also Thema: Fliegen.

Geflogen bin ich schon oft. Zweimal von der Schule und mit dem Segelflieger am Stöckelsberg mehrfach auf die Schnauze. Dann noch nach Brighton, Moskau, Leningrad, Pearth, Auckland, Bangkok, Buenos Aires, Berlin, Calgary, New York, Amsterdam, Singapur, Hamburg, Addis Abeba, Menorca, Hierro, Keflavik, Wien, Sydney, Shannon und Los Angeles. Und in allen genannten Fällen Gott sei Dank auch wieder zurück.

Mit dieser Liste will ich natürlich 1. mit meiner Weltläufigkeit gehörig auf den Putz hauen und 2. kundtun, dass ich inzwischen einen ökologischen Fußabdruck wie ein Elefant im Porzellanladen hinterlassen sowie die bereits erwähnte Schnauze vom Fliegen voll hab. Darf aber zu meiner Entlastung anfügen: Mein persönlicher Kerosin-Missbrauch hat in jenen Zeiten stattgefunden, von denen wir heute behaupten, wir hätten noch nicht gewusst, dass wir sehr emsig mit dem Absägen jenes Astes beschäftigt sind, auf dem wir (momentan noch) sitzen. Wie auf Kohlen.

Auch hätten wir angeblich wenig bis nix davon gewusst, dass wir eines Tages Kinder in die Welt setzen werden, gefolgt von Enkelkindern und so weiter, und dass diese über lang, schlimmstenfalls über kurz, auswandern möchten, aber nicht mehr wissen wohin, weil wir genialen Erfinder des immerwährenden, also unendlichen Wachstums auf einer dem Vernehmen nach endlichen Weltkugel inzwischen bereits den Mars für unsere Heimsuchungen ins Visier genommen haben, dieser Mars aber aus keinem Wasser, keiner Luft und keinem Leben besteht und auch keine verbrauchte Energie sofort zurückbringt. Wahrscheinlich sind ganz früher schon einmal Menschen auf ihm tätig gewesen. Allerdings ist der Mars, je nachdem, wo er gerade rumfliegt, zwischen 56 und 346 Millionen Kilometer vom Albrecht-Dürer-Airport Nuremberg entfernt, sodass wir beim dringlich ersehnten Flug nach Mars-City einen ansehnlichen Batzen Kilometergeld einsacken können. Und Geld, noch besser – gemäß dem Wachstumsgesetz – immer mehr Geld, brauchen wir ja so dringend wie Stickoxide zum Schnaufen und Äste zum Absägen.

Aber wieder zurück zum Albrecht-Dürer-Airport Nuremberg-Ziegelstone. Ob unsere Attrappe von Verkehrsminister, ein gewisser Herr Scheuer, in möglichst baldiger Bälde von dort aus auch die von ihm bereits stolz präsentierten, ebenfalls unbedingt notwendigen, allerdings noch nicht gänzlich abflatterfähigen Flugtaxis starten und landen lässt, steht momentan noch dort, wo wir ja alle – worschd, ob mit oder ohne Geld – einmal hinfliegen werden, nämlich in den Sternen.

So, und jetzt muss ich mich entschuldigen, weil ich nämlich ziemlich weit abgeschweift bin. Denn eigentlich wollte ich keinesfalls, wie bestellt, einen ziemlich erregten 150-Zeiler übers Fliegen verfassen, sondern was ganz anderes, und zwar zum Thema: Früher war alles früher. Das zugrundeliegende Ereignis liegt fast auf den Tag genau 62 Jahre zurück, als ich in meiner Eigenschaft als 15-jähriger Flugschüler (jetzt können Sie mittels der Additionsmethode ohne Weiteres mein derzeitiges Alter wissenschaftlich errechnen) in den Entschluss eingetreten bin, zusammen mit elf anderen Romantikern und dem leider auch schon hoch oben in den Sternen weilenden Heinrich Hitzler, dem damaligen halbwegs erwachsenen Direktor der Adolf-Reichwein-Schule (ein schönes Institut zur Förderung vorläufig gescheiterter Gymnasiasten), nach Griechenland zu fahren.

Ob Sie es glauben oder nicht, ich schwör’s: Ein Vierteljahr lang, ausgerüstet mit Zelt, Massenkochtopf und großer Vorfreude, teils per Anhalter, teils zu Fuß. Dass mir meine Eltern damals die große Griechenland-Reise erlaubt haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Aber das ist jetzt schon wieder nicht das Thema. Sondern vielmehr: Keinen Tag in den Kaffeehäusern und Weinbeizen in Saloniki, keine Nacht in den Klöstern von Meteora, keine Stunde in der Mittagshitze von Litochoron, keinen Sonnenuntergang am Meer am Fuß des Olymp habe ich bis heute vergessen. Dagegen weiß ich von den erwähnten Flügen nur noch, dass es dauernd gebrummt hat und wir die Erde nachhaltig mit Kohlendioxid gedüngt haben. Das wollte ich eigentlich schreiben, und damit ist das Maß der 150 Zeilen voll.

 

Stadtgrenzenlos

Es gibt ja in unserer hiesigen Sprache, soweit sie noch gesprochen wird, schöne, geschmeidige, nicht selten anheimelnde, andererseits aber auch verhältnismäßig blöde Wörter. Ein selten doofes Wort bildet das Substantiv »Grenze«. Jedenfalls empfinde ich das so, weil ich meistens nicht genau weiß, was sich hinter einer Grenze befindet. Klar hingegen ist auch mir, was man unter »grenzüberschreitend« versteht. Wenn zum Beispiel, wie neulich, zwei leibhaftige Staatspräsidenten, der Emir von Ankara und der Schlemihl von Waschingdon, als grenzdebile Vollpfosten bezeichnet worden sind. Und zwar von mir, aber Gott sei Dank nur in Gedanken. Hätte ich es laut gesagt, meinetwegen am Nürnberger Plärrer, säße ich jetzt wegen vorsätzlicher Missachtung des Majestätsbeleidigungsparagraphen Nummer 103 unweit des erwähnten Plärrers in der Mannertstraße ein. Das aber nur nebenbei.

Zurück zur Grenze: Was ist jetzt grenzdebil? Haben der Emir und der Schlemihl die Komplettverblödung schon erreicht, sind sie knapp drunter und infolgedessen nur ganz normal brunsdumm, oder befinden sie sich bereits im Stadium der akuten Abwesenheit ihrer jeweiligen Köpfe samt Inhalt? Falls ein Inhalt drin ist.

Oder andere Beispiele: Weiß wer genau, was sich hinter der längsten bisher bekannten Grenze, der Kranken- und Pflegeversicherungsbeitragsbemessungsgrenze verbirgt? Was ist mit der Lärmgrenze in der Fürther Gustavstraße? Und ein ganz schwieriges Wesen, die Altersgrenze. Dann die Promillegrenze. Und das hierorts schwierigste Phänomen überhaupt – die Stadtgrenze?

Bei ihr, der Nürnberg-Fürther Stadtgrenze kommen mir zwei Menschen in den Sinn, beziehungsweise ein Mensch und eine Menschin. Bei dem Menschen handelt es sich um einen guten Freund, dessen Häuschen sich links und rechts jener Stadtgrenze befindet. Ungefähr dergestalt, dass Küche, Abort und Bad in Nürnberg wohnen, hingegen Schlaf-, Wohn- und Esszimmer in Fürth. Die Grenze sieht man nicht genau, verläuft aber nach neuesten geodätischen Erhebungen mitten durch den Abort. Wobei sich sofort die Frage erhebt: Thront jetzt mein Freund im Fall des Falles mit einer Arschbacke in Fürth, mit der anderen in Nürnberg und welcher Körperteil genau bildet jetzt die Stadtgrenze? Ein schwerwiegendes Problem, über das man sich in den jeweiligen Unrathäusern einmal Gedanken machen sollte. Ähnlich wie bei der Schall- oder Lärmgrenze in der Gustavstraße.

Jetzt aber zum zweiten Grenzproblem: Meine Großmutter mütterlicherseits. Es reicht weit in meine sowieso schon ziemlich weite, mindestens zweite Vergangenheit zurück. Da hat damals die Oma einmal im Monat wie folgt befohlen: »Zäich der wos Saubers oo, wasch dei Gsicht, kämm der die Hoor, mir foohrn nach Färdd.« Etwas Sauberes anziehen, Gesicht waschen und Haare kämmen hat nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Also hat auch die Ankündigung, dass wir jetzt gleich nach Färdd foohrn, zum Kaffeegränzla der Oma im Stadtpark, wenig Frohlockungen in mir erzeugt. Von der Aussicht auf die Prinzregententorte und den Wasserkakao im Stadtpark-Café einmal abgesehen war mir das Hinübergleiten über die Stadtgrenze mit der Aanerzwanzger immer ein rechter Graus. Und da fällt mir jetzt Gott sei Dank ein weiterer Mensch ein, nämlich einer meiner wenigen ziemlich besten Lebensbegleiter, der Konrad oder auch Conny Wagner.

Immer wenn es in und außerhalb von uns Herbst geworden ist und wenn sich auf das Jahr schon langsam die Dämmerung herniedergesenkt hat, ist aus dem Nebel der Conny aufgetaucht, ungefähr mit diesen Worten: »Morng Oomd Färdder Kärwa. Bassds ba Eich?« Ohne opernballpflichtigen Smoking, ohne Gesicht waschen, ohne Kämmen. Und jahrzehntelang hat es immer gepasst, ungefähr in der Reihenfolge: Karpfen mit Ingraisch, Kartoffel- und Endiviensalat, mit Federweißen, zwei oder fünf Schdamberla Birnengeist und viel Vergnügen beim Walter Stoll und seiner Christa in der Walhalla, dann Kettenkarussell, bis der im Birnengeist schwimmende Karpfen fast von der Fliehkraft heimgesucht worden ist, dann gebrannte Mandeln bei der Ströbels Gisl, dann Hauptgewinn in der Tombola in Gestalt eines 1,80 Meter großen Teddybären, dann rohe Baggers, dann zwei bis fünf Stehbier, dann ein sehr schönes Gwaaf beim Billigen Jakob mit anschließendem Kauf dringend notwendiger Gegenstände wie Sockenhalter, Bierwärmer, Einmachgummi, Ärmelschoner, Wäschezwicker, Lockenwickler; zu guter Letzt stille Einkehr in der Gustavstraße, damals noch im Dukla, Besprechung der Welt teils mit dem Conny, teils mit dem Leo, teils mit unseren Ehefrauen und vor allem mit dem gleichberechtigt am Tisch sitzenden Teddybär.

Friedlicher und losgelöster und grenzenloser wie wir damals hat man die Promillegrenze nicht überschreiten können. Und damit man es nachfühlen kann, muss man vielleicht noch wissen, dass der Conny meistens seine Trompete im Anschlag gehabt und beim Heimgrabbeln schöne Lieder geblasen und außerdem zwei Grenzen immer in sich vereinigt hat – in Fürth geboren und aufgewachsen, in Nürnberg gelebt und vor einem Jahr ganz bestimmt in den Musikerhimmel übergesiedelt. Zwei Stadtgrenzen auf einmal – die heben sich gegenseitig auf, oder? So oder so ähnlich kommt es einem in den Sinn, wenn man die Altersgrenze schon lang überschritten hat.

Ich wünsch Ihnen auch so schöne Kärwa-Erinnerungen, weil nämlich der Jean Paul, sagen wir vor ungefähr 250 Jahren, in sein Aphorismen-Büchla geschrieben hat: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«

 

Versteckerlens und Schussern

Im Fall, dass Sie ungefähr aa in mein Alter sin (also Spätmittelalter, zwischer Tanzcafé Rennbahn, Wastl und Westfriedhuuf) – nou schauer S’ ba Gelegenheit amol oomer aff Ihrn Kubf naaf: Ob mer dou nu Spuren der Vergangenheit sichd. Also nedd inner drinner, dou is scho lang nix mehr. Obber äußerlich, suu Abdrücke vom Köpfn seinerzeit.

Wall mir hom ja damals bam Foußballn ba uns hind aff der Wiesn, dou hom mir ja nu kann adidas Euro 2008, original made in China, g’habd. Sondern wenn ibberhabbs an Balln, dann eine sogenannte Hiidschn. Also ka Luft drinner. Obber wehe, wenner alle vier Wochn amol aafbumbd woor! Und dann aa nu a Reeng derzou kummer is plus Lebberi! Dou bisd du bam Köpfn braggdisch bewusstlos worn. Und wennsd widder aafgwachd bisd ausn Kennemann-Koma, nou hosd du aff der Stirn in Abdruck vo dera bigglharddn Lederschnur g’habd, mit dera wou der Ball zammg’haldn worn is. Masdns hodd aa nu aweng der Schnerbfl rausgschaud. Naa! Nedd wos Sie edzer maaner. Der Schnerbfl, des is es Ventil vo dera Foußballblousn gween. Masdns aa nu a Stöpsl drinner. Also des woorn Schmerzn, odder? Nach einen Kopfballtor hosd du damals mindesdens drei Dooch pausiern mäin.

Obber nedd dassd maansd, dass uns in däi drei Dooch Fußballpause, dass uns dou langweilich worn wär. Dou hom mir ja ein Pensum zum Bewäldichn g’habd – des konnsder haid goornimmer vuurschdelln. Mir woorn außer unsern Hauptberuf als Morlock woorn mir ja aa nu Stammesangehöriche der Apachen, Barferslaafer – Dreegverkaafer, Schdrasserboo-Artisten (vorna in der Kurvn bam Doggdershuuf aafgschbrunger und korzz bevuur mer vom Schaffner Drimmer Schelln gräichd hom, widder abgschbrunger an der Lechnerschdrass), dann woor mer nu Karussellschieber an der Mögldorfer Kärwa, aweng Maadlersgockerer odder sugoor Modorradrennfahrer. Und zwar middn Fahrrad vom Vadder, mid an Baa under der Stanger durch, mid die Händ grood nu an Lenker hiikummer, und dann fünf Rundn ummern Schduug rum. An Motor hommer auch an unsern Fahrrad droog’habd. Und zwar a Spielkartn vom Sechsersechzg middern Wäschezwicker an die Gabl hii­glemmd, a Schniirla zum Lenker naaf – und je ärcher dassd an den Gaszuuch-Schniirla oozuung hosd, desdo lauter hodds nou an die Speing gnadderd. Wenn der Vadder oomds Sechsersechzg schbilln hodd wolln, und es hodd scho widder a Karddn gfehld – dou hodds dann numol gnadderd. Obber durch unser bengerzwasser-gehärtete Lederhuusn hosd die allabendlichen pädagogischen Maßnahmen middn Debbichglobfer fast ibberhabbs nedd gschbürd.

Mid wos hommern unser glanne Welt zwischer Bengerz und Schmausnbuck, zwischer Glaishammer und Shell-Brüggn nu erschüttert? Zum Beispiel mid wunderbare Sinngedichte vuurn Versteckerlens. Ein Sinngedicht konn i haid nu auswendich. Des hassd (obacht, is aweng unappetittlich): »Eene, meene, mubbel, wer frissd Bubbel? Süß und safdich, für eine Mark und achtzig, für eine Mark und zehn – und du kannst gehen.«

Odder mir hom in städtischen Laternanzünder, wou oomds immer mid anner Laddern im Beiwoong durch unser Strass brettert is, hommer a weng zu anner Zusatz-Ärwerd verholfn. Wall die Mutter gsachd hodd: »Dass mer uns verschdenger – wenn die Latern oogänger, bist dahamm. Sunsd setzt’s wos, gell!« Und walls ja häufig vom Vadder scho wos gsetzt hodd weecher die fehlenden Sechsersechzg-Karddln, simmer hald dann – wenn die Latern scho brennd hom – simmer naafgrabbld und hom an den glann Heberla zuung, und nou sins widder ausganger. Odder mir homs glei an Schdaa ins Glas nei­gschmissn, nou sins aa ausganger.

Odder auch indressand: Die Vuurstadt-Masterschaft im Medzlsubbnschwinger. Des wern Sie edzer nedd wissen: Die Dunnerschdooch hodd der Memmert im Volksgarten vorna immer gschlachd. Und dou hommer in der Milchkanner fiir die Großmutter a Medzlsubbn hulln mäin. Wall, däi hodd nix kost. Und am Hammweech hommer dann in Deckl roo und die Milchkanner windmühlnartig im Kreis gschwunger. Physikalischer Versuch mid der Zentrifugalkraft. Gwunner hodd der g’habd, ba dem wous die Zentrifugalkraft am längsten ausg’haltn hodd und den wou die haaße Medzlsubbn sturzbachartig als ledzdn iibern Kubf dribergloffn is. Mid der Quäkerspeis im Blechdöbfla, wenn’s den nicht essbaren weißn Gipsbrei mid Weinbeerla drinner geem hodd, hodds auch funktioniert.

Dann hommer Kartoffelkäfer am Acker hinter die ledzdn Haiser gsammld und aff die Äcker vo den Bauer, wou mer nedd leidn hom kenner, widder ausgsedzd. Maierkäfer dauschd, zwaa Müller geecher an Schlotfeecher, Kaulquappen noogschluckt fiir a Fimbferla Kotzprämie pro Stück, Frösch middern Strohhalm im Oorsch aafblousn, Farbnsammeln mid Fingerbidzln hommer gschbilld, odder auch indressand, in der Schul – dou hobbi amol einen Direktoratsverweis gräichd, dou is draff gschdandn: »Der Schüler wirft Geld an die Wand und rennt ihm nach.« Damals hodd mer Webbln derzou gsachd. Des is, glaab i, es aanziche Schbill, wos si bis in die haidiche Zeit erhaldn hodd. Geld an die Wand werfn und ihm nachrennen – haid hassds blouß anders: Börse odder Shareholder’s Value. Und mer gräichd kann Direktoratsverweis mehr derfiir, sondern es Bundesverdienstkreuz. Betonung auf Verdienst.

Ja, und wall mer grood derbei sin: Vo unserer glann Welt damals zwischer Bengerz und Schmausnbuck, zwischer Glaishammer und Shell-Brüggn – wos issn dou die Kinder vo haid nu bliem? Des konn i Ihner zimmli genau soong: nemli nix. Beziehungsweise vierspurige Autorennstreckn, Business-Tower, viereckerde Beddong-Käsdn, Gewerbegebiete, a Architektur mit S vuurn CH. Und wer mid den ganzn Dreeg unsern Spielplatz, in schennsdn der Welt, zoubflasderd hodd – des wass i aa: Des woorn mir. Woohrscheins wall mer damals aff der Wiesn mid den hardn Balln zu oft köbfd hom. Endweder du häldsders nedd aus, odder du gräigsd mid der Zeit einen Beddong-Kubf dervoo.

 

Kriegsende

Am 7. Mai 1945 um 2.41 Uhr unterschreibt Generaloberst Alfred Jodl in Eisenhowers Hauptquartier im französischen Reims die Gesamtkapitulation Deutschlands. Am 9. Mai 1945, 0.16 Uhr, bestätigen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Admiral von Friedeburg, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff, stellvertretender Oberbefehlshaber der Luftwaffe, im sow­jetischen Hauptquartier in Berlin-Scharnhorst mit ihrer Unterschrift das Ende des sogenannten Dritten Reichs, das Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit Mitternacht am 8. Mai sind, so heißt es im Soldaten-Deutsch, alle Kampfhandlungen eingestellt.

Im »Großen Ploetz«, dem deutschen Standardwerk für Geschichtsbuchhaltung, findet man auf Seite 802 unter der Rubrik »Menschenverluste« in einem fünf Millimeter hohen Kästchen die Bilanz der »Kampfhandlungen«: »Rund 55 Millionen Tote«. Auf Seite 773 die Bilanz der moralischen Katastrophe: »Der ›Endlösung‹ fallen insgesamt 4,2 bis 5,7 Millionen Juden zum Opfer«, bis zur Befreiung der Konzentrationslager durch die alliierten Streitkräfte zwischen Mitte April und Anfang Mai.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1945 bereitet sich auf der dänischen Ostsee-Insel Bornholm der Nürnberger Leutnant Kurt S. auf den Frieden vor. Er befiehlt den Soldaten seiner Kompanie, die Waffen wegzuschmeißen, organisiert Fahrräder, lässt die drei Kompaniezüge im Morgengrauen in den Hafen radeln. Dort stehen angeblich drei Schiffe der deutschen Kriegsmarine, Kurs Heimat. Von deutschen Schiffen aber war keine Spur zu sehen, nicht einmal eine Kiellinie. Am Abend vorher, am 7. Mai 1945, war auf der Insel ein Fieseler Storch gelandet, der brachte unter anderem den Regimentskommandeur L. gerade noch rechtzeitig nach Deutschland. Für den Leutnant Kurt S. hätte man in dem kleinen Flieger auch noch Platz gehabt. »Ich habe abgelehnt«, sagt er heute, nach 60 Jahren, »Ich wollte bei meinen Leuten bleiben. Außerdem war ich überzeugt – es kann uns nichts mehr passieren. Von der Kapitulation wussten wir ja. Und wir wussten auch, dass wir gemäß der Genfer Konvention nicht mehr in Gefangenschaft kommen konnten. Dass ich geblieben bin – das gehört zu den großen Dummheiten in meinem Leben.«

Kurt S., der Leutnant von damals, lebt mit seiner Frau Käte in seiner Heimatstadt Nürnberg, in Mögeldorf, wird im Dezember 89, hat zwei Töchter, zwei Söhne, sechs Enkel, zwei Urenkel. Bei der großen Zeitzeugenschwemme der letzten Wochen und Monate, zum 60. Jahrestag des Weltkriegsendes, wollte er eigentlich nicht auch noch als Jubiläums-Erinnerer Rede und Antwort stehen. »Da wird«, sagt er, »viel zurechtgebogen, viel verherrlicht. Um es vornehm auszudrücken.« Und: »Wer bin ich denn schon?«

Er ist mein Vater. Und deswegen sind wir dann doch zwei Tage und eine halbe Nacht bei uns daheim in Mögeldorf gesessen. Ich mit Kugelschreiber und Notizblock, der Vater mit seinen Kriegserinnerungen, von denen er heute noch manchmal nachts Albträume hat. Zumal in Jubiläumszeiten. Dennoch: Er liest von Fest bis Reich-Ranicki alles, was ihm über die Zeiten damals in die Finger kommt, er lässt kaum eine Zeitzeugen-Sendung im Radio oder im Fernsehen aus. Was ihn, den fast 90-Jährigen, immer noch bewegt, ist die Frage: »Kann man aus der Geschichte lernen?«

1945 war es meinen Eltern völlig klar: Aus der zwölfjährigen Schreckensgeschichte in Deutschland, in Europa, in der Welt kann man nur eines lernen. »Für Deine Mutter und mich«, sagt er, »war es überhaupt keine Frage – diese sechsjährige Hölle, die ganze Faschisterei, die Millionen-Morde an den Juden, der Wahnsinn einer Verbrecher-Clique, das kann nur das Ende alles Bösen in der Welt sein. Wir waren beide fest überzeugt: Dieser Krieg war der letzte auf der Welt. Danach kommt eine Art Paradies, der immerwährende Frieden. Es gibt keinen Hass mehr unter den Menschen.« Und dann blättert er in Aufzeichnungen vom Krieg, in alten Fotos, in Briefen, und sagt: »So naiv waren wir damals wirklich.«

Die Geschichte des Schützen Kurt Schamberger in der Schweinauer Infanterie-Kaserne, des Unteroffiziers im Regimentsstab, des späteren Oberfeldwebels, des Leutnants, des plötzlich auf Bornholm mit der Führung des Regiments beauftragten Endzeit-Soldaten, des Kriegsgefangenen Kurt Schamberger, des Flüchtlings, des Heimkehrers an einem heißen Frühsommertag 1946 in Mögeldorf – die Geschichte kenne ich fast auswendig. Das war mein Karl-May-Ersatz: »Vati, bitte erzähl wieder was vom Krieg!« Und wenn wir Kinder damals einen Tag halbwegs unfugfrei hinter uns gebracht hatten, dann hatte der Vater sich abends ans Bett gesetzt und als Belohnung vom Krieg erzählt. Es war schaurig-schön. Heute heißen die Nachkriegs-Betthupferl: Zeitzeugen-Dokumentation, Oral History, mündlich überlieferter Geschichtsunterricht. Solche Fragen »Warum bist du mitmarschiert?«, »Sind Soldaten Mörder?«, »Was hast du, als Sohn eines Vaters, der für seine Überzeugung im KZ war, über das bisschen Widerstand in Deutschland gedacht?« – solche Fragen stellt kein fünfjähriger Sohn über die Vergangenheit seines Vaters. Nicht einmal ein fünfzigjähriger Sohn. Solche Fragen habe ich jetzt, mit 63 Jahren zum ersten Mal gestellt.

Die politische Vergangenheit. Gregor Schamberger, mein Großvater, war ein uneheliches Kind, aufgewachsen in dem Steigerwald-Dorf Unterschleichach bei Eltmann. Bettelarm war er nach Nürnberg gekommen, hatte als Metalldrücker gearbeitet, sich fortgebildet, war aufgestiegen zum Amtsrat bei der Ortskrankenkasse, hatte seine Kunigunde aus Lichtenhof geheiratet, meine ­Großmutter, wurde Stadtrat der SPD in Nürnberg, war mit dem Arbeiterdichter Karl Bröger, seinem Hausnachbar in der Ziegelsteinstraße, eng befreundet. An einem Märztag 1933, früh um sieben Uhr, wurde er von zwei Polizisten verhaftet. Es gibt ein Foto von ihm und anderen Nürnberger Sozialdemokraten in Dachau bei der »Umerziehung«, aufgenommen von einem KZ-Kapo. Die Häftlinge müssen ein Schild halten, auf dem steht »Ich bin ein klassenbewußter SPD-Bonze.« Nach einem Jahr Haft kam Gregor Schamberger wieder heim nach Ziegelstein.

Mein Vater erinnert sich: »Er hat nie auch nur ein Wort erzählt, was sie mit ihm in Dachau gemacht haben. Auch nach dem Krieg nicht. Bis zu seinem Tod nicht.«

»Wie stark warst du von deinem Elternhaus, vom Vater, politisch beeinflusst?«

Mein Vater: »Wir waren alle tiefrot. Klar. Ich war bei den Roten Falken, einer sozialistischen Jugendorganisation. Im Zeltlager haben wir gesungen: ›Auf, auf Ihr roten Falken, der neue Tag bricht an, entrollt die roten Fahnen, sie leuchten uns voran, lasst ziehen uns zum Spiele, durch Wiesen, Felder, Wald und Hain, denn wir, wir wollen freie Proletarierkinder sein.‹ Oder: ›Nie, nie wollen wir Waffen tragen, nie, nie wollen wir wieder Krieg, nein, lasst die großen Herren sich selbst miteinander schlagen, wir machen nicht mehr mit.‹«

»Warum ist der Großvater verhaftet worden? Weil er SPD-Politiker war?«

»Nicht nur. Ich bin ziemlich sicher – das war ein Racheakt vom Streicher. Der war doch vor 1933 angeklagt, als Lehrer wegen Unzucht mit Schülerinnen. Und der Vater hat als Zeuge gegen ihn ausgesagt. Deswegen ist er nach Dachau gekommen. Da fällt mir ein – ich habe mich neulich mit einem Nachbarn unterhalten über die Zeit damals. Der Nachbar ist so um die fünfzig. Und der hat nicht gewusst, wer der Streicher war, hat noch nie den Namen gehört. Das musst du dir vorstellen, so hoch ist heute unser politischer Bildungsstand. Und wer nach 1945 gesagt hat, das mit den Juden hätte er nicht gewusst, und von Konzentrationslagern keine Ahnung gehabt – der hat gelogen. Jeder hat es gewusst. Wir haben doch alle gesehen, wie in Nürnberg die Synagoge gebrannt hat, wie in der Kristallnacht die Schaufenster eingeschlagen worden sind, wie man die Juden gejagt hat. Jeder hat es gewusst.«