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Titel

Inhalt

  1. 1 „Manchmal tut es auch danach noch weh“ – Wie alles begann
  2. 2 „Siehst du Engel tanzen, Mann?“ – Ritterburg im Nieselregen
  3. 3 „Darum mögen wir kein Orange“ – Eine verhängnisvolle Schlacht und eine ebenso verhängnisvolle Farbe
  4. 4 „Trink deinen Tee“ – Assam ohne Milch
  5. 5 „Orange kann auch schön sein“ – Gestohlene Farbe
  6. 6 „Falls du einen Helden suchst: Hier hast du ihn“ – Ein Heiliger mit vielen Pfeilen
  7. 7 „Das geschieht alles bloß aus Liebe“ – Grüne Bordsteine
  8. 8 „Sie hätten es besser wissen müssen“ – Falsche Namen und andere Schlauheiten
  9. 9 „Das glaubst du mir nicht“ – Haare, rot wie Rost
  10. 10 „Jetzt zittern alle Protestanten“ – Dampferfahrt ins Nirgendwo und ein Schlag aufs Auge
  11. 11 „Das hätte ich nicht gekonnt“ – Besuch bei einem Heiligen
  12. 12 „Auge um Auge, Zahn um Zahn?“ – Hin und wieder braucht man dringend Unterstützung
  13. 13 „Und wie sie duftet“ – Eine Rose für eine ehemalige Nonne
  14. 14 „Manchmal bin ich es so leid“ – Regen fällt und hört nicht auf
  15. 15 „Anders als alle anderen“ – Unverschämt unvollkommen
  16. 16 „Er hat bestimmt einen Schnupfen bekommen“ – Ein Heiliger fühlt sich nicht wohl
  17. 17 „Erzähl, wie es dir ergangen ist“ – Einer sitzt in der Hecke und singt
  18. 18 „Kleiner Vogel mit großem Kopf und großen Augen“ – Ein Name enthält eine Botschaft
  19. 19 „Jede Narbe erzählt ihre eigene Geschichte“ – Wunden, die verheilen – oder auch nicht
  20. 20 „Sie trösten mich“ – Am Himmel die Sterne
  21. 21 „Den hast du vergessen“ – Ein Schuh fliegt durch die Nacht
  22. 22 „Endlich weiß ich es“ – Eisig wie ein Tiefkühlfach
  23. 23 „Das ist doch ziemlich viel“ – Warten in der dunklen Diele
  24. 24 „Darf ich vorstellen?“ – Großer Mann mit kleinem Kind
  25. 25 „Es tut mir leid“ – Auf der Suche nach den eigenen Worten
  26. 26 „Das hast du sicher schon vermisst?“ – Fast zu viele, wenn auch schöne Überraschungen
  27. 27 „Ich würde mich so freuen, wenn du kämst“ – Ein unerwarteter Anruf, ein Traum und ein Ende, das keines ist
  28. Glossar:
    Eine Liste mit Wörtern, bei denen dir eine Erklärung vielleicht weiterhilft
  29. Eine Friedenserklärung:
    Declaration of Peace People, 1976, verfasst von Betty Williams, Mairead Corrigan und Ciaran McKeown
  30. Last, but not least:
    Großes DANKESCHÖN zum Schluss

„Wenn du anfängst, die Kinder zu töten,
fügst du einem Land die tiefsten Wunden zu.“

Emma Groves (1920–2007)

Die Mutter von elf Kindern wurde am 4. November 1971 von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen und erblindete daraufhin. Sie gründete die United Campaign Against Plastic Bullets. Die meisten Todesopfer von Gummi- und Plastikgeschossen in Nordirland sind Kinder im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren.

In Erinnerung an
Margaret Doreen Mitchell,
„meine“ nordirische Granny
(1928–2008)

Sie kannte keine Grenzen,
nicht zwischen den Konfessionen
und nicht im eigenen Herzen.

In Liebe. Und Dankbarkeit.

1
„Manchmal tut es auch danach noch weh“ – Wie alles begann

Die Geschichte, die gleich folgt und im zweiten Kapitel beginnt, würde es nicht geben, wenn ich nicht einmal – und das ist lange her – in Nordirland gelebt hätte.

Damals traf ich Robin.

Robin ist ein englischer Name. Er bedeutet Rotkehlchen.

Ich saß in einem der Teestübchen, von denen ganz Portamena übersät war, und trank meinen Assam mit Milch. Überall im Vereinigten Königreich kippte man Milch in den Tee. Auch die Iren in der Republik Irland machten das nicht anders.

Das winzige Glöckchen über der Tür klingelte. Ich blickte von meinem Buch auf, denn ich lese immer und überall gern, und sah in die schokoladenbraunen Augen eines schmalen Jungen.

Es war meine erste Begegnung mit Robin.

Als würde er mich kennen, lief Robin zielstrebig zu meinem Tisch und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Mit seiner spitzen Nase und den geröteten Wangen erinnerte er mich tatsächlich an ein Rotkehlchen.

„Was liest du?“, wollte er wissen.

Mein Buch handelte von Freundschaft, aber auch von Verlust und traurigen Kindheiten. Dinge, die ich zu ernst und zu schwer fand für ein Kind, auch wenn ich den Jungen, der mir auf dem Stuhl gegenübersaß und mich erwartungsvoll ansah, auf elf, höchstens zwölf Jahre schätzte.

„Das ist nichts für dich“, erklärte ich und wedelte unwirsch mit der Hand.

Robin sagte nichts.

„Die Kinder in diesem Buch prügeln sich!“, sagte ich.

Das stimmte wirklich. Und es floss Blut! Robin sah mich an. Ich merkte, wie ich unruhig wurde. Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. „Einige Kinder sind schrecklich traurig. Sie weinen.“

„Das kenne ich“, sagte Robin, „manchmal tut es selbst danach noch weh.“

Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Sieh mal ...“, sagte ich.

„Doch!“ Robin nickte heftig. „Der Kummer packt dich am Genick und schüttelt und rüttelt dich hin und her.“

Der Satz kam mir vertraut vor. Woher kannte ich ihn? Plötzlich fiel es mir ein. So ähnlich stand er in dem Buch, das ich gerade las. Das Buch hieß „Das fliegende Klassenzimmer“, geschrieben hatte es Erich Kästner, und um ehrlich zu sein, war es ein Kinderbuch.

Ich sah Robin an. In seinen Augen schimmerte eine dunkle Tiefe. Mir schwindelte.

„Also gut“, sagte ich.

Ich klappte mein Buch zu. Dann bestellte ich Robin einen Blaubeermuffin und einen Tee, und während ich zusah, wie er sich Milch in die Tasse kippte und Zucker obendrein, erzählte er mir seine Geschichte.

Lustig ist sie nicht, das gebe ich zu, und es kommen in der Tat Pistolenkugeln und Bomben darin vor. Aber sie erzählt auch von Freundschaft und dem Wunsch nach Frieden, von vielen Farben und Robin mittendrin.

Willst du sie wissen? Hier ist sie!

2
„Siehst du Engel tanzen, Mann?“ – Ritterburg im Nieselregen

Alles war wie immer in Nordirland im Jahr 1990. Der Wind wehte sacht aus Nordwest wie sonst auch im November morgens um acht. Nieselregen verhüllte die Bürgersteige, die Dächer und Straßen. Und doch ragten jetzt die Wehrgänge einer mittelalterlichen Ritterburg vor Robins erstaunten Augen auf. Sogar ein Bergfried reckte sich, gleich einer geballten Faust, in den dämmerungsgrauen Himmel.

Robin O’Kane, elf Jahre alt und auf dem Weg zur Schule, blieb ruckartig und wie angenagelt stehen.

Cathal1, schlaftrunken noch, rumste gegen Robins Rücken. „Autsch, pass doch auf, Mann!“ Cathal rieb sich die Nase.

Was dort auf der anderen Straßenseite zwischen dunstigen Regenschleiern auftauchte, war keine mittelalterliche Ritterburg, sondern die Königliche Polizeiwache von Portamena. Stacheldraht umwickelte die Mauerspitzen wie Schlingpflanzen. Puffer riegelten den Gehweg ab. Dieser Anblick war kein Grund stehen zu bleiben. Im Gegenteil.

„Hey, Mann, siehst du Engel tanzen?“ Cathal zurrte an Robins Dufflecoat. „Lass uns weitergehen!“

Aus dem Dunkel der Mauer drüben löste sich die kantige Gestalt eines Mannes. Robin erkannte die kugelsichere Weste über der Uniform. Eine Walther PP2 und Hiatt-Handschellen3 baumelten am Ledergürtel. Klock-klack-klock schlug ein Schlagstock gegen die grüne Hose des Polizisten. Dunkelgrün. Heckenschützengrün.

Die mittelalterliche Ritterburg zerplatzte wie Seifenblasen im Wind. Robin rannte los.

„Hey, Mann!“, schrie Cathal. „Warte auf mich!”

Aus den Augenwinkeln erkannte Robin, wie der Polizist in den Schatten der Mauer zurückglitt und seinen Wachgang fortsetzte: fünfzig Schritte in die eine Richtung, fünfzig zurück.

Trottel, beschimpfte sich Robin selbst. Aus dem Schlitz im Turm schossen keine Pfeile. Dort kauerte allenfalls ein Polizist und folgte ihnen mit dem Lauf seines Gewehrs. Und selbst wenn er nur Plastikkugeln geladen hatte, konnte ein Treffer durchaus lästig sein.

Zwar behaupteten die Soldaten, die mit ihren gepanzerten Wagen durch die Stadt rollten, während sie ihre Maschinengewehre auf die Leute richteten, dass ein Treffer nicht wehtue. Aber das stimmte nicht. Nicht immer jedenfalls.

Erst gestern hatten Mum und Big Chief von Klein-Stevie erzählt, dem ein Plastikgeschoss das Gehirn weggepustet hatte.

„Hey, Mann!“ Cathal schloss keuchend neben Robin auf. „Was war denn los?“

Einen Augenblick lang überlegte Robin, ob er Cathal von seiner Erscheinung erzählen sollte. Dann entschied er sich dagegen. Denn wie hätte er es ihm erklären sollen? In seinem Kopf wuselten die Gedanken durcheinander wie ein Hamster im Laufrad. Immer im Kreis. Immer rundherum. Außerdem betraten sie jetzt das Viertel der Anderen – und das zerknäulte Robins Hirn nur noch mehr.

Wo der Regen über Nacht die Bordsteine abgewaschen hatte, glitzerten sie unter den letzten Tropfen in Rot und Weiß und Blau. Klackernd flatterte die Flagge des Union Jack4 in eben diesen Farben über den Schieferdächern, die hier wie dort gleich grau glänzten. Mit ungelenken Buchstaben hatte jemand „No surrender“ – „Wir ergeben uns nicht“ – auf eine Backsteinwand gesprüht.5

Es ist nicht zu übersehen, dass hier Protestanten wohnen, dachte Robin, und sofort dachte er auch an die Messe vom vergangenen Sonntag. Vater Faughan hatte aus der Bergpredigt vorgelesen: Gott, der allmächtige Herr, lässt die Sonne scheinen über Gut und Böse. Und auch der Regen fällt – hier wie dort – auf dasselbe Land.

Gott, der Herr, macht jedenfalls keine Unterschiede.

Aber die Menschen machen sehr wohl Unterschiede, dachte Robin. Sie pinseln ihre Bordsteine rot und weiß und blau und manchmal auch orange. Sie pinseln sie grün. Sie schwenken die Fahne des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland. Sie schwenken die Fahne der Republik Irland.

Robin fand, dass es ziemlich schwer war, Protestanten und Katholiken nicht voneinander zu unterscheiden, wenn man in einem Land wie dem seinen lebte.

Eigentlich sind wir selbst schuld an dem ganzen Durcheinander. Wir könnten das Fahnenschwenken doch bleiben lassen. Und das Bordsteinanpinseln obendrein.

Es war eine Erkenntnis, die Robin durchzuckte, wie wenn jemand in einem dunklen Raum das Licht anknipste. Niemals zuvor hatte er je solch einen Gedanken gedacht, und doch kam er derart leichtfüßig angesprungen, als hätte er immer schon darauf gewartet, dass Robin ihn in seinen Kopf einließe.

Robin hatte Cathal völlig vergessen.

Das war nicht weiter schlimm. Sie standen ohnehin längst unter dem schmiedeeisernen Tor, das zum Hof ihrer Schule Zu Unserer Lieben Frau führte, und Cathal sprang, ohne sich noch einmal umzudrehen, voraus, wo er sogleich von einer Schar sommersprossiger Jungen verschluckt wurde.

Robin sah zum Tor hinauf. Er legte den Kopf in den Nacken, die Arme baumelten lang an den braunen Hosenbeinen. Langsam, Wort für Wort, las er, was über ihm auf einer blanken Messingtafel geschrieben stand in Buchstaben, die strammstanden, als wären sie Zinnsoldaten: „Ad maiorem dei gloria“.

Dei war lateinisch. So viel wusste Robin, schließlich lernte er seit diesem Schuljahr Latein. Dei bedeutete Gott.

Gott war also ein Major, eine Art Oberbefehlshaber. Man musste ihm gehorchen und zu Diensten stehen. Allezeit. Am besten ohne nachzufragen.

Aber völlig sicher, ob seine Übersetzung stimmte, war sich Robin nicht.


1  Robin und sein Freund Cathal leben in Nordirland. Deshalb tragen manche Kinder, die in diesem Buch vorkommen, irische Namen, die oft völlig anders klingen, als du es womöglich vermutest. Wie ihre Namen ausgesprochen werden, erfährst du hinten im Buch im Glossar: eine Liste mit Wörtern, bei denen dir eine Erklärung vielleicht weiterhilft.

2  Eine Walther PP ist eine Selbstladepistole deutscher Herstellung. PP steht für Polizeipistole.

3  Die Firma Hiatt aus Birmingham in England fertigte bis ins Jahr 2008 für fast alle Polizeistationen im Vereinigten Königreich Handschellen an.

4  Der Union Jack ist die Nationalflagge des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland.

5  Solche Graffitis gibt es viele in Nordirland, besonders in den Vierteln, in denen überwiegend Protestanten oder Katholiken wohnen.

3
„Darum mögen wir kein Orange“ – Eine verhängnisvolle Schlacht und eine ebenso verhängnisvolle Farbe

Vater Duncan war ein großer Mann. Wobei groß ein zu kleines Wort war für seinen gewaltigen Körperumfang. Wuchtig und schwer wogte sein Bauch vor ihm her, wenn er durch die Stuhlreihen im Klassenzimmer wandelte. Wuchtig und schwer ruhte auch das Brevier der goldenen Gebete in Vater Duncans Hand. Und mit einer Stimme, die wie ein Bierfass schepperte, wenn man es durch eine Gasse mit Pflastersteinen rollte, begann er das Morgenzeremoniell, das sich jeden Tag aufs Neue wiederholte.

Wie auch die Sonne jeden Tag aufs Neue aufging. So würde es Vater Duncan erklären, würde ihn jemand danach fragen. Aber es fragte ihn niemand danach.

Unhinterfragt begann der Tag wie eh und je mit einem Gebet: „Gesegnet seist du, Jungfrau Maria, und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes Jesus. AMEN!“

Vater Duncans Amen dröhnte, als wäre es ein Donnerschlag, und die sechsundzwanzig Jungen, die allesamt in den gleichen braunen Hosen mit den gleichen weißen Hemden mit den gleichen grünen Pullovern im gleichen V-Ausschnitt darüber und den gleichen grün-schwarz gestreiften Krawatten darunter steckten, antworteten schlagartig und wie aus einer Kehle: „Amen!“

„Wo waren wir stehen geblieben?“ Vater Duncan hob beide Arme in die Luft, als erflehte er Hilfe von oben und gab sich die Antwort gleich selbst: „Natürlich bei Geschichte. Bei unserer Geschichte. 1690. Die Schlacht am Fluss Boyne.“

Und er erinnerte die Jungen noch einmal daran. In jener Schlacht hatte Wilhelm von Oranien, der miese Verräter, den einzig wahren, katholischen König Jakob den Zweiten besiegt, ja, ihn vernichtend geschlagen, was überaus bedauerlich, aber leider, leider nun mal eine geschichtliche Tatsache war.

„Und seitdem steht es schlecht um uns“, sagte Vater Duncan und er wiegte den Kopf bedächtig hin und her, als müsste er über seine eigenen Worte und das damit verbundene schwere Schicksal nachdenken.

Die Buben nickten und lauschten betrübt, wie Vater Duncan weiter von jenem folgenschweren Tag erzählte, an dem der protestantische König Wilhelm der Dritte, auch König Wilhelm von Oranien oder König Billy genannt, auf einem weißen Pferd gegen Jakob, den einzig wahren, da katholischen König, angestürmt war und ganz Nordirland ins Verderben gestürzt hatte, mit einem einzigen vernichtenden Schlag – ach, gütiger Gott, erbarme dich unser!

„Schreibt es auf!“, befahl Vater Duncan. „Die Schlacht am Fluss Boyne. Nordirland im Jahr 1690.“

Die Jungen beugten sich über ihre Hefte und schrieben es auf. Vater Duncan schlenderte durch die Stuhlreihen und warf hie und da einen prüfenden Blick über die Jungenschultern. Bis er zu Cathal kam.

„Aber nicht doch, Cathal“, rief Vater Duncan empört, „du hast Nordirland mit zwei R nach dem I geschrieben! Als wäre es ein Irrtum. Aber das ist es doch nicht, ganz sicher nicht. Wie kommst du nur darauf?“

Und während Cathal eines der beiden R nach dem I aus seinem Nordirrland tilgte, setzte Vater Duncan seinen Vortrag fort über ein Land, das wunderbar und einstmals fast nur katholisch gewesen war, bis zu jener verhängnisvollen Schlacht, die schon so viele Jahre zurücklag, dass Robin sich nicht vorstellen konnte, wie viele Jahre das waren. Niemand, den er kannte, war jemals derart alt geworden. Bäume wurden vielleicht so alt, aber Menschen sicher nicht.

Und trotzdem vergessen die Menschen nichts, auch wenn es dreihundert Jahre zurückliegt.

Vater Duncan schritt durch die Stuhlreihen, und das handgroße Kreuz, das an einer goldenen Kette um seinen Hals baumelte, schaukelte bei jedem seiner Schritte hin und her, und der Herr Jesus, der nur mit einem schmalen Lendenschurz bekleidet an dem Kreuz festhing, schaukelte mit. Hin und her, und her und hin.

Robin vergaß, auf Vater Duncans Worte zu achten und sah dem Herrn Jesus beim Schaukeln zu. Bis plötzlich jemand hinter ihm zischte: „Hey, Mann, wach auf! Wo steckst du heute bloß mit deinen Gedanken?“

Cathals Warnung kam gerade rechtzeitig. Vater Duncan war vor Robins Pult stehen geblieben und hatte eine schwere Hand, die eher einer Pranke glich, daraufgelegt. Nun beugte er sich vor, sodass der Herr Jesus genau an Robins Nase vorbeischwang.

Wieder dachte Robin an die Predigt vom vergangenen Sonntag. Gott lasse die Sonne scheinen über Gut und Böse, hatte Vater Faughan behauptet, wie er es auch regnen lasse über Gut und Böse. Deshalb regnete es gewiss auch über Protestanten und Katholiken. Und bestimmt hatte es auch über Wilhelm von Oranien und Jakob den Zweiten geregnet. Das erschien Robin sogar höchst wahrscheinlich, weil es ziemlich oft regnete in Nordirland. Eigentlich regnete es fast die ganze Zeit. Der Himmel scherte sich offenbar wenig um Grenzen und Mauern.

Nur haben sie das wohl nicht begriffen damals, als die feindlichen Heere aufeinander zustürmten vor dreihundert Jahren am Fluss Boyne, lange ist es her.

Lieber Herr Jesus, dachte Robin, als der Herr Jesus erneut an seiner Nase vorbeischwang. Leider verstehe ich das ganze Durcheinander nicht. Ob du es mir wohl bitte einmal erklären könntest? Oder du fragst deinen Vater, falls du es auch nicht weißt, ob er es mir erklärt?

„Deshalb mögen wir kein Orange, denn es ist die Farbe von Wilhelm von Oranien, diesem Schuft“, sagte Vater Duncan und er richtete sich wieder auf. „Und wir mögen es auch deshalb nicht, weil bis heute manche Protestanten am Jahrestag der Schlacht orange gekleidet durch unsere katholischen Straßen laufen, während sie auf ihre Trommeln hauen – bumm, bumm, bumm –, als wären sie kleine Jungs. Kleiner noch als ihr, ha! Und dabei schwenken sie die Fahne, die der Königin von England gehört. Als besäßen wir keine eigenen und besseren Fahnen, tzzz!“

Vater Duncan nahm die Hand von Robins Pult. Die Hand hinterließ einen feuchten Abdruck, der sich langsam auflöste, bis nur noch die Tischplatte übrig blieb.

Es ist wie heute Morgen, dachte Robin erstaunt, während er gebannt zusah. Eine Erscheinung wie bei der Ritterburg, die keine Ritterburg, sondern eine Polizeiwache war. Eine stark bewachte Polizeiwache, um genau zu sein, weil die Polizeiwachen, die in Nordirland die Menschen beschützen sollten, in Nordirland selbst beschützt werden mussten.

„Nun, Robin“, fragte Vater Duncan, „warum mögen wir kein Orange?“

„Weil Wilhelm von Oranien ein Schuft ist, Vater Duncan“, sagte Robin schlagartig, als hätte er Vater Duncans Worte mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und würde jetzt den Text abspulen, „deshalb mögen wir kein Orange!“

Aber insgeheim dachte er, dass er bislang noch nicht viel über Farben nachgedacht hatte und dass es vielleicht Zeit war, genau dies einmal zu tun. Wenn er jedoch ein bisschen mutiger gewesen wäre, hätte er eigentlich jetzt schon sagen können, dass er Orange gar nicht mal so grässlich fand, er fand es nämlich durchaus schön. Gab es nicht auch Blumen, die orange blühten, und Tiere, die orange gefärbt waren?

„Nein, wir mögen Orange nicht!“, rief Cathal quer durchs Klassenzimmer.

Quer-durchs-Klassenzimmer-Rufen war nicht erwünscht in der Schule Zu Unserer Lieben Frau, im Gegenteil, es war sogar aufs Strengste untersagt. Denn wenn jeder einfach jederzeit rufen würde, was ihm gerade durch den Kopf trudelte, was gäbe das erst für ein Durcheinander? Vater Duncan aber sagte nichts, er lächelte nur.

Auch Robin sagte nichts, jedenfalls verriet er nicht, dass ihm Orange ausgesprochen gut gefiel. Man musste nicht immer alles sagen, was man dachte. Vielleicht war es mitunter klüger, man blieb still.